Читать книгу 9 ungewöhnliche Western April 2020: Western Sammelband 9006 - Alfred Bekker - Страница 32
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ОглавлениеTitus Lancaster saß zurückgelehnt im Einspänner, beide Hände auf einen Stock mit Silberknauf zwischen seinen Beinen gestützt.
Napoleon lenkte den leichten Kutschenwagen zur Bahnstation und hielt auf dem Platz davor. „Soll ich Sie anmelden, Sir?“
„Das werde ich selbst erledigen.“ Lancaster stieg aus. „Warte auf mich.“
„Ja, Sir.“
Lancaster schwang seinen wertvollen Stock, schob das Fenster in der Nebentür damit nach oben, und schlug kräftig auf den kleinen Sims darunter.
Ein Beamter mit schwarzen Stulpen über weißgrauen Hemdsärmeln und einer runden Nickelbrille vor den Augen wandte sich drinnen am Stehpult um.
„Ist Preben Caine anwesend?“, schnarrte Lancaster scharf und befehlsgewohnt.
„Ja, Sir.“ Der Beamte dienerte und legte den Federhalter neben das Tintenfass.
„Öffnen Sie!“ Lancaster stieß den Stock ungeduldig gegen die Tür.
„Sofort, Sir!“ Der Beamte suchte nach einem Schlüssel, fand ihn schließlich, eilte zur Nebentür, schloss sie auf und verneigte sich wie ein Untergebener.
Lancaster schritt würdevoll, dabei aber hart auftretend vorbei und stieß den Stock mehrfach pochend auf den Boden. „Wo finde ich Preben Caine?“
„Ich führe Sie zu ihm, Sir.“
„Gut.“ Lancaster ließ den Mann an sich vorbei und folgte ihm.
Der Gesuchte befand sich in seinem Dienstzimmer in den Wells-Fargo-Räumen des Bahnhofes. Er verwaltete die Postkutschenstation und zugleich das Expresswesen der Railroad. Caine war ein mittelgroßer, korpulenter Mann von fünfundvierzig, dessen Haar sich so stark lichtete, dass er schon selbst damit rechnete, im nächsten Jahr mit einer Glatze herumzulaufen. Er galt in Phoenix als außerordentlich fleißig und korrekt. Allerdings sagten ihm nicht nur böse Zungen nach, dass er auch reichlich bieder und einfältig wäre und komplizierte Denkvorgänge nicht in seinen Kopf passten.
„Sir.“ Der mittelgroße Agenturleiter sprang hastig hinter seinem Schreibtisch auf und verneigte sich mehrmals. „Was verschafft mir die Ehre Ihres Besuchs?“
Der Beamte aus der Expressstation schloss hinter dem Gast die Tür und entfernte sich.
„Bitte, nehmen Sie doch Platz!“ Caine deutete auf einen Ledersessel vor seinem massigen Schreibtisch.
„Danke.“ Lancaster setzte sich und klopfte mit dem Ende des Stocks auf die Schreibtischkante. „Ich hörte, der Zug sei überfallen worden.“
Caines Gesicht wurde faltig. Bekümmert nickte er und sank in seinen Sessel. „In der Tat, das geschah, Sir. Gestern.“ Er beugte sich vor. „Aber darf ich fragen, warum Sie daran interessiert sind?“
„Das dürfen Sie, Mister Caine.“ Lancaster zog ein zweimal gefaltetes Schreiben aus der Innentasche der Anzugjacke.
Caine reckte den Kopf.
„Eine Empfangsbescheinigung, Mister Caine. Und zwar in Eureka, Nevada von der Wells-Fargo-Agentur ausgestellt. Ich gab dort eine Kassette mit Wertpapieren zum Transport an die Ostküste auf.“ Lancaster legte dem überraschten Beamten die Empfangsbescheinigung vor die Nase.
Caine runzelte die Stirn, während er das Papier studierte. „Aktien, Wertpapiere und Pfandbriefe“, murmelte er.
„Ganz recht.“
„Mein Gott, eine Kassette!“ Caine stand auf. „Eine Kassette wurde aus dem Tresor im Expresswaggon entwendet!“
Lancaster blickte ihn nur an.
Caine setzte sich wieder, prüfte das Datum, an dem die Sendung in Eureka aufgegeben worden war und sah erst dann den angegebenen Wert.
„Zweihundertfünfzigtausend Dollar“, sagte Lancaster lässig.
„Ja, ich lese es, Sir.“
Lancaster erhob sich und trat zu einer großen Karte, die links der Fenster an der Wand hing und sie fast völlig bedeckte. Rot und blau markierten Striche Postkutschenwege und Eisenbahnlinien vom Atlantik bis zum Pazifik. Im Osten bestanden sie aus einem dichten, kreuz und quer verlaufenden Gewirr wie ein über die Karte gestülptes Netz, westlich der großen Flüsse hingegen wurden sie immer spärlicher und nahmen erst in Kalifornien und Oregon wieder etwas zu.
Lancasters Finger folgte von Eureka aus den Verbindungen. „Ich habe errechnet, dass die Kassette in diesem Zug gewesen sein muss. Da es sich um eine als eilig deklarierte Sendung handelt, musste sie ohne Verzug von einem Güterumschlag zum jeweils nächsten weiterlaufen.“
„Ja.“ Caine zog ein großkariertes Taschentuch aus der Hosentasche und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Zweihundertfünfzigtausend Dollar sind eine enorme Summe.“
„Wem sagen Sie das.“ Lancaster kehrte zurück, setzte sich und schlug mit der Spitze des Stocks auf die Schreibtischkante. „Und natürlich auf diesen Wert versichert.“
„Natürlich, Sir, ich sehe es.“
„Sie haben die Transportunterlagen inzwischen sicher durchgesehen, Mister Caine. Ist das Duplikat dieses Aufgabescheins dabei?“
Der Beamte erhob sich und nahm mit zitternden Fingern das Papier vom Tisch. „Bitte, warten Sie einen Augenblick.“
Lancaster nickte gönnerhaft.
Caine verließ das Zimmer, kehrte nach zwei Minuten zurück und legte Lancaster die Quittung wieder vor. „Und?“
„Die Kassette befand sich im Expresswaggon, Sir. Und sie wurde von den Banditen gestohlen.“ Caine wischte sich wieder den Schweiß von der Stirn. „Ausgerechnet auf dem Abschnitt, für den ich zuständig bin.“
Lancaster faltete den Einlieferungsschein sorgsam zusammen und verstaute ihn unter der Jacke.
„Ich werde die Sache sofort unserem Versicherungsbüro melden, Sir“, versprach der Beamte.
Seufzend erhob sich Lancaster. „Leider bezieht sich die Versicherungssumme nur auf den derzeitigen Wert der Papiere.“
„Was?“ Caines Stirn umwölkte sich augenblicklich wieder. „Auf was sollten sie sich …“ Er brach ab, weil er keine Ahnung hatte, was sein Gast andeuten wollte.
Lancaster lächelte von oben herab. „Sie verstehen von Börsengeschäften nicht viel?“
„Leider nein, Sir.“
„Wenn eine solche Menge von Papieren auf einen Schlag angeboten und veräußert werden, kann das leicht einen empfindlichen Kurssturz auslösen.“
„Ja.“ Caine nickte, hatte aber noch immer nichts begriffen. Um das zu überdecken, fügte er hinzu: „Wir verfügen über erstklassige Sicherheitsagenten, Sir. Vielleicht ist es möglich, die Banditen noch mit der Kassette zu greifen. Der zuständige Agent wird sicherlich schon morgen seine Arbeit aufnehmen.“
„Sie haben mich nicht verstanden, Mister Caine. Das Anbieten der Papiere kann ihren Wert beträchtlich schmälern. Ihre Versicherung könnte auf den Gedanken verfallen, die gestohlenen Aktien nach neuen Kursen berechnen zu wollen, die vielleicht übermorgen oder in einer Woche an der Börse zu erfahren sind. Ich habe auf zweihundertfünfzigtausend Dollar versichert. Auf den Wert der letzten Woche, als ich die Papiere aufgab.“
„Natürlich, Sir.“ Caine tupfte unablässig über seine Stirn, hinter der ihm so wirr war, dass er gar nicht mehr versuchte, den Sinn von Lancasters Reden zu verstehen.
„Ich halte mich nur vorübergehend hier auf, Mister!“ Lancasters Ton nahm an Schärfe zu. „Und ich habe keine Lust, meinen Aufenthalt zu verlängern. Er kostet schließlich auch eine nicht ganz unwesentliche Menge!“
„Unsere Gesellschaft wird die Ihnen durch diese Sache entstehenden Kosten wenigstens teilweise decken, Sir!“, versicherte der Beamte. „Und ich werde bemüht sein, so schnell wie möglich eine Regulierung herbeizuführen.“
Lancasters Gesicht wurde freundlicher. „Ich sehe, wir verstehen uns.“
„Ich leite sofort alles Erforderliche in die Wege, Sir.“
„Danke, Mister Caine.“ Lancaster ging zur Tür, wandte sich dort aber auf den Stock gestützt wieder um.
„Da wäre noch etwas, Mister Caine. Um Kurseinbrüche möglichst zu vermeiden, muss ich Sie und Ihre Gesellschaft um strikte Diskretion bitten.“
„Um Stillschweigen?“ Caine folgte dem Gast. „So ein Überfall lässt sich nicht geheim halten, Sir. Das ist völlig unmöglich.“
Lancaster lächelte mitleidig und geduldig. .Selbstverständlich nicht. Aber wenn der Inhalt der Kassette ein Geheimnis bleibt, kann ein Kurssturz vermieden werden. Stellen Sie sich vor, Ihre Agenten könnten die Kassette in der Tat samt ihrem Inhalt wieder auftreiben. Wie peinlich für die Wells Fargo, wenn dann alle Welt bereits weiß, was gestohlen wurde, und wenn die Papiere zwanzig oder dreißig Prozent weniger Wert besitzen als heute!“
„Das wäre ein großer Verlust für die Wells Fargo“, bestätigte Caine, heilfroh, verstanden zu haben.
„Eben. Deshalb ist es am besten, wenn über den Inhalt der Kassette möglichst geschwiegen wird.“ Lancasters Lächeln wurde freundlich. „Da die Leute in New York das Gras in Arizona nicht wachsen hören, könnten ihnen auch diese Dinge verborgen bleiben. Und das wäre im wohlverstandenen Eigeninteresse der Wells Fargo.“
„Ich werde über den Inhalt der Kassette schweigen“, versicherte Caine. „Nichts geht in die Welt hinaus.“
„Ich sehe, wir verstehen uns, Mister Caine. Bitte, halten Sie mich über den Fortgang Ihrer Bemühungen auf dem laufenden.“
„Selbstverständlich.“ Caine zwängte sich vorbei und öffnete dem Gast die Tür.
Lancaster verließ das Bahnhofsgebäude in dem Bewusstsein, diesen biederen Beamten gehörig eingeseift zu haben. Dass es ihm lediglich darum ging, den Diebstahl möglichst zu vertuschen und nichts weiter als die vereinbarte Versicherungssumme zu kassieren, darauf verfiel Caine bestimmt nicht. Wohl auch nicht darauf, dass die entwendeten Papiere irgendwo, Tausende von Meilen entfernt, leicht wieder in Umlauf gebracht werden konnten, wenn die Wells Fargo die verlangte Diskretion walten ließ.
Lancaster stieg in seinen wartenden Einspänner. „Zurück zum Hotel, Napoleon!“
„Jawohl, Sir.“ Der Diener und Kutscher knallte mit der Peitsche und fuhr die Straße hinauf.
Lancaster lächelte zufrieden vor sich hin. Er rechnete schon deswegen damit, dass sein raffinierter Plan aufging, weil ein so einfallsloser und zugleich pflichtbesessener Beamter wie Caine den größten Wert darauf legen würde, die Sache möglichst zu vertuschen, um den Prestigeverlust, den er für sich selbst in dem Überfall erkannte, so gering wie möglich zu halten. Dies aber auch in dem Glauben, der Wells Fargo einen Dienst zu erweisen.
Napoleon schaute über die Schulter.
„Es läuft prächtig“, versicherte Lancaster.