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Eine spontane Reaktion

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In einem bekannten Bericht Kapplers, der von den Alliierten abgefangen wurde, wird der Hergang der Operation vom 16. Oktober geschildert. Sie dauerte von 5.30 bis 14 Uhr und endete mit der Internierung der festgenommenen Juden im Collegio Militare:

Judenaktion heute nach büromässig bestmöglichst ausgearbeitetem Plan gestartet und abgeschlossen. Einsatz sämtlich verfügbarer Kräfte der Sicherheits- und Ordnungspolizei. Beteiligung der italienischen Polizei war in Anbetracht der Unzuverlässigkeit in dieser Richtung unmöglich […] Abriegelung ganzer Straßenzüge sowie in Anbetracht Charakters der offenen Stadt als auch der unzulänglichen Gesamtzahl von 365 Polizisten nicht durchführbar.

Die Römer bewertete man in dem Bericht folgendermaßen: „Verhalten der italienischen Bevölkerung eindeutig passiver Widerstand, der sich in grosser Reihe von Einzelfällen zur aktiven Hilfeleistung steigerte.“ Es war sogar die Rede von einem Faschisten im Schwarzhemd, der behauptet haben soll, das Haus eines Juden gehöre ihm; in anderen Fällen wurden die Juden von ihren Mitbürgern beschützt. Herbert Kappler beeindruckte die Feindseligkeit, die die Römer an den Tag legten.36 Am 17. Oktober traf er mit Wilhelm Harster, dem Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes, und Theodor Dannecker zusammen, „um die Ergebnisse der in der Stadt durchgeführten Judenaktion zusammenzufassen“. Kappler betonte, die Operation sei schwierig gewesen; zu wenige Männer hätten ihm zur Verfügung gestanden und die eingesetzten Soldaten seien in Rom nicht ortskundig gewesen. Im jüdischen Viertel habe man bessere Ergebnisse erzielt als in anderen Teilen der Stadt. Zur Verwendung des meldeamtlichen Materials habe man sich an die italienische Polizei wenden müssen: „Eine Sonderabteilung der italienischen Polizei unter der Leitung eines Offiziers, der dem Büro für Judenfragen beim italienischen Innenministerium zugeteilt ist, hat beispielhaft mit uns bei der Abwicklung des Plans zusammengearbeitet“, heißt es im Protokoll der Sitzung. Die Operation sei schließlich abgeschlossen worden, weil es zwecklos erschienen sei, sie noch länger hinauszuziehen.37

Die arische Bevölkerung hat nicht kollaboriert. Grundsätzlich haben wir sie nicht dazu aufgefordert zu kollaborieren, eben weil uns bekannt ist, dass selbige dem Rassebegriff nicht treu ist. Schon bei den ersten Festnahmen hat man dagegen sogar festgestellt, dass viele Italiener die Juden umgehend alarmiert haben, sodass diese sofort in den Häusern von Ariern und in den vielen Kirchen der Stadt Zuflucht gefunden haben. Überdies wurde bemerkt, dass es noch unbekannten Elementen der italienischen Polizei gelungen ist, die Nachricht von der bevorstehenden Operation zu verbreiten.

Im auswertenden Bericht über die Operation vom 16. Oktober heißt es unter anderem: „In Fällen, in denen die Juden Unterschlupf bei arischen Hausbewohnern fanden, war es aufgrund der Anordnung, dass Reibereien mit der örtlichen Bevölkerung und dem katholischen Klerus zu vermeiden waren, nicht möglich, Festnahmen vorzunehmen.“38 Seit dem 17. Oktober hatten die Verantwortlichen der Razzia zwar nicht die Gewissheit, aber doch den Eindruck, dass die Juden auch „in Kirchen“ Unterschlupf fanden. Doch die mit der Operation betrauten Deutschen hatten die Anweisung erhalten, sich nicht mit der Bevölkerung und auf keinen Fall mit dem katholischen Klerus anzulegen. Dieser Befehl sollte auch in den folgenden Monaten gelten. Paolo Monelli beschrieb das Leben, das nun in Rom begann, folgendermaßen: „Unter dem Anschein einer teilnahmslosen Stadtbevölkerung, die still, anständig und ruhig ihren alltäglichen Angelegenheiten nachging, verbarg sich ein großes unterirdisches und unermüdliches Wimmeln […]“39

Radio Roma warnte abermals, dass jedem, der Ausbrechern und Flüchtlingen half, die Todesstrafe drohte.40 Die faschistischen und deutschen Verlautbarungen auf den Mauern Roms erinnerten daran, dass „die Beherbergung eines Flüchtigen, eines englischen Soldaten oder eines Wehrdienstverweigerers lebensgefährlich“ war.41 Doch all dies konnte dem „unterirdischen Wimmeln“ kein Ende setzen. Inmitten dieses „Wimmeln“ wurden Flüchtlinge in kirchlichen Einrichtungen untergebracht, auch wenn die Männer und Frauen der Kirche hierzu keine von vornherein einheitliche Haltung hatten. Piero Terracina berichtete, dass ein Institut in Monteverde sich geweigert habe, ihn aufzunehmen; in San Giuseppe in der Via del Casaletto hingegen habe man viel Geld von ihm verlangt. In ebendiesem Kloster wurde Lia Levi und darüber hinaus auch vielen anderen Schutzsuchenden Asyl gewährt.42 Es wurden auch Absagen erteilt, doch die Zahl der Fälle, in denen die Bedürftigen willkommen geheißen wurden, ist groß. Zusammen mit ihren Eltern und ihren Schwestern entkam Marina Limentani der Razzia. Die Familie beschloss, zum Kloster der Salesianerinnen in der Via Marghera zu gehen, wo bereits die Schwester der Großmutter untergekommen war. Dort wurden sie freundlich empfangen. „Schwester, helfen Sie uns, wir wissen nicht, was wir tun sollen, wir haben kein Geld, wir haben nichts mehr […]“, flehte die Familie verzweifelt. Die Oberin antwortete: „Hört zu, was ich für euch tun kann, ist, die beiden jüngsten Mädchen aufzunehmen, die andere Tochter können wir bei den Franziskanerinnen hier gegenüber unterbringen […] Versucht dort zu sagen, dass ich euch schicke.“43

Um in die Welt des römischen Untergrunds einzutauchen, wollen wir uns ein paar Fälle aus der Umgebung des jüdischen Viertels anschauen, wo viele Juden lebten. Ein Sonderfall ist das Franziskanerkloster, das an die Kirche San Bartolomeo auf der kleinen Tiberinsel angegliedert ist und über eine alte Brücke mit dem jüdischen Viertel und über eine andere mit Trastevere verbunden ist. Aus Renzo De Felices Verzeichnis der Ordenshäuser, die Juden bei sich aufnahmen, geht hervor, dass in San Bartolomeo 400 Flüchtlinge untergebracht waren; Sam Waagenar hält diese Zahl jedoch für zu hoch.44 Als ich das Kloster 1975 besuchte, bestätigte man mir, dass dort viele Menschen untergekommen seien, manche auch nur für kurze Zeit. Archivalisch konnte dies jedoch nicht nachgewiesen werden. Der Franziskaner Samuele Puri, so erfuhr ich, nahm am 16. und 17. Oktober zahlreiche Juden auf. Auch der Franziskaner Pater Stefano Bianchi spielte bei der Aufnahme der Juden eine entscheidende Rolle. Die Franziskaner beherbergten auf einem Stockwerk des jüdischen Krankenhauses ein Waisenhaus: Die Töchter der Unbefleckten Jungfrau Maria von Reggio Calabria (die „Immacolatine“) aus Albano brachten eine Gruppe jüdischer Kinder dort unter (die Namen von 34 der Kinder sind einer Liste zu entnehmen).45

Die Tiberinsel war ein strategisch wichtiger Ort, an dem wir noch kurz verweilen wollen. Der Komplex auf der Insel, der aus dem Kloster, dem jüdischen Krankenhaus und dem Krankenhaus der Barmherzigen Brüder besteht, spielte bei der Erstaufnahme der Flüchtlinge eine wichtige Rolle. Von dort aus wurden sie in andere Unterkünfte geschickt. Die Einrichtungen auf der Tiberinsel gehörten zu den ersten Institutionen außerhalb des Ghettos, an deren Pforten Männer und Frauen auf der Flucht klopfen konnten. Dies erklärt, warum so viele Juden in San Bartolomeo Station machten.

Neben dem Kloster San Bartolomeo liegen das jüdische Krankenhaus und die Synagoge, der damalige Gebetsort der Einrichtung. Allen Risiken zum Trotz kam Rabbi Panzieri während der Besatzung jeden Abend aus seinem Haus am Campo de’ Fiori dorthin, um zu beten. Hier wurden nach der Schließung der Großen Synagoge auch das Rosch ha-Schana und der Jom Kippur gefeiert. Die Krankenschwester Dora Focaroli brachte die im jüdischen Krankenhaus liegenden jüdischen Patienten in Sicherheit; die kräftigeren ließ sie ins benachbarte Krankenhaus der Barmherzigen Brüder und die schwerer Erkrankten ins Krankenhaus „San Camillo“ verlegen. Die Alten blieben in der Einrichtung, deren Schild abgehängt wurde. Focaroli versteckte unzählige jüdische Familien im Turm des Krankenhauses, von wo aus man die nunmehr geschlossene Große Synagoge auf der anderen Seite des Tibers sehen konnte. Die Flusspolizei, die auf der Insel eine Station hatte, deckte das heimliche Treiben auf der Insel und gab an, dass in dem Bereich keine Juden seien und sie für die dortigen Räumlichkeiten zuständig sei.46

Im Krankenhaus der Barmherzigen Brüder auf der Tiberinsel wurden nicht nur die jüdischen Patienten des jüdischen Krankenhauses untergebracht. Auch der katholische Gewerkschafter Achille Grandi wurde dort versteckt, der Ende Mai 1944 einer Razzia entkommen war, die eigentlich dem zu dem Zeitpunkt abwesenden General Angelo Odone gegolten hatte.47 Im Krankenhauskomplex war man politisch und im Untergrund aktiv. Dies schilderte auch Adriano Ossicini, eine der Schlüsselfiguren der Bewegung der katholischen Kommunisten, in seinem Buch Un’isola sul Tevere. Während die Deutschen nach einer Denunziation die Kirche Santa Maria in Cappella in der Nähe der Tiberinsel durchsuchten, wurde er selbst eine ganze Nacht lang in einem angrenzenden Nonnenkloster versteckt. Dort hatte er auch Waffen gelagert.48

Im Krankenhaus der Barmherzigen Brüder wurden Juden auch auf Empfehlung von Vittorio Emmanuele Sacerdoti aufgenommen, einem jüdischen Arzt, der dort 1941 trotz der Rassengesetze angestellt worden war. Am 16. Oktober beobachtete Sacerdoti die Razzia von den Fenstern des Krankenhauses aus, die auf das Ghetto hinausgingen. Sofort ließ er die ersten Flüchtlinge aufnehmen.49 Für die untergebrachten Juden wurde eine Patientenakte angelegt. Der Chefarzt Giovanni Borromeo ließ darin „Morbus K“ verzeichnen: Eine rein fiktive Erkrankung – „Morbus K“ stand in Wirklichkeit für „Morbus Kesselring“ – doch die Deutschen, die kamen, um das Haus zu durchsuchen, mussten dabei unweigerlich an „Morbus Koch“, also an Tuberkulose, denken, was sie davon abhielt, die Krankenstationen weiter zu durchsuchen. Dadurch, dass er diese ansteckende Erkrankung bei seinen Patienten vorgab, rettete Professor Borromeo zahlreiche Juden und Flüchtlinge.50 Ein Ordensbruder, der damals noch Novize war, erinnerte sich daran, dass zahlreiche Juden aus dem Ghetto auch nach dem 16. Oktober im Krankenhaus Zuflucht suchten, wenn weitere Razzien drohten. Denn viele lebten dort weiterhin, weil es für sie keine andere Lösung gab:

Wenn die Nachricht von kurz bevorstehenden Durchkämmungen durchsickerte, kamen sie in großen Scharen. Dann stiegen die meisten von ihnen im Krankensaal „Sala Assunta“ […] hinter dem Altar, der sich in diesem Saal befand, durch eine Falltür. Ganz unbekümmert stiegen sie hinunter und wieder hoch, wenn die Gefahr vorbei war. Durch die Falltür gelangten sie auf einen Weg, der durch einen Tunnel entlang des Tibers führte […]

Auf einem Kärtchen, das bis heute erhalten geblieben ist, teilte Ossicini Prof. Borromeo mit, dass „für morgen zwei Betten wegen Morbus K dringend gebraucht werden“. Der polnische Prior Fra’ Maurizio (Stanislaw Bialek) spielte in der Resistenza, die mit dem Krankenhaus in Verbindung stand, eine wichtige Rolle. Im Mai 1944 wurde es schließlich durchsucht, da nunmehr bekannt war, dass dort Menschen versteckt wurden. Einige polnische Soldaten wurden verhaftet, die Juden aber erkannte man nicht. Giuliana Benzoni, eine florentinische Adlige, die im Leben Roms jener Monate sehr rührig war, hielt fest, dass sie die Antifaschisten warnte, die sich dort aufhielten, sodass sie rechtzeitig fliehen konnten. Fra’ Maurizio warf das Funkgerät, mit dem sie mit der Regierung Pietro Badoglios kommunizierten, und einige Dokumente in den Fluss.51

Der Novizenmeister Clemente Petrillo war verantwortlich für die Aufnahme der Schutzsuchenden. Empfehlungen für die Juden erhielt er von Priestern und Personen aus dem Vatikan, aber auch von der Schwester des bekannten römischen Schauspielers Aldo Fabrizi, der Signora Lella, die in der Nähe eine Pension leitete und auf der Insel ein beliebtes Restaurant geführt hatte. Der bereits zitierte Novize schilderte: „Die meisten Juden waren arm, doch keiner musste eine Unterkunftsgebühr zahlen. Im Gegenteil kam es manchmal vor, dass der Meister, der die Familien gut kannte, einen jungen Novizen mit einem Sack voll Essen zu ihnen schickte […]“52 Adriano Ossicini erinnerte sich gut an die Geschlossenheit, die unter den Barmherzigen Brüdern herrschte:

Die psychologische Verschmelzung war mitunter beeindruckend, es gab keinen Bruder, der nicht einverstanden war! Die Brüder kamen aus Deutschland, Frankreich, Italien, aber keiner von ihnen war Faschist! Da drinnen hatte niemand Angst, alle waren einverstanden! Die Ärzte – es gab zahlreiche jüdische Ärzte […] die Pfleger, du kamst rein und warst unbesorgt […] Es waren die Stärke Borromeos und das Prestige des Priors, die diesen Eindruck von Sicherheit vermittelten.53

Als die Juden aus dem Ghetto flohen, suchten sie in ihrer unmittelbaren Umgebung Unterschlupf. Viele Ordensgemeinschaften in der Nähe des Ghettos öffneten den Juden am 16. Oktober ihre Türen. Nicht immer blieben diese dort permanent, da für viele die Reise durch den Untergrund von ständigen Ortswechseln bestimmt war.54 Im Haus der adligen Familie Afan de Rivera Costaguti an der Piazza Mattei im Ghetto wurden 16 Juden versteckt. Als die Deutschen das Haus durchsuchten, stellte sich Giulia Afan de Rivera schützend vor ihre Gäste und bestach drei Soldaten. Sie brachte ihre Schützlinge danach in das Haus eines Angestellten und schließlich zu den Schwestern vom Guten Hirten. Insgesamt 42 Juden wurden von „Sor Richetto“ (alias Enrico De Angelis) während der Razzia in seiner Fleischerei am Portico d’Ottavia untergebracht, direkt neben dem Platz, von dem die Lastwagen später in Richtung Collegio Militare abfuhren. Der Fleischer versteckte 15 von ihnen in einer kleinen Garage in Trastevere, die ihm gehörte, und kümmerte sich um sie.55

In Trastevere, einem Viertel in der Nähe des alten Ghettos, in dem viele Juden wohnten, lebte der Paulanerpater Francesco Capponi im kleinen Kloster Santa Maria della Luce. Er kannte einige Juden persönlich, unter anderem einen mit dem Beinamen „Bovetto“, der bei den Beschneidungen den „Elias-Stuhl“ trug. Am 16. Oktober rettete der Ordensmann drei Juden vor der Gefangennahme. Manchmal beherbergte er jüdische Gäste vorübergehend in seinem Kloster. In einer Februarnacht im Jahre 1944 wurde das Kloster von Anhängern der Republik von Salò durchsucht. Der Oberleutnant sagte zu ihm: „Ihr versteckt hier Juden, die nicht nur Feinde des Vaterlands sind, sondern auch der Kirche. Wir haben Informationen erhalten, dass sie hier sind.“ Doch die Faschisten fanden sie nicht. Am Tag darauf kam einer von ihnen zu Capponi und bat ihn um Hilfe. Er wollte desertieren.56

Der längste Winter

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