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Komplexe Gastfreundlichkeit

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Auf ihrer Flucht begegneten viele Juden anderen bereits versteckten Juden und Nichtjuden. Viele Ordensgemeinschaften beteiligten sich wie die Franziskaner von San Bartolomeo am unterirdischen Treiben. Wir wollen zunächst bei den Franziskanerklöstern bleiben. In San Pietro in Montorio wurde der Jude Rinaldo Sacerdoti aufgenommen, der später zum Katholizismus konvertierte. Andere Juden wurden in der Kirche Santissime Stimmate di San Francesco an der Piazza Argentina versteckt. In San Bonaventura al Palatino brachte der Franziskaner Anselmo Padovani die Juden auf der Flucht anfangs in „Schlupfwinkeln“ zwischen den Ruinen des Palatins unter. Pater Anselmo war am 16. Oktober auf eine Gruppe junger festgenommener Juden gestoßen und hatte von ihnen eine Nachricht erhalten, die er an eine Person weiterleiten sollte, von der sie sich Hilfe erhofften.57 Später beschlossen die Brüder, in ihrem Kloster 34 Gäste aufzunehmen, darunter General Cremona von der italienischen Luftwaffe und einen sardischen Offizier, der später Abgeordneter der Kommunistischen Partei Italiens (PCI) im Parlament werden sollte. In San Bonaventura lebten etwa zehn Juden dauerhaft. Alle trugen die Franziskanerkutte. Darüber hinaus waren dort Soldaten aus der Militärstadt Cecchignola. Das größte Problem war, Lebensmittel für alle Gäste aufzutreiben. Die Franziskaner ersannen ein Alarmsystem mit zwei Wachtposten, um Durchsuchungen zuvorzukommen.

Im Jahre 1975 besuchte ich San Bonaventura. Die Ordensmänner erläuterten mir, dass man bei der Aufnahme von Gästen mit dem Lateran bzw. dem Seminario Romano kooperiert habe. Pater Illuminato Pacifici, der Superior, war sofort bereit, Schutzsuchende im Kloster aufzunehmen, einige seiner Mitbrüder waren jedoch dagegen; nur eine Minderheit unterstützte ihn.58 Es war keine leichte Entscheidung. Denn abgesehen vom Widerstand einiger Mitbrüder eröffneten sich dem Kloster im Zusammenleben mit Menschen, denen die monastische Welt häufig völlig fremd war, ganz neue Probleme.

In San Sebastiano, einem anderen Haus der Franziskaner, wurden General Mario Caracciolo di Feroleto und sein Sohn Francesco aufgenommen. Letzterer hatte den Wehrdienst verweigert. Die Erinnerungen des Generals gewähren einen Einblick in das Leben von einem Mann der Tat, der nun in einem Kloster eingesperrt war, in dem gerade einmal sechs Brüder lebten: „Wenn ich keine besonderen Verpflichtungen hatte“, so hielt er fest, „wurde ich in die beiden oberen Stockwerke des Klosters verbannt.“ Der Provinzial der Franziskaner bat ihn, bei den Mahlzeiten im Refektorium die Kutte zu tragen. Ein Bruder, Pater Damiano, führte ihn durch die nahegelegenen Katakomben, um ihm zu zeigen, wo er sich im Falle einer Durchsuchung verstecken konnte. In vielen Gemeinschaften war das Ordensgewand für die versteckten Menschen eine Art Schutzpanzer.

Der Fall Caracciolo zeigt, dass das Problem eines einzigen Familienmitgliedes die ganze Familie dazu zwingen konnte unterzutauchen. Auch Frau und Tochter des Generals mussten sich während der Zeit der deutschen Besatzung verstecken. Der General schilderte, wie seine Frau ihn in San Sebastiano besuchte und durch die Kirche ins Kloster kam, um mögliche Beschatter abzuschütteln. Mutter und Tochter lebten in zahlreichen Nonnenklöstern, wo sie häufig den Habit trugen. Zunächst waren sie bei den Schwestern des Sacro Cuore del Verbo Incarnato, wo jedoch ein Mädchen sie erkannte, das von den Schwestern eine kostenfreie Unterbringung beanspruchte. So mussten sie ihren Unterschlupf verlassen. Sie kamen in einem Kloster der Mantellate Serve di Maria in Monteverde unter. Dort verrichteten sie die gleichen Arbeiten wie die Nonnen. Giovanna Caracciolo Scotto erinnerte sich daran, dass dort auch Juden und eine deutsche Frau untergebracht waren, die mit einem Juden verheiratet war.59

Manchmal waren es die römischen Mitbürger, die die Juden in die Ordensinstitute brachten. Als Don Piccinini, der zur Gemeinschaft der Söhne der göttlichen Vorsehung gehörte und in der Pfarrei Ognissanti im Viertel Appio tätig war, eines Tages in sein Büro kam, wurde er dort von einer „Kinderschar“ empfangen: Es waren jüdische Kinder, die die Nachbarn gerettet hatten, als die Eltern von den Deutschen verhaftet wurden. Ein Elfjähriger namens Brunetto fragte ihn: „Wo komme ich denn jetzt hin?“ Piccinini brachte ihn ins Waisenhaus in der Via Induno in Trastevere. In all ihren drei Häusern in Rom nahmen die Söhne der göttlichen Vorsehung Juden auf. Das Interesse ihres Gründers für die Juden, des 1940 verstorbenen Don Luigi Orione, hatte die Gemeinschaft stark geprägt. Er hielt nach den Rassengesetzen „das Leben [für die Juden] hier für moralisch unmöglich“. Aus dieser Überzeugung heraus engagierten sie sich für die Juden.60 Allein wegen der spirituellen und sozialen Ausrichtung ihrer Gemeinschaft konnten die Söhne der göttlichen Vorsehung die unzähligen Menschen, die an ihre Türen klopften, nicht wegschicken.

Dass nichtitalienische Institute sich hingegen eher zurückhaltend verhielten, mag nachvollziehbarer erscheinen. Viele Ordensleute „feindlicher“ Nationalitäten hatten beschlossen, in der italienischen Hauptstadt zu bleiben, auch wenn sie ständigen Kontrollen unterworfen waren. Eine Einrichtung wie das Päpstliche Französische Priesterseminar, in dem keine Seminaristen aus Frankreich mehr wohnten, war aber zum Beispiel im Untergrund aktiv. Es befand sich im Zentrum Roms, unweit des Ghettos. Der Spiritanerpater François Monnier, der seit 1939 dort Rektor war, gewährte den Schutzsuchenden (und auch einigen evakuierten Ordensleuten) Asyl.61 Für den Fall einer Durchsuchung hatte man einen Plan ausgefeilt, nach dem sich die Gäste des Seminars zu verstecken hatten. In der Chronik entdeckte man einen interessanten Eintrag vom 5. Juni 1944:

[…] das Seminar versteckte während dieser acht Monate etwa 100 Personen außerhalb des Gesetzes. Nach Oktober hatten wir immer zwischen 30 und 40 Personen im Haus. Es fing an mit einem belgischen Hauptmann […] dann kamen italienische Offiziere und Soldaten, die sich dagegen weigerten, an der Seite der Deutschen zu kämpfen, zahlreiche Juden (insgesamt etwa 50). Im November und Dezember hatten wir neun Offiziere der englischen und amerikanischen Luftwaffe; doch vor Weihnachten verständigte man uns, dass wir durchsucht werden würden: Das Haus wurde in Eile geleert.62

Schon vor dem 16. Oktober waren Juden im Seminar untergekommen. Dies war in vielen Einrichtungen Roms der Fall, die Mehrheit der Juden kam jedoch erst später. Im Archiv des Französischen Priesterseminars gibt es eine Auflistung der 50 beherbergten Juden und der von ihnen bezahlten Rechnungen. Daraus geht hervor, dass fünf von 22 (die Auflistung der Zahlenden ist unvollständig) vor dem 8. September, zwei vor dem 16. Oktober und der Rest danach kamen. Am Tag der Befreiung versteckte das Institut noch etwa 40 Gäste, darunter 25 Juden, einen amerikanischen Hauptmann, sechs junge Franzosen und ein paar Italiener.

Seit dem 25. September 1943 durften das Französische Priesterseminar sowie ein paar Ordenshäuser in Rom am Eingang des Gebäudes einen Aushang anbringen, der vom Gouverneur der Vatikanstadt, Marchese Camillo Serafini, unterzeichnet war. Damit wurde bescheinigt, dass „das Päpstliche Französische Priesterseminar, Via Santa Chiara 42, der Heiligen Kongregation für die Seminare und die Studieneinrichtungen untersteht und als solches ohne vorherige Absprache mit den kirchlichen Oberen besagter Kongregation nicht durchsucht werden darf“. Der von Serafini unterschriebene italienische Text war außerdem in deutscher Übersetzung von General Rainer Stahel, dem Stadtkommandanten von Rom, gegengezeichnet.

Auch eine französische Ordensgemeinschaft wurde zur Anlaufstelle für viele Hilfesuchende: Die Sionsschwestern hatten ein Haus auf dem Gianicolo, das in unmittelbarer Nähe des Ghettos und anderer Stadtteile lag, in denen viele Juden wohnten. Aus einem Bericht der Schwestern geht hervor, dass kurz nach den Kämpfen um Rom im September 1943 ein Marineoffizier um Unterschlupf bat und von den Schwestern als Gärtner angestellt wurde. Binnen weniger Tage kamen andere Offiziere dazu, darunter ein General der Luftwaffe. Im Haus der Schwestern auf dem Gianicolo fanden mehr Juden Unterschlupf als in allen anderen Ordensgemeinschaften Roms, teils sicherlich wegen der besonderen Courage der Schwestern, teils aber auch wegen der räumlichen Möglichkeiten im Haus auf dem Gianicolo. Wahrscheinlich war es insgesamt der grundlegende Geist der Gemeinschaft, der die Sionsschwestern dazu antrieb, tätig zu werden: Schließlich waren sie gegründet worden, um sich für die Juden einzusetzen.

Nach dem 16. Oktober, so liest man in einem Bericht der Schwestern, „kamen ganze jüdische Familien, verängstigt und verzweifelt, um unsere Mutter Oberin auf Knien zu bitten, ihnen Unterschlupf zu gewähren“. Bis zu 180 Personen konnten im Haus, in den Gewächshäusern im Garten, ja überall untergebracht werden.63 Die Schwestern glaubten damals wie viele andere Römer auch, dass die Gäste nur ein paar Tage bleiben würden, doch irgendwann mussten sie feststellen, dass die Lage sich immer mehr zuspitzte. Was blieb ihnen übrig, als genauso weiterzumachen? Nach dem 8. September und besonders nach dem 16. Oktober nahm der Andrang zu. Nicht nur die Juden, sondern ein ganzer Teil der Bevölkerung war auf der Suche nach einem Versteck.

Einzelne Ordensobere beschlossen also, in ihren Einrichtungen Menschen in Not aufzunehmen. Doch eine Frage stellt man sich immer wieder: Gab es eine Weisung vom Heiligen Stuhl? In den Jahren 1975 und 1976 befragte ich im Rahmen meiner Forschungen zu dem Thema ein paar Ordensleute, die die Besatzung selbst miterlebt hatten und damals noch lebten. Sie alle fragte ich nach einer Weisung des Heiligen Stuhls und des Papstes. Ein Jahrzehnt zuvor war die Debatte um das „Schweigen“ Pius XII. entbrannt; daher war die Frage nach der Rolle, die der Papst dabei gespielt hatte, natürlich überaus interessant. War das mutige Engagement im Untergrund dem guten Willen der Oberen und der Ordensleute zuzuschreiben oder hatten sie auf Anweisung des Papstes und des Heiligen Stuhls gehandelt?

Obwohl alle Befragten antworteten, dass es keine schriftliche Weisung gegeben habe, betonten sie einmütig, dass sie dem Wunsch, ja sogar dem Willen des Papstes entsprochen hätten. Der Papst wollte, dass man gute Taten vollbrachte. Viele Signale, Aufforderungen und Unterstützungen hätten klar darauf hingedeutet, dass der Papst und seine Mitarbeiter wollten, dass Flüchtlinge aufgenommen wurden. In den Jahren 1975/76 waren viele Ordensleute empört über die Anschuldigungen gegen Pius XII. Sie sagten, der Papst habe den Einsatz im Untergrund gewollt und sie materiell unterstützt. Doch um das in den neun Monaten der Besatzung Erlebte sowie auch die Haltung der Kirche besser zu verstehen, darf man seinen Blick nicht bloß auf eine Weisung des Heiligen Stuhls oder Pius’ XII. richten. Vielmehr muss man die Geduld aufbringen, das Geschehene in seiner ganzen Vielschichtigkeit zu betrachten: als ein Mosaik aus vielen und vielleicht weniger bedeutsamen Geschichten von Frauen, Männern und Gemeinschaften. Nicht immer ist es einfach, sie aus der Vergessenheit zurückzuholen und nicht immer kann man auf umfangreiches Material zurückgreifen.

Die Pfade, die wir auf diesen Seiten betreten, führen uns zu vielen Ordensleuten und ihren Entscheidungen und Geschichten, die wir näher kennenlernen wollen. Natürlich müssen wir uns fragen, ob es sich um einen freiwilligen humanitären Einsatz angesichts einer großen Tragödie oder um die Befolgung des ausdrücklichen Willens des Heiligen Stuhls handelte. Die Welt der Kirche ist in ihrer gelebten Vielschichtigkeit jedoch niemals ganz einfach. In jenen schwierigen Monaten waren die Wege des Lebens in der besetzten Stadt besonders unübersichtlich. Aufgrund des Wertes, den sie an sich und für die Erkenntnis der gesamten Welt des Leidens haben, in die sie uns führen, wollen wir uns auf das Abenteuer begeben, diesen Wegen ohne jede Simplifizierung zu folgen.

Der längste Winter

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