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Zwischen Vatikan und Lateran

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Während der Zeit der Besatzung und auch nach dem Zweiten Weltkrieg wurde deutlich, dass Mons. Ronca ein außergewöhnlicher Kirchenmann war. Er hatte ein Gespür für den Reiz von Aktionen, die außerhalb des klassischen kirchlichen Rahmens lagen. Bei unserem Treffen im Jahre 1976 betonte er, er sei fest davon überzeugt, dass der Papst über sein heimliches Engagement Bescheid gewusst habe. Seiner Meinung nach hätten das Staatssekretariat und Substitut Montini sein Werk gefördert. Dass er als Bischof den damaligen Substituten, der zum Zeitpunkt unseres Gesprächs Papst war, recht negativ beurteilte, wunderte mich zunächst. Erst später konnte ich dem Konflikt auf den Grund gehen, der nach dem Krieg zwischen Ronca und Montini entstanden war.

Doch die Dokumente, die ich kürzlich sehen konnte und die nur teilweise veröffentlicht sind, bieten einen ganz neuen Einblick in das Verhältnis zwischen dem Rektor und seinen kirchlichen Vorgesetzten: dem Kardinalvikar Marchetti Selvaggiani, der die Jurisdiktion über das Seminar hatte, dem Substituten und seinen Mitarbeitern, den Laien wie Carlo Pacelli und Enrico Galeazzi als Vertreter der Verwaltung der Vatikanstadt (die überdies enge Vertraute Pius’ XII. waren und jeden Abend mit ihm zusammenkamen) und vielen anderen Personen. Das Verhältnis zwischen dem Lateran und dem Vatikan war etwas kompliziert. Ronca war maßgeblich für den humanitären Einsatz im Lateran verantwortlich. Doch seine Vorgesetzten und verschiedene Personen der Kirche forderten ihn auch dazu auf, aktiv zu werden. In einer von Ronca verfassten Notiz, die in den Akten des Seminars liegt, heißt es: „Vor dem Eintritt Jannellis (1. Oktober 1943) wurde keiner aufgenommen. Zu dessen Aufnahme kam es, weil Seine Eminenz (Marchetti) und Seine Exzellenz mich dazu aufforderten, nachdem Carlo Pacelli ihn Seiner Exzellenz Mons. Traglia empfohlen hatte.“ Ettore Jannelli wurde auf Anweisung Marchettis und Traglias und auf Wunsch des Neffen des Papstes als Seminarist aufgenommen, auch wenn der Rektor notierte, dass er sich dessen Berufung nicht sicher war. Und man übte weiterhin Druck auf den Rektor aus. Man stellte ihm einen gewissen Tenerini vor:

Nach einer Prüfung des jungen Tenerini wird festgestellt, dass seine Berufung zum Priestertum noch nicht sicher ist, und ihm wird angeraten, nicht ins Seminar zu kommen. Nach Rücksprache mit Seiner Exz. [oder Em.] teilt mir sein Vater mit, ich sollte seinen Sohn im Seminar aufnehmen. Ich sehe ein, dass durch die Weisungen der Vorgesetzten den Bedürftigen auf bestmögliche Weise geholfen werden soll. Ich willige toto corde ein. Bekundung dieser meiner herzlichen Einwilligung gegenüber dem Sekretär von Mons. Montini.25

Die ersten Hinweise überzeugten Ronca davon, dass im Seminar Asyl gewährt werden sollte – auch wenn er deshalb die Reihen der Seminaristen nicht mit falschen Anwärtern auf das Priesteramt anfüllen wollte. Am 19. Oktober 1943 erreichte Ronca die Bitte um Aufnahme vierer Personen, die der damalige Privatsekretär des Substituten, Don Clarizio, zuerst dem Kardinalvikar und dann ihm vorstellte. Der Kardinalvikar und der Substitut forderten einstimmig, sie im Seminar aufzunehmen. Die Zahl der Anfragen stieg. Ronca notierte, er habe Personen aufgenommen, die von Mitarbeitern des Seminars vorgestellt worden waren, „von denen mehr Einsatz und Verschwiegenheit gefordert war“. Aus den Notizen des Rektors geht hervor, dass kurz vor dem 23. Oktober hohe Persönlichkeiten bei ihm vorsprachen: Fürst Carlo Pacelli, der um Unterschlupf für zwei Personen bat, ein Vertreter des Staatssekretariats und der Ingenieur Nicolosi (ein Architekt der Dombauhütte von Sankt Peter), der sich für einen Freund von Graf Galeazzi starkmachte.

Irgendwann bedeutete ihm Kardinal Marchetti Selvaggiani, so hielt Ronca fest (das genaue Datum ist nicht bekannt), dass Offiziere nicht mehr aufgenommen werden sollten. Es war der Papst, der, wie wir später sehen werden, befürchtete, dass die Aufnahme von Soldaten die Neutralität des Heiligen Stuhls in Gefahr bringen könnte. Ronca wollte Klarheit. Als Priester und Kenner der Vorgänge im Vatikan wusste er, dass für politische Fragen das Staatssekretariat zuständig war. Dort würde man ihm klar und deutlich mitteilen, was der Wille des Papstes war. Daher traf er am 23. Oktober Kardinalstaatssekretär Luigi Maglione, den höchsten vatikanischen Würdenträger und maßgeblichen Vermittler der, wie es im vatikanischen Sprachgebrauch heißt, „mente“, der Meinung des Papstes. Dass der Kardinalstaatssekretär den Rektor des Seminario Romano empfing, war keinesfalls etwas Alltägliches; die Angelegenheit war also wichtig. Ronca notierte danach: „Er versichert mir, dass der Heilige Vater die Aufnahme von ein paar Flüchtlingen befürwortet […]“26 Wie es scheint, war unter ihnen auch ein Soldat.

Dabei hatte doch noch kurz zuvor Marchetti, Roncas direkter Vorgesetzter, die Anweisung gegeben, keine Soldaten mehr aufzunehmen. Kardinal Maglione aber sprach im Namen des Papstes. Noch am gleichen Tag, an dem er wahrscheinlich direkt im Vatikan blieb, traf Ronca mit Carlo Pacelli zusammen, „den ich darum bitte, förmlich mit Seiner Eminenz dem Kardinalvikar über die Flüchtlinge zu sprechen [hier gestrichen: ‚da er mein Vorgesetzter ist ‘]“. Der Rektor wurde so zum Überbringer eines offiziellen Gesuchs; die vatikanische Obrigkeit musste nun Kardinal Marchetti darüber informieren, wie man mit den Flüchtlingen verfahren wollte. Das Engagement des Vatikans für die Hilfsbedürftigen traf sich hier mit dem Roncas. Die Verantwortung lag zwar bei ihm, die Entscheidung jedoch häufig nicht.

Mit der Zeit ergab es sich so, dass man die aufgenommenen Gäste nicht mehr als Seminaristen oder Priester ausgab. Laut einer handschriftlichen Notiz Roncas gingen nach dem 23. Oktober diverse Anfragen ein, darunter die des Fürsten Marcantonio Colonna. Am 28. Oktober erhielt er ein Schreiben von Kardinal Massimo Massimi, der die Anfrage der Familie des jüdischen Ingenieurs Olivetti an ihn weiterleitete und befürwortete. Olivetti war ein Neffe des bereits im Seminar versteckten Professor ALmagiä. In diesem Schreiben wurde Ronca unter anderem darum gebeten, dem Professor mitzuteilen, dass zwei seiner Neffen gerade im „Istituto Maria Bambina“ in der Nähe des Vatikans aufgenommen worden seien. In dieser Phase kam es, so Ronca, zu „zahlreichen Aufnahmen neuer Gäste auf Empfehlung von verschiedenen Personen aus der Vatikanstadt, die zu meiner Verwunderung über die Hilfe für die Flüchtlinge bereits auf dem Laufenden waren“.

Das, was im Lateran passierte, war also kein Geheimnis. Im Vatikan sprach man darüber. Dies beunruhigte Ronca, da er stets Diskretion verlangt hatte. Doch in der ganzen Welt der Kirche ging das Gerücht um, dass man sich im Lateran um Flüchtlinge kümmerte. Auch in den Ordensgemeinschaften redete man darüber, was im Untergrund passierte. Ein Novize der Barmherzigen Brüder erzählte, dass „der Pater Novizenmeister uns sagte, dass viele Nonnenklöster in der Umgebung so viel Gutes für die Juden taten, besonders die Maestre Pie Filippini […]“27 Dass sich eine päpstliche Einrichtung wie der Lateran engagierte, spornte viele Ordensleute dazu an, es ihr gleichzutun. Mons. Antonazzi notierte am 9. Januar 1944 in seinem Tagebuch, dass „man in vatikanischen Kreisen hört, dort unten [im Lateran] seien hohe politische Tiere“. Im gleichen Eintrag gab er das Gerücht wieder, wonach die Polizei den Laterankomplex aufgesucht habe; dort habe man aber nicht aufgemacht, woraufhin die Polizisten wieder gegangen seien.28

Dadurch, dass nunmehr bekannt war, was im Lateran geschah, stieg die Anzahl der Gesuche um Asyl. Und es wurde dadurch auch gefährlich. Denn der Vatikan war von faschistischen Informanten durchsetzt; gleichzeitig versuchten die Deutschen, Nachrichten abzufangen. Konnten Besatzer oder Faschisten Wind vom Engagement im Untergrund bekommen haben? Die – leider allgemein nicht datierten – Aufzeichnungen des Rektors zeugen davon, dass er Angst hatte. Ronca war voller Tatendrang, aber er handelte nicht unüberlegt. So suchte er den Substituten des Staatssekretariats auf, um sich bestätigen zu lassen, was ihm Maglione gesagt hatte: „Unterredung mit Mons. Montini, bei der ich mündlich die Namen der Flüchtlinge aufzähle. Allgemeine Erklärung Seiner Exzellenz zur Vorbereitung einer solchen Aktion.“29 Er stand weiterhin in Kontakt mit Kardinal Marchetti: „Seine Eminenz der Kardinalvikar, dem ich die Entscheidung mitteile, sagt mir, ich solle all das, was die Vorgesetzten verlangen, beruhigt tun.“ Marchetti Selvaggiani willigte also ein – und hatte zudem eine weitere Anfrage: „ein junger Offizier […] von einer anderen purpurtragenden Eminenz.“ Hatte er ihm nicht kurz zuvor mitgeteilt, man solle besser keine Soldaten aufnehmen? Der Kurs hatte sich also geändert.

Ronca versuchte, das Staatssekretariat immer stärker auf dem Laufenden zu halten. Vor allem aber war er davon überzeugt, dass es sich bei der Aufnahme prominenter Personen nicht bloß um einen humanitären Einsatz handelte, sondern dass in dem Fall auch die vatikanische Neutralität eine Rolle spielte. So notierte er: „Danach nahmen wir keine renommierte Person mehr auf, ohne zuvor das Staatssekretariat davon in Kenntnis zu setzen.“ In jenen Monaten belastete den Rektor nicht nur seine eigene, durchaus aufreibende Aufgabe als Leiter einer Maschinerie im Untergrund, sondern auch eine gewisse Unsicherheit hinsichtlich des Kurses, den der Heilige Stuhl fuhr. Doch einen Besuch Montinis im Seminar verstand er als eine unmissverständliche Rückendeckung, zumal der Substitut keinen anderen Grund hatte, um ins Seminar zu kommen: „Besuch Seiner Exzellenz Mons. Montini im mittleren Flügel des Gebäudes […] Gespräch mit selbigen zu verschiedenen anhaftenden Problemen.“

Mit Galeazzi, dem Sondergesandten der Kommission für den Staat der Vatikanstadt, sprach der Rektor danach über organisatorische Probleme und über die wirtschaftliche und alimentäre Situation jener neu entstandenen Gemeinschaft. Mit diesem Laien aus dem Vatikan redete er auch über eine technische Frage, die das Leben im Untergrund betraf: die Herrichtung eines Schutzraums, in dem sich die Gäste im Falle eines Überfalls verstecken konnten. Bis dahin war Ronca bei seinem Hilfseinsatz, zu dem er selbst sich entschlossen hatte, der von verschiedenen Geistlichen gefördert und von offiziellen Instanzen unterstützt wurde, auf keine gravierenden Hindernisse gestoßen. Fast täglich war der Rektor im Vatikan, um zumindest Marchetti auf dem Laufenden zu halten, der in einer Wohnung im Palazzo del Sant’Uffizio wohnte.

Im Dezember 1943 geriet Roncas Einsatz jedoch in die Kritik. Der Rektor hatte das Gefühl, dass der Einfluss des Kardinalvikars und der rege Kontakt mit dem Staatssekretariat ihm nicht ausreichend Deckung gaben. Warum genau er so empfand, ist nicht bekannt. Bekannt ist aber, dass es im Vatikan nicht alle gerne sahen, dass die Neutralität des Heiligen Stuhls durch das Engagement im Untergrund aufs Spiel gesetzt wurde. Ronca beschloss, sich an seinen obersten Vorgesetzten zu wenden: den Papst. Am 11. Dezember entschuldigte er sich in einem direkt an ihn adressierten Brief dafür, „auf jenen Sorgenberg, der in diesen Tagen auf dem väterlichen Herzen Seiner Heiligkeit lastet, weiteren großen Kummer geladen“ zu haben. Er spielte auf seinen Einsatz zugunsten der Verfolgten an. Ronca hatte erfahren, dass dem Papst etwas missfallen hatte. Er wollte dem Heiligen Vater allerdings erklären, warum er geglaubt hatte, der Papst sei mit seinem Handeln einverstanden:

Ich habe geglaubt, es liege Eurer Heiligkeit am Herzen, dass unter höchstem Stillschweigen und unter Vorsicht und Geheimhaltung in Eurem Seminar ein paar jener armen Unglückseligen aufgenommen würden, die in den heute wütenden Sturm geraten sind. Dazu veranlassten mich Gespräche mit Prälaten des Staatssekretariats sowie mit jenen angesehenen Personen, die mir die Flüchtlinge vorstellten und empfahlen, die ich im Seminar aufnehmen sollte. Die erste Gruppe von Flüchtlingen, die Eure Heiligkeit mir zu schicken geneigt war, war für mich wegweisend. Die Gruppe wuchs, doch ich habe geglaubt, nicht bei jedem einzelnen Fall die höchste Verantwortung Eurer Heiligkeit mit einbeziehen zu müssen, sondern mehrere Male ließ ich nicht nur dem damals erkrankten Herrn Kardinalvikar, sondern auch Personen, die Eurer Heiligkeit nahestehen, Nachrichten und Namen der Flüchtlinge zukommen, denen das Seminar half. Heiliger Vater, bei einem so delikaten Werk mag ich verfehlt haben, doch empfangen Sie den Ausdruck meiner priesterlichen Ergebenheit gegenüber dem Vikar Jesu Christi, allzeit bereit, jedwede Anweisung zu befolgen, die die Güte Eures Herzens mir zu geben geneigt ist […]30

Ronca drückte sich ganz klar aus: Bei der ersten Gruppe von Flüchtlingen hatte man ihm gesagt, der Papst schicke sie, andere wurden von hohen Persönlichkeiten empfohlen; schließlich hatte er selbst den Kardinalvikar, das Staatssekretariat und Personen aus dem Umfeld des Papstes (eine Anspielung an dessen Neffen und an Galeazzi) in Kenntnis gesetzt. Dann war die Schar der Flüchtlinge gewachsen und der Rektor hatte es nicht für nötig gehalten, den Papst direkt um Erlaubnis zu bitten. Nebenbei gesagt leuchtet auch nicht ein, warum sich ein Rektor, wenn auch der einer so wichtigen Einrichtung wie dem Seminario Romano, wegen einer derartigen Frage direkt an den Papst wenden sollte. Im Brief an den Papst bildete Ronca den Rahmen ab, innerhalb dessen sich der Hilfseinsatz im Lateran entwickelt hatte: an einem Knotenpunkt zwischen dem Willen des Vatikans und der Initiative des von unzähligen Anfragen heimgesuchten Rektors.

In seinem unverkennbaren Romanesco, dem Stadtdialekt Roms, erklärte Mons. Luigi Traglia: „Bei all den Schwierigkeiten unternahm das Seminario Romano sehr viel. Aber es gibt Dinge, über die kann man nicht schreiben. Denn irgendwann bekam Papst Pius XII. auf einmal große Angst […] Er wurde wütend und zu Recht, denn dort hatten sie alle unter falschen Namen versteckt.“ Und über Ronca sagte er:

Denn er holte sich vom Papst einen Anpfiff; der Papst war beunruhigt. Und dann muss es am Tag danach gewesen sein, zwei Tage vor den Weihnachtsgrüßen. Ronca fragte mich: ‚Was soll ich tun?‘ – ‚Geh nicht hin, wer weiß, was der Papst sonst …‘ Und tatsächlich ging er nicht hin. Der Papst fragte: ‚Und Monsignore Ronca?‘ – ‚Nein, er ist nicht da‘, und so war es dann. Er ließ das Ganze ein bisschen herunterkochen, was sollte er sonst tun … Na, ein paar Dinge waren vielleicht etwas gewagt. Der Papst hatte Recht, weil es auf seinem Gebiet geschah, weil der Lateran ja eben päpstliches Gebiet ist.

Über den Kardinalvikar, Marchetti Selvaggiani, sagte Traglia:

[Er] hatte sich manchmal, und manchmal auch der Papst, beschwert, dass sie im Grunde genommen die von den Faschisten gegen die Faschisten erteilten Privilegien genutzt hatten […] Zum Beispiel gab es dort im Lateran ein Gerät, ein Funkgerät, und das durfte man einfach nicht, denn es war verboten […] ein Funkgerät, um denen von der so genannten Resistenza Anweisungen zu geben […] Außerdem war das nicht gemäß der Neutralität und darin war der Papst ein bisschen … Der Kardinal meinte, es war mangelnde Loyalität […] Im Lateran, gerade im Lateran. Und das war nicht richtig.31

Es sieht so aus, als hätten die Einwände gegen das Engagement im Lateran dem politischen Aspekt und der Resistenza gegolten, auch wenn weiterhin unklar ist, was genau die Krise im Dezember hervorrief. Nach dem 15. Dezember, also nach dem Brief Roncas an Pius XII., erbat der Vatikan eine Liste der Gäste, unter Angabe des „richtigen Namens, des falschen Namens und ob im Priestergewand“. Der Rektor reichte nur die Liste mit den richtigen Namen ein; daraufhin bat man erneut um die Liste mit den falschen Namen und der Auskunft zum Priestergewand. Am 16. Dezember übergab er Montini schließlich die Liste mit den richtigen und den falschen Namen sowie dem Hinweis zum Priestergewand. Und er fügte eine handschriftliche Mitteilung bei (unklar ist, ob bei der Gelegenheit oder einer anderen): „Ich habe die falschen Namen genannt, weil man mich darum gebeten hat; ich habe die Arbeit erledigt – trotz meines Widerwillens – weil ich glaubte, dass dies die Anweisung war.“ Der Vorschlag, falsche Namen zu verwenden, war überdies von den Gästen ausgegangen. Ronca war fest davon überzeugt, dass er auch den Weisungen entsprochen hatte, als er den Gästen das Priestergewand angeboten hatte: „Die ersten Personen, die ins Seminar gebracht wurden und das Priestergewand erhielten, wurden von einer Person vorgestellt, von der wir, weil sie dem Staatssekretariat recht nahe steht, glaubten, dass sie über die Wünsche des Heiligen Vaters auf dem Laufenden war.“ In der Tat hatte man die ersten Flüchtlinge unter den Seminaristen untergebracht. Laut Ronca trugen niemals mehr als 25 versteckte Personen den Talar. Wie gesagt baten ein paar der Flüchtlinge den Rektor darum, ihnen vatikanische Dokumente zu beschaffen; doch dieser ließ die Sache im Sande verlaufen.

Dass Ronca unter Druck stand, ist nur verständlich. Er musste eine komplexe Organisationsmaschinerie in Gang und geheim halten und hatte mit verschiedenen Problemen zu kämpfen: Er musste sich um die Aufnahme der Personen, um ihre Verpflegung und die Organisation ihres Alltagslebens kümmern. Darüber hinaus war er weiterhin Rektor des Priesterseminars mit all den damit verbundenen Verpflichtungen. Doch vielleicht sorgte er sich nicht nur darum, den Einsatz in Gang und geheim zu halten, sondern auch darüber, was der Vatikan wollte. Aufforderungen gingen bei ihm ein, man übte Druck auf ihn aus; auch das Staatssekretariat war für die Aufnahme von Schutzsuchenden. Doch was wollte der Papst? Nach einer Phase der Unklarheit glaubte Ronca irgendwann endlich, dessen Willen zu verstehen. Auf demselben Blatt, auf dem die Anfrage des Staatssekretariats nach den Listen festgehalten wurde, steht: „Don Clarizio. Telefonat: Altissimus apposuit manus super omnia. Mündlich fügt man hinzu, dass ich dennoch einige auf eigene Initiative aufnehmen kann.“ Clarizio, der Privatsekretär des Substituten Montini, übermittelte ihm die Einwilligung des Papstes und gab ihm eine gewisse Handlungsfreiheit.

Irgendwann zwischen Ende 1943 und Anfang 1944 also gelangte Ronca zu der Überzeugung, dass Pius XII. das, was er da tat, unterstützte. Doch in der Nacht vom 21. auf den 22. Dezember 1943 überfiel die „Banda Koch“ das Lombardische Priesterseminar und andere anliegende Gebäude und entdeckte dort eine Reihe von Flüchtlingen. Es handelte sich dabei nicht um einen exterritorialen Komplex, aber dennoch um Gebäude, die durch die Lateranverträge das Privileg der Befreiung von Enteignung und Besteuerung genossen. Der Überfall war ein schwerer Schlag. Den Gegnern des heimlichen Engagements gab er Aufwind. Sie befürchteten, dass durch die Beherbergung von Flüchtlingen die Neutralität des Vatikans aufs Spiel gesetzt wurde. Für manche Einrichtungen war es eine kritische Phase; das Lombardische Priesterseminar beispielsweise musste sich von seinen Gästen trennen.

Doch in seiner Weihnachtsbotschaft nannte der Papst die Dinge beim Namen. So empfanden es zumindest viele, die sich für Asyl- und Hilfesuchende einsetzten. In seiner Ansprache gestand Pius XII., dass er und die Kirche angesichts der grausamen Kriegslogik ohnmächtig waren. Doch er erklärte, dass die Kirche zwei Dinge vollbringen wollte und konnte: den Trost des Glaubens verkünden und, wie der Papst es formulierte: „Wir haben alles getan, was in unserer materiellen und geistigen Macht steht, und werden auch weiterhin alles tun, um die betrüblichen Folgen des Krieges für die Gefangenen, die Verwundeten, die Verschollenen, die Umherstreunenden, die Bedürftigen, für alle Leidenden und Geplagten jeder Sprache und Nation zu lindern.“32

Diese Ansprache beeindruckte viele Priester, die sich um all die „Verschollenen“, „Bedürftigen“, „Umherstreunenden“ und „Geplagten“ kümmerten, die sich an sie wandten. Bedeutsam war vor allem, dass der Papst von „Umherstreunenden“ sprach. Heute, so viele Jahre später, ist es schwierig, die Wirkung dieser Worte zu fassen. Doch in einer Zeit des Krieges, in der es keine Zukunftsperspektiven gab, hörten viele Katholiken mit großem Interesse zu, wenn im Radio die Weihnachtsbotschaften des Papstes übertragen wurden. Ronca notierte nach der Ansprache in Bezug auf sein Handeln: „Bedenken: 1) Man geht anders vor, wenn man nicht weiß, was die Vorgesetzten über die mögliche Entwicklung der Situation denken. 2) Nach der Weihnachtsbotschaft zum barmherzigen Engagement der Kirche für die Umherstreunenden besteht kein Zweifel mehr daran, dass die Priester im Rahmen ihrer eigenen Möglichkeiten all diejenigen unter ihre sanften Fittiche nehmen müssen, die sie um Hilfe bitten, und dann übernimmt die Kirche den Schutz vollumfänglich, auch wenn damit Risiken verbunden sind.“33

Bezeichnenderweise schrieb Ronca am 3. Januar erneut an den Papst, um ihm für eine Ration Getreide zu danken, die das Seminar erhalten hatte. Die Spende sah er als Unterstützung des von ihm geleiteten Engagements. Der Rektor schrieb: „Die Bedeutung und die Kostbarkeit leuchteten uns sofort ein.“ Er bekundete dem Papst „unsere Dankbarkeit durch eine greifbare Umsetzung oder besser durch eine immer sorgfältigere Umsetzung des Auftrags der Nächstenliebe, den Eure Heiligkeit in jedem Gebiet erteilt“. Das Engagement im Untergrund war Teil des päpstlichen Aufrufs zur Nächstenliebe.

Der längste Winter

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