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Kinder im modernen Indien

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Kindheit als umschriebene Lebensperiode hat sich historisch enorm verändert. Es ist deshalb wichtig, unsere Vorstellungen von Kindheit nicht unreflektiert auf eine 2 500 Jahre zurückliegende Zeit im alten Indien anzuwenden. Wie uns der Anthropologe David Lancy (2015) in seinem umfassenden Werk über Kindheitsstudien daran erinnert, unterscheiden sich die Ideale und Auffassungen von Kindern wie auch Erziehungsstilen enorm von einer Kultur zur nächsten. Die auf Kinder fokussierten Gesellschaften der westlichen Industrienationen sind in keiner Weise als Norm anzusehen. Im Gegenteil, das Spektrum der Rolle von Kindern reicht von einer utilitaristischen, nützlichkeitsorientierten Sicht von Kindern als Beitragende zum Familieneinkommen (die Lancy mit dem englischen Wort »chattel«, d. h. Besitz, benennt) bis hin zu der idealisierten Rolle von Kindern in westlichen Gesellschaften, die materiell unterstützt werden und denen eine verlängerte Schutzzeit gewährt wird (die Lancy ironischerweise mit dem Begriff »cherub«, d. h. Engelchen, bezeichnet).

Zusätzlich zu den deskriptiven anthropologischen Zugängen ist es sehr aufschlussreich, sich psychodynamische Studien zur Kindheit anzuschauen, die die innerpsychischen Abläufe von Kindern aufzeichnen. Diese Analysen liegen vor allem für Kinder in Indien vor. Der Psychoanalytiker Sudir Kakar widmete sich dem Studium und Verständnis diverser Aspekte der indischen Psyche, einschließlich ihrer bewussten und unbewussten Domänen (Kakar 2012a). In seinem Buch über die Inder, das er mit seiner Frau Katarina geschrieben hat, versuchte er ein Psychogramm von Indien, diesem riesigen Subkontinent mit 1,3 Milliarden Einwohnern, zu erstellen. Diese Art von Verallgemeinerungen können problematisch sein, aber Kakar und Kakar konnten überzeugend darlegen, dass der Hinduismus die derzeitig dominante Kultur Indiens darstellt. Der Buddhismus ist zu einer Minderheitsreligion geworden. Einige der gemeinsamen Aspekte der indischen Identität sind: eine Ideologie von Familienbeziehungen, die in ein erweitertes Familiennetzwerk eingebettet sind; soziale Beziehungen, die immer noch vom Kastensystem beeinflusst sind; Vorstellungen des Körpers, die auf der ayurvedischen Medizin beruhen; unendliche Mythen, Legenden und Geschichten, die den imaginären kulturellen Hintergrund Indiens bilden (Kakar und Kakar 2006, S. 9).

Diese gemeinsame und geteilte Kultur Indiens hat ihre Ursprünge in den prägenden Kindheitserfahrungen, wie Kakar in seinem hervorragenden Frühwerk über die innere Welt des indischen Kindes ausgearbeitet hat, das erstmals 1978 veröffentlicht wurde (Kakar 2012b). Die frühe Sozialisation von indischen Mädchen und Jungen unterscheidet sich erheblich. Mutterschaft hat eine hohe traditionelle und emotionale Bedeutung für Mädchen. Nach der Heirat, die zum Teil schon im Alter von 12–18 Jahren vollzogen wird, nehmen Mädchen zunächst einen niedrigen Status als Ehefrauen und Schwiegertöchter im Haushalt ihrer Männer ein. Die einzige Möglichkeit, dieser Rolle zu entfliehen, ist es, selbst Mutter zu werden. Als Mütter, vor allem von Jungen, herrschen sie über den Haushalt und erlangen wieder einen hohen Status in der Familie.

Dies ist der Grund, warum die sogenannte »Doppelgeburt« weniger ausgeprägt bei Mädchen verläuft als bei Jungen. Kakar beschrieb die Doppelgeburt als plötzliche Veränderung einer verlängerten und beschützten frühen Kindheit, die bis zu dem Alter von drei, manchmal sogar fünf Jahren reicht. Diese Phase wird vor allem durch die Mütter beeinflusst und dauert bis zum Eintritt in die durch die Väter beeinflusste Welt an. Der Übergang im Alter von 3–5 Jahren ist oft abrupt und dramatisch, verbunden mit einem tiefen Gefühl von Verlust, da diese beiden Phasen vor und nach der Transition sich so unterscheiden.

Während der verlängerten frühen Kindheit bis zum Alter von 3–5 Jahren haben indische Kinder eine tiefe Verbindung zu ihren Müttern und den vielen Ersatzmüttern in der erweiterten Familie. Das Kind erlebt enge, sinnliche, körperliche Berührungen mit anderen, wird verwöhnt und Tag und Nacht gefüttert. Fast alle Wünsche werden erfüllt. Mögliche intrapsychische Residuen dieser frühen Erfahrungen sind Gefühle und Überzeugungen, dass die Welt gutartig ist, man geliebt wird und man anderen Menschen vertrauen kann. Mütter sind in Fantasien sowie in magischen und mystischen Überzeugungen allgegenwärtig, die über das ganze Leben aktiv bleiben können. Wie wir später sehen werden, entspricht diese Beschreibung einem »positiven Mutterkomplex« in der Terminologie von C. G. Jung.

Der plötzliche Eintritt in die väterliche Welt ist für Mädchen weniger belastend, da sie neue Aufgaben innerhalb der familiären mütterlichen Umgebung übertragen bekommen. Für Jungen dagegen ist die Trennung von ihren Müttern plötzlich und irreversibel. Es ist ein großer Schock für sie, die komplette Umkehrung ihres täglichen Lebens mit neuen Erwartungen und Aufgaben zu erfahren. Väter und andere männliche Verwandte spielen jetzt eine größere Rolle für sie. Emotional neutrale Beziehungen überwiegen. Zunehmende Verantwortung, das Einhalten von Regeln und das Respektieren von sozialen Hierarchien wird wichtig. Mögliche intrapsychische Langzeitresiduen können eine erhöhte psychische Labilität sein, eine unkritische Haltung gegenüber Autoritäten, Regressions- und Unterwerfungstendenzen, Reduktion eigener innerer Werte und eine größere Orientierung an sozialen Normen. In den Worten von C. G. Jung entspricht diese Beschreibung einem »negativen Vaterkomplex«.

Die Beiträge von Kakar (2012 b) sind sehr wertvoll, da sie das Verständnis der Rolle des indischen Kindes in einer Kultur vermitteln, die sich so wesentlich von westlichen Normen und Idealen unterscheidet. Die Kindheitsdynamik im derzeitigen Indien unterscheidet sich deutlich von der zu Zeiten des Buddha und wandelt sich immer weiter. Das Buch von Kakar (2012b) wurde vor 40 Jahren geschrieben. In modernen indischen Mittelklassefamilien haben sich in der Zwischenzeit deutliche Änderungen vollzogen, sodass die Schlussfolgerungen von Kakar zumindest zum Teil revidiert werden müssten. Dennoch handelt es sich um ein Grundlagenwerk von großer Bedeutung. Leider gibt es noch keine vergleichbaren, gründlichen psychoanalytischen Studien in anderen asiatischen Ländern.

Buddhismus und kindliche Spiritualität

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