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TGV nach Bordeaux, kurz hinter Poitiers
Le dimanche 13 décembre

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Worauf sie sich am meisten freute? Auf den Meeresgeruch. Diesen ersten Schritt hinaus an die frische Luft, aus dem miefigen TER-Vorortzug. Und dann diese Brise aus Norden, die ihre Freunde in Paris – die keine Ahnung hatten, weil sie aus Nizza, Lille oder eben Paris kamen – immer fischig nannten.

Fischig. Als würden die Austernzüchter der Aquitaine ihre Straßen mit verdorbenen Fischabfällen pflastern. Julie konnte da nur lachen. Auch wenn sie nun schon drei Jahre zum Studieren in Paris war, konnte sie sich die Elemente dieses Geruchs mit einem Schnipp herbeizaubern: Da war der grüne frische Grasgeruch der Algen, die sich an die Austern gelegt hatten wie Beilagensalat. Da war selbst an warmen Tagen diese gewisse Kühle in der Luft, die der Atlantik von irgendwo aus der Ferne mit sich brachte, dieser abenteuerlich große Ozean. Da war das Salz, das nur als Hauch durch die Luft wehte, aber sich nach einem langen Tag am Strand auf die Lippen legte und auf Julies Haut, dass sie es gar nicht abduschen wollte, so wie früher als Kind. All diese Gerüche sammelten sich in der Luft – und in unendlich größerer Intensität auch in den Meeresfrüchten, auf die sie sich so freute. Die Biester aus Cancale, die sie und ihre Freunde gestern Abend für den Abschied vor dem Feste zuhauf gegessen hatten, waren nicht halb so gut gewesen wie die ihrer Eltern. Und ihres Bruders. Und nicht einmal ein Viertel so gut wie die Austern von Fred Pujol und seinem Sohn.

Julie legte ihren Kopf an die kühle Scheibe des TGV, unter sich die futuristisch anmutende Lampe, wie sie jeden Tisch im Zug beleuchtete. Diese zwei Geheimnisse, die sie seit ihrer Jugend hatte. Und die sie ihren Eltern niemals verraten würde. Erstens: Ihr schmeckten die Austern, die ihre Familie produzierte, phantastisch. Ohne Frage. Aber irgendwas machten dieser Fred und sein Sohn Vincent noch einen Hauch besser. Sie hatte keine Ahnung, was es war. Vielleicht lag es daran, dass der Betrieb der Pujols einer der kleinsten am Bassin war und sie deshalb noch mehr per Hand machten, sich noch mehr Zeit ließen, und vielleicht auch mit noch mehr Liebe arbeiteten. Auch wenn es sie immer wieder an den Rand des Ruins führte. Weil immer kleiner in diesen Zeiten eben auch immer weniger Umsatz bedeutete.

Zweitens: Vincent. Der Name, der für sie klang wie eine Verheißung. I have a crush on him, summte sie das abgewandelte alte Lied und musste lächeln. Ja, das war es. Sie war absolut verschossen in diesen großen, schlanken Burschen mit dem feingliedrigen, fast schlaksigen Körper. Die dunklen Haare, die immer irgendwie wild im Wind hin und her geworfen wurden. Seit sie ein Kind war, hatte sie sich ihn immer wieder ansehen müssen, schon als sie noch zusammen im Sandkasten saßen. Später hatten sie, ihr Bruder François und Vincent zusammen Indianerspiele gespielt. Dann waren sie zusammen in die Bars gegangen, eine große Clique aus dem Ort. Immer hatte sie versucht, sich ihm zu nähern, aber für ihn war es wohl, als schleiche seine Schwester sich an. Unvorstellbar. So war es immer gewesen. Bis sie es aufgegeben hatte, seine Nähe einfach nur genoss, aber nicht mehr suchte. Dabei war sie schön, sagten die, die es besser beurteilen konnten als sie selbst.

Vincent. Vor einem Jahr hatte sie ihn zuletzt gesehen, an den Weihnachtstagen, bei einem gemeinsamen Essen ihrer Familien. Fred und sein Sohn hatten geklagt, ginge das Geschäft so weiter wie bisher, würden sie bald verkaufen müssen. An Chevalier womöglich. Julie schluckte. Vincent hatte hinreißend ausgesehen, wie er da neben seinem Vater saß. Die Augen so ernst wie das Thema. Irgendwann im Sommer hatte François gesagt, Vincent überlege, nach Paris zu gehen. Das würde das Ende der Austernzucht Pujol bedeuten. Nicht auszudenken.Wenn sie nachher aus dem Zug stieg, in Bordeaux, würde niemand auf sie warten. Im Sommer, ja, da hätte ihr Vater sie sicher abgeholt. Oder ihr Bruder François. In seinem kleinen Peugeot Cabriolet. Aber nicht jetzt, so kurz vor Weihnachten. Da war zu viel zu tun. Sie hatten keine Zeit, nicht mal für die einstündige Fahrt nach Bordeaux. Also würde Julie sich im Relay mit Zeitungen eindecken, dazu einen Cappuccino gegenüber im Bahnhofscafé holen. Eine halbe Stunde später würde die Fahrt weitergehen, mit der Bummelbahn immer am Bassin entlang, bis nach Gujan-Mestras. Von dem kleinen Bahnhof aus wären es nur noch einige Hundert Meter bis zu ihrem Haus mit Blick aufs Wasser. Doch Julie würde bloß ihren Koffer über den Zaun in den Vorgarten hieven und dann direkt weitergehen, bis zur kleinen Holzhütte direkt am Hafen. Wo bereits die Boote lagen, die voll beladen waren mit Säcken voller Austern, die ihr Vater und ihr Bruder nun einen nach dem anderen in die Cabane brachten. Zum Sortieren, Waschen und Verpacken.

Irgendetwas in ihrer Umgebung forderte ihre Aufmerksamkeit, machte, dass es ihr kalt den Rücken hinunterlief, doch sie schaffte es erst nicht, sich von der vorbeifliegenden Landschaft zu lösen, den flachen Sandsteinhäusern und dem Buchenwald, den sie eben hinter sich ließen. Dann aber gab sie sich einen Ruck und wandte den Kopf dem jungen Mann mit den dunklen Haaren zu, dessen eine Hand fest auf der Reisetasche lag, die er auf den Sitz neben sich gestellt hatte. Er war massig und muskulös und daraus, wie er sie ansah, schloss sie, dass es kein beiläufiger Blick war. Er hatte sie wohl schon seit geraumer Zeit angestarrt.

Winteraustern

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