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Eine Maschinerie im Untergrund
ОглавлениеDer junge Tagliacozzo war im Herzen der größten kirchlichen Hilfsorganisation Roms angekommen, die sich für die verschiedenen Menschen einsetzte, die von den Nazis und den Faschisten verfolgt wurden. Die Schaltzentrale dieser Maschinerie lag hinter der päpstlichen Kathedrale, der Basilika San Giovanni in Laterano, und stand unter der Leitung von Mons. Roberto Ronca, dem Rektor des Seminars. Sie operierte unter dem Schutzmantel der Exterritorialität, der sich über den Laterankomplex erstreckt. Dieser umfasst den heutigen Palazzo del Vicariato (in dem damals ein Museum war), wo 1929 die berühmten Lateranverträge unterzeichnet wurden, das Seminario Romano, die Lateranuniversität, den Palazzo dei Canonici, die Residenz der Bußkanoniker der Basilika und andere kleinere angrenzende Gebäude. Der Lateran ist eine jener vatikanischen Inseln in Rom, die zum Staat der Vatikanstadt gehören und unter der Souveränität des Papstes stehen. Der Großteil der kirchlichen und klösterlichen Gebäude Roms gehört nämlich nicht zum Vatikan, sondern liegt auf italienischem Staatsgebiet (sie sind also im Besitz der Kirche und ihrer Einrichtungen oder im Besitz des Staates, aber in Verwendung durch religiöse Träger).
Im Lateran entstand die größte Hilfsorganisation der Kirche Roms im Untergrund. Von 200 Personen wissen wir mit Sicherheit, dass sie dauerhaft im Seminario Romano untergebracht waren. Unter ihnen waren nicht nur Juden und Verweigerer des Wehrdienstes der Republik von Salò, sondern auch Mitglieder des „Comitato di Liberazione Nazionale“ (Komitee der Nationalen Befreiung, CLN), ja im Grunde genommen, außer den Kommunisten und Aktionären, das ganze Komitee. Darüber hinaus wohnten dort der Stadtkommandant Roms, General Roberto Bencivenga, Männer der königlichen Streitkräfte sowie einige Staatsdiener, die der Regierung im Norden nicht folgen wollten. Wegen der hohen Anzahl an Gästen und aufgrund des ganz besonderen Charakters dieser „Wohngemeinschaft“ aus sehr unterschiedlichen Personen ist der Hilfseinsatz im Lateran auf einer anderen Ebene zu verorten als der anderer kirchlicher Institutionen in Rom.
Schon vor einigen Jahren durfte ich diesen Hilfseinsatz im Lateran und seine Protagonisten kennenlernen. Im Jahre 1975, als ich mich zum ersten Mal mit der Aufnahme Schutzsuchender im römischen Untergrund befasste12, wurde ich auf das aufmerksam, was damals im Lateran passiert war. ElioVenier hatte dazu bereits etwas veröffentlicht, doch das war nur wenigen bekannt. Die Hauptakteure selbst brannten nicht sonderlich darauf, sich an die Ereignisse zu erinnern. Alle, die im Lateran eine entscheidende Rolle gespielt hatten, waren zu der Zeit noch am Leben, sodass ich die Möglichkeit hatte, mit ihnen zu sprechen. Mons. Filippo Caraffa, der damalige Vizerektor des Seminars und enge Mitarbeiter Roncas, gab mir die meisten Auskünfte. Er lebte damals im Laterankomplex und unterrichtete Hagiographie an der Lateranuniversität. Wie Ronca hatte der Mediävist sich nach dem Zweiten Weltkrieg auf ein politisches Abenteuer begeben, dabei den Charakter eines feinen und herzlichen Intellektuellen aber nie verloren. Er brachte mich mit anderen Protagonisten, unter anderem mit Ronca, Palazzini und Righini, zusammen, die mir ein paar Teile des großen Puzzles geben konnten oder mich auf Dokumente hinwiesen. In kirchlichen Kreisen genossen diese Männer aufgrund ihres Engagements während des Krieges kein sonderlich hohes Ansehen. Wenn sie sich an jene Zeit erinnerten, überhöhten sie sie nicht, sondern empfanden vielmehr sogar ein bisschen Bitterkeit. Caraffa führte mich außerdem zu den Orten, an denen sich das Leben im Untergrund abgespielt hatte.13
An dieser Stelle muss gesagt werden, dass es zu den Aktivitäten im Untergrund nur wenige Dokumente gibt. Keiner wollte damals Beweismaterial liefern, das den Faschisten oder den Deutschen in die Hände hätte fallen können. Dies teilte mir jeder der Beteiligten mit. Pietro Kardinal Palazzini betonte bei einer Gedenkfeier anlässlich des zehnten Todestages Roncas: „Es ist nicht leicht, die Geschichte jener Zeit wieder zusammenzufügen: Geschichte wird auf der Grundlage von Dokumenten gemacht. Doch Register zu füllen und Tagebuch zu führen, gehörte damals nicht zu den Aufgaben derer, die karitativ aktiv waren. Jedes Dokument, das in die Hände der Besatzer gelangte, konnte eine Gefahr für die Flüchtlinge darstellen.“
Dann traf ich Mons. Ronca, der zurückgezogen in seiner Villa an der Porta Ardeatina lebte. 1948 war ihm der etwas überladene Titel des Erzbischofs von Lepanto verliehen worden, nicht ohne Anspielung auf den Wahlsieg vom 18. April desselben Jahres, zu dem er durch die Mobilisierung der Katholiken entscheidend beigetragen hatte. Doch in Wirklichkeit war er ein verbitterter Mann, denn nach einer anfangs brillanten Karriere hatte man ihn aus Pompei, wo er Prälat gewesen war, verdrängt. In der Kirche der Siebzigerjahre und nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil fühlte er sich unwohl, da er an der Kirche der vorkonziliaren Zeit hing. Vor allem aber saß zu der Zeit Giovanni Battista Montini als Paul VI. auf dem Stuhle Petri, mit dem er vor dem Krieg im Widerstreit gestanden hatte und der in der Nachkriegszeit gar zu seinem Gegner wurde. Montini stand De Gasperi bei der Gründung der „Democrazia Cristiana“ und bei seiner Politik der Allianzen der Mitte zur Seite, während Ronca eine antikommunistische Allianz aus Rechten und Katholiken befürwortete. Ronca stand an der Spitze jener Gruppe von Priestern, die ich als die „römische Partei“ bezeichnet habe. Sie war gegen De Gasperi und gegen Montini und wollte die Rechten in der italienischen Politik unterbringen. Streckenweise war sie auch für die Gründung einer zweiten katholischen Partei. Dies sind freilich alles Dinge, die nichts mit der Problematik zu tun haben, um die es hier geht. Sie erklären aber die Bitterkeit und die Distanziertheit des alten Bischofs von Lepanto. Diese traten auch zum Vorschein, wenn er auf den Zweiten Weltkrieg zu sprechen kam und in dem Zusammenhang die menschliche Undankbarkeit oder Montini selbst ansprach.14
Hinter dem etwas bitteren Bild Roncas, der fast wie ein von der Geschichte Geschlagener wirkte, verbirgt sich ein Mann, der während des Krieges voller Tatendrang war. Etwas tollkühn machte er sich gar ans Werk, zumal die Kirche jener Zeit diese Art von Engagement nicht besonders schätzte. Im kirchlichen Rom der Siebzigerjahre erinnerte man sich kaum noch an Roncas Arbeit. Seine Bedeutung wurde nicht im Geringsten erfasst. Keiner bat ihn darum, in der Öffentlichkeit über seine Erfahrungen zu sprechen, die doch für eine Kirche so einzigartig und ruhmreich waren, auf der nach Hochhuths Der Stellvertreter der Vorwurf des „Schweigens“ lastete. Von September 1943 bis Juni 1944 war Ronca der Kopf eines großen humanitären Einsatzes im Untergrund. Doch danach geriet er, abgesehen von ein paar kleinen Aufsätzen, in Vergessenheit.
Am 26. September 1976 hatte ich ein langes Gespräch mit Ronca in dessen Villa. Er erzählte mir vom heimlichen Engagement im Lateran, wo auch der junge Tagliacozzo untergebracht wurde. Dabei berichtete er nicht nur vom mutigen Einsatz für verfolgte Personen, die dort aufgenommen wurden, sondern auch von der politischen Seite der Initiative. Die wichtigsten Männer des CLN waren im Seminar beherbergt: Alcide De Gasperi, Pietro Nenni, Giuseppe Saragat, Ivanoe Bonomi, Meuccio Ruini sowie der Innenminister Badoglios, Umberto Ricci. Graf Giuseppe Dalla Torre, Chefredakteur des Osservatore Romano, erzählte, dass er selbst zusammen mit seinem Sohn Paolo sowohl Alessandro Casati als auch Ivanoe Bonomi in den Lateran begleitet habe: „Die Straße wollte einfach nicht enden. Endlich kamen wir an, gingen durch die leere, dunkle Basilika […] und stiegen dann hoch ins Seminar, wo Monsignor Roberto Ronca die Flüchtlinge aufnahm und unterbrachte.“ Nach einem Besuch bei De Gasperi im Seminar traf Dalla Torre auf Nenni.15 Auch General Bencivenga kam im Lateran unter: Nach einem Gespräch mit den Mitgliedern des CLN rutschte er auf dem Korridor aus und brach sich dabei den Oberschenkelknochen. Er wurde operiert und blieb bis zur Befreiung Roms im Seminario Romano. Er ließ ein Funkgerät in Betrieb nehmen. Im Palazzetto Corsini, der sich innerhalb des Komplexes befindet, war die Tochter von Marschall Graziani mit ihrem Mann untergebracht. Man teilte mir zudem mit, dass auch Badoglios Tochter im Lateran Unterschlupf gefunden habe.
Ronca nahm nicht an den Sitzungen des CLN teil, sondern war der Verbindungsmann zwischen den Mitgliedern des Komitees und General Bencivenga. Er berichtete, dass Privatpersonen sein Engagement über das IOR („Istituto per le Opere di Religione“, allgemein bekannt als die Vatikanbank) finanziell unterstützt hätten. Überdies habe er auch dem CLN und den „Volontari della Libertà“ (Freiwilligenkorps der Freiheit, CVL) von Edgardo Sogno Gelder zukommen lassen. Als Ronca mir von all dem erzählte, hatte ich den Eindruck, dass gegen die Neutralitätsverpflichtung des Vatikans „verstoßen“ wurde – gar nicht wegen der Aufnahme von Juden wie dem jungen Tagliacozzo, sondern primär wegen der politischen Aktivitäten im Lateran, die der Rektor zuließ und unterstützte. Vor allem aber wurde mir klar, dass eine große Anzahl politischer und militärischer Führungskräfte jener Zeit, von denen einige auch in den folgenden Jahren eine wichtige Rolle spielen sollten, von Rektor Ronca in Sicherheit gebracht wurden. Vielleicht verdankten sie ihm sogar ihr Leben.
Doch vor allen Dingen wollte ich etwas über den Papst erfahren: Wusste er, was der Rektor tat? Wusste er, was im Lateran geschah? Erlaubte er es? Ronca sagte, er habe auf eigene Verantwortung gehandelt, um den Heiligen Stuhl nicht in die Begebenheiten im Lateran hineinzuziehen. Gleichzeitig sei ihm jedoch bewusst gewesen, dass er damit den Willen des Papstes erfüllte, der, wie er mir mitteilte, von Kardinal Marchetti Selvaggiani auf dem Laufenden gehalten wurde. Manch einen heiklen Vorfall, auf den ich später in den Akten stieß, erwähnte er mir gegenüber nicht. Er erwähnte aber die Rolle Mons. Montinis, der in den letzten Monaten des heimlichen Engagements seinen Sekretär, Mons. Emanuele Clarizio, schickte, um über die Begebenheiten informiert zu sein. Und er erzählte mir eine interessante Anekdote. Pius XII. empfing die Priesteramtskandidaten des Seminario Romano, die von den heimlichen Gästen im Haus nichts wussten. Es begab sich folgendermaßen:
‚Haben Sie gerade viele Gäste im Seminar?‘, fragte der Heilige Vater einen der Seminaristen. – ‚Nein, keinen einzigen, Heiligster Vater‘, war die Antwort. – ‚Wie bitte? Keinen?‘ Und der Heilige Vater sah dem jungen Mann ins Gesicht, doch als er dort nichts als absolute Aufrichtigkeit sah, wechselte er sofort das Gesprächsthema und beließ den Seminaristen in seiner Unwissenheit über die außergewöhnlichen Gäste.
Ronca folgerte daraus, dass der Papst wusste, was im Lateran geschah, aber nicht darüber informiert war, dass die Seminaristen darüber im Unklaren waren. Nach diesem Vorfall war er noch stärker davon überzeugt, dass Pius XII. seinen Aktivitäten wohlwollend gegenüberstand, Aktivitäten, die über seine Befugnisse als Seminarrektor, d.h. als Ausbilder künftiger Priester, weit hinausgingen. Vielleicht wurde dem mutigen Organisator des Engagements für Flüchtlinge das Amt des Rektors zu eng; dafür spricht auch, dass er sich nach dem Krieg in die Politik stürzte. Nach meinem Gespräch mit Ronca und der eingehenden Untersuchung seiner Aktivitäten stand für mich fest, dass sein Engagement für die Verfolgten zwar ein humanitärer Einsatz war, der jedoch weit über die „Unparteilichkeit“ des Heiligen Stuhls gegenüber den kriegführenden Mächten hinausging.