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Kapitel 7

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»Hallo? Hallo … Ist da jemand?«

Anouk klopfte kräftig gegen die Tür der Austernzucht, doch es antwortete niemand. Dabei war das schwarze Austernboot der Pujols vor der Holzhütte festgemacht, und auf dem Parkplatz daneben stand ein alter Renault Van. Sie konnten nicht weit sein.

Vorsichtig öffnete Anouk die Tür. Allein ein winziges Fenster im hinteren Teil des Raumes ließ ein wenig Licht ins Innere. So waren die Holzkisten und die Arbeitsutensilien nur schemenhaft zu erkennen.

Kopfschüttelnd wandte sie sich um. »Nichts …«

Gerade, als sie wieder umkehren wollten, kam eine Frau angeschlurft, sie trug eine Schürze und ein Kopftuch und sah die Beamten mit ihrem zerfurchten Gesicht fragend an.

»Ja bitte? Wir haben schon geschlossen. Unsere Austern gibt’s in der Markthalle in Arcachon.«

»Wir sind leider nicht gekommen, um Ihre Austern zu probieren«, sagte Luc. »Madame Pujol, nehme ich an?«

»Bah oui«, fuhr sie rasch fort, »ich habe ein Cassoulet auf dem Herd, was wollen Sie?«

Luc sah sich um. Da war nichts, kein Haus jedenfalls, nur das winzige Holzhaus hinter der Austernhütte, aber ja, er sah richtig, dort oben drang Rauch aus dem Schornstein. Sollten die Pujols wirklich in diesem Verschlag wohnen?

»Wir sind von der Police Nationale in Bordeaux«, sagte Anouk und verzichtete darauf, ihren Ausweis zu zeigen. »Wir müssen mit Ihnen sprechen.«

Madame Pujol zuckte zusammen. »Wieder was gestohlen worden draußen?«

Sie wies auf das Bassin hinaus, das nun im gleißenden Sonnenlicht dalag. Doch die Sonne wärmte kein bisschen, erst recht nicht nach all der Nässe und dem kalten Wind vorhin.

»Wollen wir nicht hineingehen? Sie sagten doch, Ihr Cassoulet …«

»Natürlich«, gab Madame Pujol zurück. »Kommen Sie.«

Sie folgten ihr zu dem winzigen Holzbau. Anouk drehte sich um und warf Luc einen fragenden Blick zu. Der zuckte mit den Schultern. Sie betraten die Hütte und wirklich: Sie war ein Verschlag. Ein dunkler Raum mit nur einem winzigen Fenster. Der Gasherd und der Ofen daneben machten ordentlich Qualm, den der Schornstein nicht komplett aufnehmen konnte. So stank die Hütte nach Rauch und irgendwie nach Verbranntem.

»Mist, meine Bohnen«, rief Madame Pujol und stürzte zum Herd, um mit einem riesigen Holzlöffel in einem großen Topf zu rühren. Wütend drehte sie sich um. »Merde, Fred. Hättest du nicht …«

Doch sie brach ab, als sie sah, dass ihr Mann vor dem Fernseher eingeschlafen war. Sein Kopf war nach hinten auf die alte Couch gesunken, die offenbar zugleich das Ehebett war. In dem kleinen Fernseher auf einer Truhe lief das Mittagsjournal von TF1, Jean-Pierre Pernaut verlas eben mit seinem Altherrenlächeln, was es Neues im Élysée-Palast gab.

»Verzeihen Sie«, sagte Madame Pujol mit einem Seitenblick, um weiter beinahe manisch in ihrem Topf zu rühren, »wir waren um fünf auf, jetzt im Weihnachtsgeschäft ist es brutal, wir sind beinah pausenlos im Einsatz.«

Luc nickte verständnisvoll. Er hatte die Adventszeit als Jugendlicher selten in der Schule verbracht, denn der Umsatz zu dieser Zeit entschied, wie sie über den Rest des Jahres kamen – so war schon damals jede helfende Hand unabdingbar gewesen.

Der Alte auf der Couch schnarchte mittlerweile, die dreckigen Stiefel standen in einer Lache aus schmutzigem Wasser auf dem Fliesenboden.

»Madame«, begann Anouk, »könnten Sie Ihren Mann aufwecken? Wir haben Ihnen etwas sehr Wichtiges mitzuteilen. Und es kann leider nicht warten …«

»Aber worum geht es denn?«, fragte die Frau. »Nun sagen Sie doch schon …«

»Ihr Sohn, Vincent«, fuhr Anouk fort, »wir haben ihn tot aufgefunden, er wurde …«

»Was?«, schrie Madame Pujol und riss dabei den Löffel so unglücklich aus dem Topf, dass der direkt hinterher rutschte – und es kam Luc vor, als würde das alles in Zeitlupe geschehen. Der Blick der Frau im Schock, dazu der offene Topf, aus dem die rote Suppe spritzte und sich mitsamt den verbrannten Bohnen in alle Richtungen verteilte, bevor der riesige Bottich mit einem großen Knall auf den Boden krachte, sodass sein Inhalt in alle Richtungen spritzte. Klatschen, Scheppern, Klirren, der Schrei von Madame Pujol, es waren Sekundenbruchteile, in denen ihr Mann die Augen öffnete und hochfuhr, erst kerzengerade auf der Couch saß, um gleich darauf wie versteinert im Raum zu stehen. Er betrachtete das Chaos auf dem Boden und sah dann verstört zwischen den Beamten und seiner Frau hin und her.

»Monsieur Pujol«, sagte Luc, »verzeihen Sie das unsanfte Wecken.« Er atmete tief durch. »Wir sind hier, weil wir Ihnen mitteilen müssen, dass Ihr Sohn ermordet wurde. Es tut uns sehr leid.«

Madame Pujol wimmerte, immer noch starrte sie auf das Cassoulet, das zu ihren Füßen schwamm.

Aber Luc hatte nur Augen für ihren Mann. Jetzt, wo er stand, war zu erkennen, was für ein Riese er war. Ein Mann wie ein Baum. Die schwarzen Haare mit den grauen Sprenkeln, die wild vom Kopf abstanden, die buschigen Augenbrauen, die wütenden Augen, die Hände, die er abwechselnd zu Fäusten ballte und dann wieder schlaff hängen ließ, der breite Brustkorb, der bebte, weil er so heftig atmete – alles an Monsieur Pujol war riesig. Und doch schien es, als schrumpfe er im Angesicht dieser Nachricht, als wolle er in sich zusammenfallen.

Luc hatte sich auf dieses Gespräch nur einstellen, jedoch nicht vorbereiten können. Es war die schlimmste Aufgabe im Leben eines Polizisten, Eltern den Tod ihres Kindes mitteilen zu müssen. Mit dem, was nun kam, aber hatte Luc überhaupt nicht gerechnet.

Monsieur Pujol, dem zusammengefallenen Riesen, schossen die Tränen in die Augen. Als er es bemerkte, versuchte er nicht, sie zu verbergen, vielmehr ballte er wieder die Hände zu Fäusten, prustete einmal und stieß den überraschten Luc auf dem Weg zur Tür zur Seite, ging ohne ein Wort hinaus und verschwand. Die Tür ließ er offen, sodass die kalte Winterluft hineinwehen und den Rauch des verbrannten Cassoulets mit sich nehmen konnte.

Madame Pujol stand wie festgefroren da und sah Anouk und Luc an.

»Ich habe ihn noch nie weinen sehen«, sagte sie schließlich und schüttelte den Kopf, »in fünfunddreißig Jahren. Noch nie.«

Sie nahm ein Tuch von der winzigen Anrichte und begann, das Cassoulet aufzuwischen, was angesichts der Menge eine unmögliche Aufgabe war.

Anouk beugte sich zu ihr hinunter. »Madame Pujol, lassen Sie, bitte …«

Und da fiel ihr die alte Frau in die Arme und weinte hemmungslos. Offenbar war es das, was sie jetzt brauchte. Sie wollte gehalten werden, und Anouk hielt sie, schützte sie, streichelte ihr über den Kopf, dass sich das Tuch löste und zu Boden fiel und den Blick freigab auf stachelkurze, ausgedünnte Haare. Anouk und Luc wechselten einen Blick, und Madame Pujol griff sich mit der Hand an den Kopf, löste sich von Anouk und sagte fast trotzig: »Brustkrebs. Ich dachte, ich wäre die, die in unserer Familie als Nächstes stirbt.«

Ein kurzer Moment der Stille. Luc versuchte durch die Tür zu erspähen, ob Monsieur Pujol in der Nähe des Hauses war, dann fuhr Madame Pujol fort: »Nun sagen Sie schon, was in aller Welt ist denn geschehen?«

»Wir haben Ihren Sohn heute Morgen kurz nach Sonnenaufgang gefunden, er war an einen Pfahl gebunden, draußen auf dem Bassin. Zusammen mit dem Sohn der Familie Labadie.«

»François? Er auch …?«

»Ja, sie waren zusammen da angebunden. Sie sind beide getötet worden, daran gibt es leider keinen Zweifel. Und es gab noch einen Angriff auf einen Austernzüchter. Einen Mann aus La-Teste-de-Buch, er hat überlebt.«

»So weit musste es ja kommen«, rief Madame Pujol aus und konnte sich gar nicht mehr zurückhalten, wiederholte: »So weit musste es ja kommen.«

Dann sah sie Lucs Blick und hielt sich erschrocken den Mund zu.

»Was meinen Sie, Madame?«, fragte Anouk und berührte sanft ihre Schulter, doch Madame Pujol schüttelte sie ab.

»Ich kann nicht …«, sagte sie, plötzlich kalt und starr. »Gehen Sie, ich möchte meinen Mann suchen, wir müssen nun trauern …«

»Aber Madame«, beharrte Anouk, »Sie müssen uns sagen, was Sie wissen. Wir suchen schließlich den oder die Mörder Ihres Sohnes.«

Sie war schon auf dem Weg nach draußen, doch in der Tür drehte sie sich noch mal nach den Polizisten um. »Sie denken doch ohnehin alle, dass wir es sind, die hier die Austern stehlen. Und nun nehmen sie Rache.«

Damit verschwand sie und knallte die Tür hinter sich zu.

Luc schüttelte den Kopf und sah Anouk lange und schweigend an.

»Das waren merkwürdige Minuten«, sagte sie.

»Wie ein Kammerspiel«, entgegnete Luc. »Drama, Trauer, Wut, alles war dabei.«

Sie nickte.

»Sollen wir hier gleich durchsuchen?«, fragte Anouk. »Wo wir schon mal allein in der Hütte sind?«

Luc schüttelte den Kopf.

»Was sollen wir hier finden?«, fragte er und betrachtete die Unordnung, die kargen Möbel, die Reste der Bohnensuppe auf dem Boden, Armut als Stillleben in eine Hütte gebannt.

Winteraustern

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