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Vorwort

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In all den Jahren, die ins Land gegangen sind, hat die Welt das Interesse an der Geschichte der Judenverfolgung im Zweiten Weltkrieg keinesfalls verloren – ja, im Gegenteil: Es ist sogar immer größer geworden. Der Holocaust ist und bleibt eine unbeschreibliche und letztlich auch unerklärbare Tragödie. Daher ist es zwar bewegend, aber auch alles andere als einfach, über etwas zu schreiben, das nicht nur politisch und wirtschaftlich gesehen kaum zu begreifen ist, sondern das sich auch mit einem gesunden Menschenverstand nicht erklären lässt. Und eben weil der Holocaust so unverständlich und unvorstellbar ist, darf man nicht aufhören, über ihn zu sprechen und ihn zu ergründen. Schon unmittelbar nach Kriegsende, als noch keiner die Dimensionen der Tragödie so recht erahnen konnte, fühlte man, dass es unentbehrlich war, über ihn zu schreiben. Um an den Holocaust zu erinnern, muss man immer wieder von ihm erzählen, ihn untersuchen und neue Dokumente und neue Perspektiven erschließen.

Doch hier geht es nicht nur um die Juden und ihre Verfolger. Es geht um ein unfassbares Kapitel der Weltgeschichte, in dem viele Menschen eine Rolle spielten: die zahlreichen Kollaborateure der Nazis in ganz Europa ebenso wie die stillen Zeugen, die Erschrockenen, die Mutigen und die Gerechten, jene, die den Juden halfen, und jene, die so taten, als sähen sie nichts. Es geht um die vielen Menschen, die die Jahre des Zweiten Weltkriegs miterlebt haben. Es geht um ein paar Monate im Leben der Einwohner Roms: um die Zeit vom 8. September 1943 bis zum 5. Juni 1944. Es geht um die Geschichte einer kurzen Zeit, in der es im Rahmen der so genannten „Endlösung“ zu unübersehbaren und rapiden Entwicklungen kam. Allein schon wegen der hohen Zahl der Opfer ist diese Zeit, und mag sie auch noch so kurz sein, von epochalem Wert.

In diesem Buch geht es um einen ganz besonderen „Schauplatz“ des Holocausts: Es geht um Rom, seine Juden, seine Einwohner und seine Institutionen während der neun Monate der deutschen Besatzung. Es geht um eine kurze, aber intensive und dramatische Zeit. Juden und Verfolgte, Deutsche und Nazis, Denunzianten und Kirchenmenschen, anonyme Gerechte und eine Bevölkerung in großer Not sind die Hauptakteure des Gefüges, das auf den folgenden Seiten näher betrachtet werden soll. Etwas weniger als 2.000 Juden wurden von den Deutschen und ihren Kollaborateuren verhaftet; sie starben in den Konzentrationslagern, bei den beschwerlichen Transporten oder in den Ardeatinischen Höhlen. Etwa 10.000 bis 12.000 überlebten, indem sie sich in der Stadt versteckten. Doch hinter diesen Zahlen (die allein schon genügen, um das Ausmaß der Tragödie erahnen zu können) stecken zahlreiche ganz unterschiedliche und zuweilen unglaubliche Geschichten: Geschichten von Männern und Frauen, Alten und Jungen, die in die Hände ihrer Verfolger fielen oder ihnen aber entkommen konnten. Jede einzelne von ihnen verdient es, in all ihren Details nacherzählt zu werden. Auf den folgenden Seiten wollen wir versuchen, sie wie eine einzige große Geschichte zu erzählen, die sich aus vielen kleinen Geschichten von Männern, Frauen und auch Kindern zusammensetzt.

Denn jede einzelne Geschichte ist auf ihre Weise einzigartig. Ich erinnere mich noch gut daran, wie Settimia Spizzichino ihre erzählt hat. Sie, eine waschechte Römerin und Jüdin aus dem Ghetto, wurde nach Deutschland deportiert, überlebte jedoch und kehrte nach Rom zurück. Jahrzehntelang führte sie ein normales Leben und trug ihre Erinnerungen an jene Zeit mit sich herum, ohne mit jemandem darüber zu sprechen. Doch irgendwann fing sie damit an, allen und besonders den jungen Leuten davon zu berichten. Man konnte gar nicht aufhören, ihr zuzuhören, so reichhaltig und so wahr war ihre Geschichte, aber gleichzeitig in ihrer Dramatik auch so mahnend und so faszinierend. Die Freundschaft mit Settimia Spizzichino, einer einfachen Frau und Augenzeugin jener furchtbaren Ereignisse, und die Verbindung zu dieser Generation der römischen Juden und der jüdischen Gemeinde Roms spornten mich dazu an, von jenen grauenhaften neun Monaten zu erzählen. Nicht nur als Wissenschaftler, sondern auch aus persönlichen Gründen empfinde ich daher das Bedürfnis, an jene Geschichte zu erinnern. Ich möchte damit einen Beitrag dazu zu leisten, dass sich all das nie mehr wiederholt, was nach den Rassengesetzen von 19381 und im Krieg geschehen ist, als die Juden vom Rest der Bevölkerung getrennt wurden. Für mich ist dieses Kapitel der Geschichte eine moralische Warnung und eine Aufforderung zu menschlichem Handeln, auch über die neun Monate der deutschen Besatzung und die Stadt Rom hinaus.

Die Erinnerungen und Erzählungen der Zeitzeugen lassen uns die erschütternde Dramatik der Ereignisse nachempfinden, die Zahlen allein nicht auszudrücken vermögen. Viele Juden hatten nie die Möglichkeit, über ihren Schmerz zu sprechen, weil sie die Konzentrationslager nicht überlebt haben. Andere wiederum überlebten zwar, hielten es aber nicht für wichtig, darüber zu sprechen, fanden dazu keine Gelegenheit oder sahen sich von allgemeiner Gleichgültigkeit umgeben. Den wenigen, die noch am Leben sind, wird heute bewusst, dass ihre Erinnerungen einen unschätzbaren Wert haben.

All die verfolgten und heimatlos durch die Stadt streifenden Juden sahen Rom damals so, wie sie es noch nie zuvor gesehen hatten: Sie trafen auf selbstlose und mutige Männer und Frauen, erlebten die verschreckte Gleichgültigkeit einer schwierigen Zeit, sahen feige, geldgierige und verräterische Menschen und fühlten sich unendlich einsam auf den Straßen jener Stadt, die bislang ihre Heimat gewesen war. Auf eine sehr nachdrückliche und einmalige Art und Weise wurden sie so zu Zeugen von Menschlichkeit und Unmenschlichkeit. Durch die Augen des von den Nazis und den Faschisten Gesuchten und Verfolgten, des heimatlos Umherschweifenden sieht und lebt man Rom ganz anders. Der Wert dieses Kapitels der Geschichte bemisst sich nicht an seiner Dauer; seine Implikationen für die Zukunft bemessen sich nicht an der Anzahl der Tage. Sondern an ganz anderen Dimensionen.

Die Geschichte, um die es auf den folgenden Seiten gehen wird, ist die Geschichte von nur neun Monaten; doch sie ist so ergreifend und auch so bedeutsam, dass man am liebsten jeden einzelnen Tag und an manchen Tagen sogar jede einzelne Stunde nacherzählen möchte. Würde man aber all die Zeugnisse und Dokumente, jedes noch so kleine Detail rekonstruieren und sich dem Erlebten jedes Einzelnen widmen, käme dabei nicht nur so etwas wie eine Chronik heraus, sondern man liefe auch Gefahr, sich im Labyrinth des Alltäglichen zu verlieren. Denn zu jeder einzelnen Episode gibt es häufig ganz viele verschiedene Erinnerungen. Der Historiker ist kein Detektiv, der den Tathergang ermittelt und nach Schuldigen sucht, sondern er muss, wie Marc Bloch richtig gesagt hat, versuchen zu verstehen. Und daher muss er sich an einem gewissen Punkt auch vom Alltäglichen und von der Unmittelbarkeit trennen, um die Grundlinien und Grundeigenschaften der einzelnen Protagonisten zu erfassen.

Wenn man den verfolgten und umherziehenden Juden in der besetzten Hauptstadt folgt, gelangt man in viele verschiedene Welten: in die Welt der vielen Flüchtlinge jener Zeit, in der – wie man damals lakonisch und doch nicht unzutreffend sagte – „halb Rom die andere Hälfte versteckte“; in die Welt des gemeinen Volkes, das versuchte zu überleben und häufig nicht wusste, wie es seinen Hunger stillen sollte; in die finstere Welt des faschistischen Roms und seiner Institutionen; in die Welt der Kirche und ihrer Männer und Frauen und in die Welt des Papstes. Die Juden waren nur ein Teil des untergetauchten Roms, der großen Masse derer, die in jenen neun Monaten der Besatzung auf der Flucht vor den Deutschen waren. Sie waren stärker gefährdet als alle anderen im römischen Untergrund, doch sie hatten die gleichen Probleme und verkehrten in den gleichen Kreisen wie alle, die sich verstecken mussten. Aber die allgemeine Gemengelage in Rom machte es den Menschen auf der Flucht möglich zu überleben. Unter Mühe und Kummer konnten sie sich in den vertrackten Biegungen und den zahlreichen Zufluchtswinkeln der Stadt verstecken. Denn im Herzen der Stadt lagen der Vatikanstaat und die zahlreichen Einrichtungen der Kirche, die durch die Grenze dieses neutralen Staates geschützt wurden. Eines Staates, der sich den menschlichen Geschicken der Römer nicht verschloss.

Rom war die Stadt des Papstes; die Hauptstadt der kurzlebigen Italienischen Sozialrepublik war sie de facto jedoch nicht mehr. Rein aus Geltungssucht hatte sich dieses vielgesichtige Regime Raum in der Stadt geschaffen, auch wenn es ohne Zweifel die Deutschen waren, die sich wie die Herren Roms gerierten. Arrogant entgegnete man im Hauptquartier Kapplers der Ehefrau von Stefano Siglienti, die um Auskunft über den Verbleib ihres Mannes bat: „Uns steht frei, die Leute verschwinden zu lassen, so wie wir es wollen.“2 Zwar dauerte die Besatzung nicht lange und die Stadt war das Hinterland der Front. Doch die Besatzungsmacht war mitleidslos, sie füllte das Buch der Geschichte mit unsäglichen Grausamkeiten und führte zahlreiche Durchsuchungen und Razzien durch, angefangen mit der großen Judenrazzia vom 16. Oktober 1943. Am Ende war die Stadt ausgelaugt und lechzte nach Befreiung.

Aharon Appelfeld, ein israelischer Schriftsteller, der den Holocaust als Kind überlebt hat, schrieb: „Ich bin dem einmal nachgegangen. Jeder, der den Krieg überlebte, überlebte dank eines Menschen, der ihm in großer Gefahr Halt gab.“ Außerdem betonte er: „Gott haben wir in den Lagern nicht gesehen, gute Menschen schon. Die alte jüdische Legende, dass die Welt nur dank einiger weniger Gerechter besteht, stimmte damals genau wie heute.“3

Da unzählige Frauen und Männer ihnen in Momenten großer Gefahr helfend zur Seite standen, konnten viele Juden und verfolgte Römer gerettet werden. Und von dieser Hilfe für all jene, die von Nazis und Faschisten gejagt wurden, handelt dieses Buch. Man half überall: in Privathäusern, auf den Straßen Roms, in Klöstern und Pfarreien, in Krankenhäusern, auf dem Gebiet und in den Einrichtungen des Heiligen Stuhls. Einige von denen, die den Verfolgten geholfen haben, wurden als „Gerechte unter den Völkern“ geehrt. Doch von vielen hat man jede Spur verloren – von den meisten. Wie gerne hätte ich die Geschichte jedes Einzelnen, der gerettet wurde, und jedes Einzelnen, der geholfen hat, erzählt. Doch die Erinnerung an viele haben wir unwiderruflich verloren. Auf den folgenden Seiten wollen wir versuchen, die Geschichten ganz gewöhnlicher Männer und Frauen aus der Vergessenheit zu holen, die in jenen Monaten großen Mut bewiesen und ein Leben führten, das alles andere als gewöhnlich war. Danach kehrten sie in ihr gewöhnliches Alltagsleben zurück und wurden größtenteils vergessen.

All diese Geschichten sind ein einziger großer Schatz. Sie zeigen uns, wozu viele Menschen in einer überdurchschnittlich harten Zeit fähig waren. Es soll hier nicht darum gehen, ein Loblied auf das gute Herz rechtschaffener Leute zu singen. Das phrasenhafte Gerede von den Italiani, brava gente, vom braven Italiener, ist nichts als die italienische Version dessen, was jedes Volk über sich selbst sagt, um zu behaupten, es sei anders, ja besser als die anderen. Doch es sind nicht Floskeln wie die vom guten Menschen, die uns bewegen; uns bewegt die Leidenschaft dafür, sich mit der Geschichte auseinanderzusetzen, nach Dokumenten und Zeugnissen zu suchen und dabei Namen zu finden und Wegen nachzugehen. Es sind die „Rettungswege“ vieler Menschen, von Juden wie auch Nichtjuden.

Dies ist auch die Geschichte einer finsteren Zeit, in der die „Kräfte des Bösen“ nicht nur bei den Verfolgern, sondern auch bei vielen Männern und Frauen am Werk waren, die falsch, unsicher und ängstlich waren, die kollaborierten, die den Wert des menschlichen Lebens geringschätzten, die korrupt und vom Hass gegen die Juden durchtränkt waren und darin eine Rechtfertigung für ihr Tun sahen, die am Geld hingen, an Gegenständen und an der Aussicht, an eine Wohnung zu kommen oder sie einfach nur auszuleeren. Historiker haben Licht in diese Grauzonen geworfen, die in einer Zeit, in der nicht nur Krieg zwischen zwei Parteien herrschte, keineswegs klein waren. In Rom und andernorts gab es, wie Enzo Forcella richtig festgestellt hat, viele Parteien.4 Die Geschichte jener neun Monate in Rom ist die Geschichte vieler Parteien, die sich bekriegten, verhandelten, sich begegneten, sich benutzten und sich auswichen …

Auch wenn wir uns nur Italien in den Jahren 1940 bis 1945 oder nach der Kapitulation 1943 anschauen, ist die Geschichte des Krieges nicht nur eine Geschichte des Kampfes oder des Widerstands gegen die Deutschen. In den Siebzigerjahren, als ich mich als junger Wissenschaftler und blutiger Anfänger zum ersten Mal mit ihr befasste, war gerade eine hitzige Debatte über den Antifaschismus und die Resistenza entfacht. Diese historiographische Debatte war für das historisch-politische Gedächtnis und die Legitimität der politischen Parteien, die Italien regierten und die Republik errichtet hatten, grundlegend wichtig. Die zeitliche Nähe zum Weltkrieg (es waren erst 30 Jahre vergangen) sowie die ethisch-politische Verbindung zwischen der Geschichte der Resistenza und der der republikanischen Demokratie waren von zentraler Bedeutung. Demjenigen, der sich mit der Geschichte der Monate der Besatzung befassen wollte, bot das politische und kulturelle Klima von damals Fragen und Interpretationskategorien, die jedoch etwas starr waren.

Aber das, was in Rom geschah, wo eine Hälfte der Römer die andere versteckte, was genau war das? Kann man es, wenn auch etwas abwertend, als Attentismus bezeichnen? Das mag für die gelten, die nicht wussten, wohin sie gehen sollten, die unsicher waren, ob sie etwas gegen die Herrschaft der Nazis unternehmen bzw. was sie für eine bessere Zukunft tun konnten. Doch es war keine Zeit der Feigheit, sondern eine Zeit, in der sich mutige Menschen gegen alle Unterdrückung und alle Grauzonen positiv abhoben. Groß war die Anzahl derer, die Mut bewiesen. Gleichzeitig wurden diese Monate zu Recht auch als die Zeit des „Kain in Rom“ bezeichnet; dies belegen zahlreiche Geschichten, die von Verrat und vom Handel mit dem menschlichen Leben erzählen.5

Rom ist ein Sonderfall. Die Geschichte jener neun Monate ist dramatisch und menschlich betrachtet von großer Bedeutung. Die Römer waren politisch jedoch insgesamt nicht besonders aktiv; es war kein Aufstand, der die Stadt befreite, sondern die Ankunft der Alliierten, die die ganze Stadt am Tag der Befreiung in erleichterten Jubel ausbrechen ließ. Und dennoch hatten die Deutschen in der Stadt kein leichtes Spiel: Da war zum Beispiel die – bereits gut erforschte – Resistenza, die sich um die Parteien des Nationalen Befreiungskomitees („Comitato di Liberazione Nazionale“, CLN), die (von den Deutschen und den Faschisten als solche bezeichneten) „badogliani“ oder auch aus Eigeninitiative entwickelte. Zudem war ein großer Teil der Bevölkerung nicht bereit, sich dem Besatzer zu fügen oder ihm auch nur zu trauen (was die Deutschen sehr wohl spürten); sie versuchten zu überleben und halfen auch den Verfolgten zu überleben und sich zu verstecken.

Rom ist ein Beispiel für Widerstand gegen den Krieg (schon vor der Besatzung hatte es großen Widerstand gegen den Kriegseintritt Italiens an der Seite Deutschlands gegeben, was den faschistischen Informanten nicht entgangen war); Rom ist auch ein Beispiel für eine Verurteilung der nationalsozialistischen und faschistischen Gewalt, für eine nur mäßige Begeisterung für den bewaffneten Kampf und für das Warten auf den alliierten Befreier, der das Kriegsgespenst verscheuchen sollte. Die Deutschen und ihre Freunde symbolisierten die Barbarei des Krieges.

Viele Römer identifizierten sich mit dem Römer auf dem Stuhle Petri, Papst Pius XII., der gegen den Krieg und den Eintritt Italiens in den Konflikt gewesen war und sich in die Ruinen des bombardierten Roms vorwagte. Der Papst war für viele ein Symbol des Friedens. Dieses Buch handelt auch vom Papst und der Kirche Roms in den Jahren 1943 und 1944. Ich möchte an dieser Stelle nicht auf Pius XII. und seine Entscheidungen während des Krieges eingehen; wir werden dieses Thema am Rande und im Rahmen der einzelnen Geschichten jener neun Monate behandeln. Ich möchte jedoch kurz erzählen, was mein Interesse geweckt hat und wie ich mit dieser Geschichte in Kontakt gekommen bin.

Mitte der Siebziger begann ich mich mit der Aufnahme von Flüchtlingen durch Nonnen und Mönche im besetzten Rom zu beschäftigen. Der berühmte Historiker Pietro Scoppola, der sich mit der Kirche im Faschismus, dem demokratischen Wiederaufbau und dem politischen Programm De Gasperis befasste, führte mich an dieses Thema heran. Er war 1926 in Rom geboren worden und hatte immer in der Ewigen Stadt gelebt. Als junger Mensch hatte er die neun Monate der Besatzung selbst miterlebt. Doch wie gesagt wollte dieses Thema nicht so recht in die Geschichte der Resistenza und des Antifaschismus passen, auch wenn eine (zugegebenermaßen kurzlebige) Zeitschrift, die sich schwerpunktmäßig mit der Geschichte der Resistenza im Latium beschäftigte, meine ersten Aufsätze dazu veröffentlichte.

So machte ich mich als junger Wissenschaftler auf die Suche nach Dokumenten und hoffte vielleicht sogar eine Weisung des Heiligen Stuhls an die Ordensgemeinschaften zur Aufnahme von Flüchtlingen zu finden. Ich stieß auf eine ganze Reihe von Dokumenten, aber vor allem durfte ich viele Protagonisten und Zeitzeugen jener neun Monate persönlich treffen, allen voran Mons. Roberto Ronca, der das größte Aufnahmeund Hilfszentrum im exterritorial gelegenen Lateran geleitet hatte. Außerdem sprach ich mit vielen einfachen Ordensleuten und Verfolgten. Da einige von ihnen auch heute noch am Leben sind, hatte ich kürzlich die Möglichkeit, sie erneut zu befragen. Mons. Elio Venier, der die Zeit als junger Vikar miterlebt und sich sehr für die Verfolgten engagiert hat, gehörte zu den Ersten, die das Gedächtnis an jene Zeit pflegten. Was die Zeitzeugen angeht, möchte ich Michael Tagliacozzo, der heute in Israel lebt, und die kürzlich verstorbene Eva Maria Jung, die als junge Frau aus Deutschland nach Rom geflohen war, besonders hervorheben. Mit den beiden habe ich wirklich Freundschaft geschlossen. In der letzten Arbeitsphase konnte ich mit vielen weiteren Zeitzeugen sprechen. All den großzügigen Menschen, die bereit waren, sich jene Zeit wieder ins Gedächtnis zu rufen, und allen Freunden, die mir bei dieser Arbeit behilflich waren, bin ich zu tiefer Dankbarkeit verpflichtet.6

Durch den direkten Kontakt zu den Zeitzeugen durfte ich das Werk vieler bedeutsamer Männer und Frauen der Kirche kennenlernen. War es ihre eigene, freiwillige Entscheidung oder handelten sie auf Anweisung des Papstes? In den Sechzigerjahren ist eine Diskussion um das „Schweigen“ Pius’ XII. zur Ausrottung der Juden entstanden, die verschiedene Phasen durchlaufen hat und bis heute nicht abgeschlossen ist.7 Und auch wenn man nur auf Rom schaut: Weder die Judenrazzia vom 16. Oktober noch das Massaker in den Ardeatinischen Höhlen wurden vom Papst öffentlich verurteilt. Wirft der Schauplatz Rom die Frage um das „Schweigen“ Eugenio Pacellis erneut auf?

Im Rahmen meiner Forschungen zu dem, was in den Jahren 1943 und 1944 in Rom geschehen ist, stieg mein Interesse an der Person Pius’ XII., an der Geschichte der Kirche Roms und an jener Schaltzentrale des Katholizismus, die Rom während des ganzen 20. Jahrhunderts war.8 Sicherlich wird dem Leser auf den folgenden Seiten mein seit mehreren Jahrzehnten bestehendes Interesse daran nicht entgehen. Doch in diesem Buch soll es nicht um Kirchengeschichte gehen, sondern um die Geschichte neun furchtbarer Monate, um ein Geflecht aus Verfolgern, Besatzern und Verfolgten, der Kirche, einfachen Leuten, dem Krieg, alten Traditionen und auch der Distanzierung davon, einer neuen und improvisierten Form des Zusammenlebens und der Nachbarschaft, den Kämpfen des Alltags, Begegnungen und einer bisher nicht gekannten Verbundenheit … Es ist die Geschichte der „Gefangenschaft Roms“, wie CarloTrabucco, er selbst ein Zeitzeuge, sie im Titel seines schönen Buchs nannte.9 Diese 268 Tage sind für die Geschichte der Stadt und weit darüber hinaus bedeutend und sogar sinnbildlich.

Nicht immer ist es einfach, das Verhalten, die Entscheidungen, die Sprache und die Beweggründe all jener zu verstehen, die in jener schwierigen Zeit gelebt haben. Aus diesem Grund habe ich mich dazu entschlossen, den zahlreichen Wegen der Verfolgten und ihrer Helfer nachzugehen, um zu zeigen, wie komplex die (kleinen und großen) Geschichten jener Monate waren. Ich habe mit Ordensleuten gesprochen, die Menschen bei sich aufgenommen haben, ich habe ihnen zugehört und mich mit ihren Archiven befasst. Die Grundlage des menschlichen Verhaltens jener Frauen und Männer, die große Risiken in Kauf nahmen und sich dazu entschieden, anders zu leben als bisher, zusammen mit Menschen, die ihrem eigenen Umfeld eigentlich völlig fremd waren, war ihr Glaube. Viele, die damals bei ihnen unterkamen, betonten, dass die religiöse Welt Roms trotz all ihrer Einschränkungen und der Ansichten jener Zeit ein Füllhorn der Menschlichkeit in einer düsteren Zeit war.

Die kirchlichen Einrichtungen und ihre Vertreter standen im Zentrum eines riesigen Netzes im Untergrund, zu dem auch die einzelnen Stadtviertel, Häuser, Familien und Laien gehörten. Es ist schwierig, eine Geschichte der Einzelnen und der Familien zu schreiben, doch sofern es möglich war, habe ich mich dazu entschieden, auch auf das Alltagsleben der Asylsuchenden einzugehen. Es gab so viele kleine Probleme, an die sich heute keiner mehr erinnert; die Polizei war nur eins davon, wenn auch ein besonders großes. Für sich selbst, die versteckten Menschen und die Hungerleidenden Essen zu finden, war gar nicht so einfach, wie man heute vielleicht denken mag. Ein Jude erinnerte sich daran, dass es Phasen gab, in denen nicht die nationalsozialistischen und faschistischen Häscher das größte Problem waren, sondern der Hunger. Auch solche Alltagsprobleme gehören zur Geschichte jener Tage. Für fast alle Römer war die Versorgung mit Lebensmitteln ein großes Problem.

Die hilfsbereiten Ordensleute dürfen nicht losgelöst von der Institution Kirche und ihren Führungsspitzen betrachtet werden. Der Grund dafür liegt auf der Hand: In ihrer Art zu leben und auch in der Wahrnehmung der anderen waren sie untrennbar mit der Mutter Kirche verbunden. Die Kirche in Rom – dies wird sich auf den folgenden Seiten zeigen – war weder ein Heer reglementierter Soldaten noch eine vom Papst losgelöste Einheit. Der Historiker schreibt nicht, um zu erbauen oder zu verurteilen, sondern um zu erzählen und zu verstehen, und muss daher meiner Meinung nach versuchen, sich von vorgegebenen Bildern der Kirche frei zu machen – von Idealbildern ebenso wie von Bildern, die später entstanden sind. Denn wer könnte einen besseren Nährboden für die Entstehung von Mythen und unwirklichen, bewegenden, begeisternden oder finsteren Bildern bieten als die katholische Kirche, diese jahrtausendealte Institution, die älteste des Okzidents?

Einer dieser Mythen ist durch die Macht entstanden, die die katholische Kirche in der Regierung des Nachkriegsitaliens hatte, einer Zeit, die Mario Rossi von der Katholischen Aktion etwas überspitzend als „die Tage der Allmächtigkeit“ bezeichnet hat.10 An einem der heimlichen Zufluchtsorte Roms hatte sich Alcide De Gasperi versteckt, einer der Gründungsväter der „Democrazia Cristiana“ und der erste Katholik an der Spitze der Regierung. Dieser sollte nach dem Krieg eine fast vierzig Jahre dauernde Phase christdemokratischer Macht einläuten. Die Macht der Kirche im Nachkriegsitalien, mit Papst Paul VI., dem Konzil und dem langen und einschneidenden Pontifikat Johannes Pauls II., zeigte sich in späteren Jahren von ihrer „prophetischen“ Seite: Die Päpste und die Kirche sprachen über viele Themen, urteilten, verurteilten und hatten ein ganz neues Verhältnis zur Öffentlichkeit.11 Die Kirche Pius’ XII. hingegen war eher eine Randerscheinung; in einem von den Nazis dominierten Europa und in einer Stadt Rom, in der die deutschen Wachposten unter den Fenstern des Papstes standen, war sie isoliert. Sie war keinesfalls eine quantité négligeable, doch die Regierungen der kriegführenden Länder ließen sie außer Acht. Auf der diplomatischen Ebene hatte sie kaum Einfluss und war wenig relevant. Die Amerikaner, die ihr noch am meisten Aufmerksamkeit schenkten, beachteten sie nur wenig, die Briten kaum, die Sowjets gar nicht und Hitler so gut wie gar nicht. Der Vatikan unter Pius XII. war eher schwach; er war der Kopf einer Kirche, die durch den Krieg, in dem sich Katholiken gegenseitig bekämpften, faktisch zergliedert wurde.

Pius XII. war sich dieser Schwäche bewusst. Sie veranlasste ihn dazu, vorsichtig zu sein. Der Mission seiner Kirche maß er gleichwohl eine große und einzigartige Bedeutung bei. Doch er fürchtete die Nazis und ihre Grausamkeit. Er fürchtete Vergeltungsmaßnahmen gegenüber den Katholiken, den Deutschen (wobei er auch um ihre Beeinflussbarkeit wusste) und all jenen, die in den Räumen der katholischen Kirche und des Papstes untergebracht waren. Er entschied sich gegen eine prophetische Verurteilung, die manch einer damals und sehr viele später gerne gesehen hätten. Er wusste, dass sein Weg das „Schweigen“ war. Am 10. Oktober 1941 machte er dies bei einer Audienz für Mons. Angelo Roncalli deutlich.12 Der Pacelli-Papst selbst scheint der Erste gewesen zu sein, der dieses „Schweigen“ ins Gespräch gebracht hat. Hätte sein Vorgänger Pius XI. vielleicht anders gehandelt? Einige glauben das und es ist durchaus möglich.13 Doch das Wesen und auch die Zeit Eugenio Pacellis waren anders.

Der Papst richtete sein Augenmerk darauf, die Kirche als Zufluchtsort für Menschen in Not zu schützen, die Katholiken dazu aufzufordern, allen zu helfen, und zu versuchen, dem Krieg durch Friedensverhandlungen ein Ende zu setzen. Der Papst wusste darüber Bescheid, was im besetzten Europa geschah, doch wie fast allen seiner Zeitgenossen waren ihm die Ausmaße der Vernichtungsmaschine Nationalsozialismus nicht vollumfänglich bekannt. Gleichwohl ahnte er, dass diese katholikenfeindliche Maschine seine Kirche zermalmen würde, sollte Hitler tatsächlich siegen. Er wusste auch, was in der Sowjetunion passiert war, wo Stalin die katholische Minderheit fast vollständig ausgelöscht hatte. Zu einem gemeinsamen antibolschewistischen Kreuzzug an der Seite der Nazis ließ er sich jedoch nicht hinreißen.

Diejenigen, die während des Krieges seine Mitarbeiter waren und später an der Spitze der katholischen Kirche standen, sollten in den folgenden Jahrzehnten den diplomatischen Dialog mit den kommunistischen Regierungen des Ostblocks aufrechterhalten; so etwa Giovanni Battista Montini, der spätere Paul VI., sowie Agostino Casaroli, dessen „Außenminister“ und der Staatssekretär Johannes Pauls II. (der im Krieg das bescheidene Amt des Archivars des Staatssekretariats innehatte und wahrscheinlich manch einen Bericht über die Gewalttaten der Nazis in den Regalen der vatikanischen Archive ablegte), oder die Anhänger Domenico Tardinis. Ihr Kurs wurde auch von Zurückhaltung gegenüber der christen- und freiheitsfeindlichen Verfolgung dieser Regimes bestimmt. Um es mit den Worten Kardinal Casarolis zu sagen: Sie betrieben die Kunst des Möglichen durch das „Martyrium der Geduld“.14 Bis in die Fünfzigerjahre war der Kommunismus immer wieder verurteilt worden – danach nahm man Abstand davon. Die Diplomatie, die Kunst des Möglichen, mit ihrem Schweigen und ihren Kontaktaufnahmen, mit ihrer Kühnheit und ihren Einlenkungen war auch in der „prophetischen“ Kirche der Zeit nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil en vogue. Sie war ein Werkzeug mit einer langen Geschichte. Sie schien die Antwort auf die Bedürfnisse einer Kirche zu sein, die zwar stark wirken mochte, es politisch gesehen aber nicht war, weil sie kein Herrschaftsgebiet besaß und sich mit den Mächten in loco auseinandersetzen musste. Jenseits aller Mythen in die eine wie in die andere Richtung scheint mir dies über Jahre die Situation gewesen zu sein, in der sich die katholische Kirche befand.

Doch neben der Beurteilung der diplomatischen Haltung des Heiligen Stuhls, des Schweigens Pius’ XII. und anderer Dinge ist da noch etwas anderes. Der Holocaust war eine Niederlage des Christentums in Rom, Italien und Europa. Gewiss war er auch eine Niederlage anderer Kulturen und Anschauungen; doch es war vor allem das Christentum, das die Geschichte Europas über Jahrhunderte hinweg geprägt hatte. Und nun war es machtlos angesichts der Gewalt der Nationalsozialisten und jenes großen Leidens, das sich auf christlichem Boden bewahrheitete. Es geht hier um ein einschneidendes Ereignis, das Emmanuel Lévinas 1950 folgendermaßen beschrieben hat:

Inmitten so vieler anderer Gräuel raubt die Vernichtung von sechs Millionen wehrloser Menschen in einer Welt, die das Christentum in 2.000 Jahren nicht zu verbessern vermochte, seiner Eroberung Europas in unseren Augen viel von ihrem Prestige. Gewiß werden wir niemals die Reinheit der individuellen – und durch ihre Zahl beeindruckenden – Taten der Christen vergessen können, die […] das Leben von uns Überlebenden während der schrecklichen Jahre gerettet haben. Wir werden auch den Mut der Hierarchie der Kirche Frankreichs nicht vergessen können. Doch das Scheitern des Christentums auf politischer und gesellschaftlicher Ebene läßt sich nicht bestreiten.15

Wie nachdenklich stimmt einen diese – keinesfalls christenfeindlich motivierte – Feststellung Lévinas’ angesichts der vielen Leidenden in Deutschland und Europa, dieser Niederlage der europäischen Menschheit. Auch Elie Wiesel hat dies betont: Ebenso wie der Politik, dem menschlichen Engagement und der Kultur gelang es dem Christentum nicht, eine Mauer zu errichten, die die Mörder davon abhalten konnte, Böses zu tun; der Holocaust war eine „menschliche Niederlage“.16 Diese Betrachtungsweise trifft meiner Meinung nach das Verhältnis der Kirche zum Holocaust besser als die Frage nach dem Schweigen Pius’ XII. Sie regt überdies dazu an, von dieser Tragödie zu erzählen und die Haltung der Europäer, der Christen und der Peiniger näher zu ergründen.

Die neun Monate der Besatzung zeigen, dass die Welt der Kirche, die zunächst kompakter und homogener wirkt als viele andere Welten, tatsächlich äußerst vielschichtig und ein Sammelbecken unterschiedlicher Meinungen und Entscheidungen war – auch was die Aufnahme von Flüchtlingen angeht. Die folgenden Seiten dieses Buches werden uns auch mit der Komplexität der einzelnen Milieus Roms in Verbindung bringen: nicht nur mit der Kirche, sondern auch mit den Faschisten (von kriminellen Banden bis hin zu zähen und gewieften Personen wie Marschall Rodolfo Graziani) und mit den Deutschen. Die Kirche setzte stark auf die Deutschen und verfolgte ihnen gegenüber eine geschickte Politik des Kontakthaltens, der Interzession, des Lockens und des Tadelns. Durch die Art und Weise, wie in Rom mit dieser Komplexität gespielt wurde, verwandelte sich der Schauplatz jener 268 Tage dauernden Tragödie manchmal auch in eine Komödienbühne. Die Geschichte, die wir uns hier anschauen wollen, ist voller verworrener Details und ganz neuartiger Zusammentreffen.

Es war, wie schon gesagt, kein Aufstand, der Rom von den Deutschen befreite. Pius XII. und die Kirche setzten sich für eine friedliche Übernahme der Stadt durch die Alliierten ein. Sie wollten vermeiden, dass der bewaffnete Krieg die Überhand gewann, dem sie nicht trauten, ja den sie ablehnten. Darüber hinaus lebten sie in ständiger Angst vor dem Kommunismus. Der Antikommunismus Pius’ XII., um den die Forschung anfangs lieber einen großen Bogen gemacht hat, ist bei vielen Wissenschaftlern nach dem Ende der UdSSR und des Kommunismus in Osteuropa auf größeres Verständnis gestoßen. An dieser Stelle soll nichts richtiggestellt, sondern bloß verstanden werden. Gegenüber den Amerikanern (seinen bevorzugten Gesprächspartnern) betonte der Papst häufig, der Kommunismus sei ein großes Unglück für Italien und Europa. Die Gewalt des Krieges (und auch die des Widerstands) und die Besatzungsherrschaft waren für ihn eine Tragödie, der so schnell wie möglich ein Ende gesetzt werden sollte.

Die Kirche Pius’ XII. war gegen den Krieg, gegen gewaltsame Auseinandersetzungen und auch gegen den Partisanenkampf. Das für die friedliche Transition Roms ausgearbeitete Modell entsprach einer allgemeinen Vision. Vielleicht hatten die vatikanischen Führungskräfte (eine kleine Gruppe, ja eine Handvoll Männer, die isoliert in Rom lebten und nur über wenig internationale Kontakte verfügten – sich aber eines althergebrachten Prestiges erfreuten) die dramatische Logik jenes Weltkrieges nicht recht verstanden. War er für sie so wie der Erste Weltkrieg, den Pacelli vom Vatikan und von München aus miterlebt hatte? Natürlich waren sie nicht dazu bereit, ihn einfach so hinzunehmen, und versuchten, sich ihre eigenen Räume und Wege zu schaffen: mal indem sie Asyl gewährten, mal durch Friedensbotschaften, dann wieder mit ihrer Vorstellung von der Übernahme Roms oder durch solidarisches Handeln … Diese Nichtakzeptanz der Logik des Krieges mag man als Indiz für einen mangelnden Realitätssinn sehen oder als Zeichen für Attentismus, ja sogar für Schlauheit. Man kann sie aber auch als einen Einsatz für den Frieden sehen, der in späteren Jahren unter dem Begriff Pazifismus hochgehalten wurde. Doch Fakt ist, dass der Vatikan, der inmitten all der kriegführenden Parteien sachlich blieb, die Logik des Krieges nicht akzeptierte. Stattdessen versorgte er die Wunden, die dieser Krieg hinterließ.

Dieses Buch handelt auch von der italienischen Hauptstadt. Rom ist nicht Paris, das die Geschichte und das politische Leben Frankreichs so stark in sich trägt und spiegelt. Mussolinis großen Träumen zum Trotz war Rom keine besonders imperiale Hauptstadt. Neun Monate lang war Rom eine Hauptstadt ohne Staat. Der savoyische Staat mit seiner gerade einmal siebzigjährigen Geschichte war zusammengeschmolzen, als der König gen Süden geflohen war. Weder international noch von den meisten Italienern wurde Mussolinis Regime noch als Staat angesehen. Kein oder fast kein Land erkannte ihn mehr an, auch nicht der Heilige Stuhl. Die Deutschen waren die Besatzer. Rom lebte unter einer Subsistenzherrschaft. Und die Stadt überlebte all die Willkür, weil es Bündnisse von Menschen guten Willens, teils seltsame Allianzen gab, weil Familien und Ordensgemeinschaften sich engagierten, weil Einzelne sich durchschlugen und weil der Papst sich für die Stadt einsetzte. Doch der Papst wurde niemals zum „König von Rom“ (wie sich der groteske und erbarmungslose deutsche Kommandant General Kurt Mälzer gern nennen ließ). Auch den Vorschlag, die Macht über Rom an den Papst zu übergeben, lehnte der Vatikan ab. Pius XII. war nicht der König von Rom; als römischer Papst blieb er aber vielleicht „der einzige Herrscher“ Roms, wie General Charles de Gaulle es einmal formulierte.

Die in diesem Buch erzählte Geschichte ist eine sehr italienische Geschichte: die Geschichte der Gesellschaft, der Familien und der Kirche, die Geschichte von persönlichen Initiativen, von einer sich immer mehr ausbreitenden Krise der Institutionen, wie man sie noch nie zuvor gesehen hatte, von Solidarität, von einem fehlenden Staat … Die römische und die italienische Gesellschaft waren sehr viel älter als der junge, totalitär national angelegte Staat der Faschisten, der durch die Niederlage und den Krieg scheiterte. Der gesellschaftliche Zusammenhalt in Rom war gut spürbar, und das obwohl die Bevölkerung der Hauptstadt auch siebzig Jahre nach der Einheit Italiens recht heterogen war: Aus verschiedenen Regionen Italiens waren die Menschen nach Rom gezogen, doch sie hatten sich in das spezielle Klima der Stadt gut eingefügt. Die Landeshauptstadt Rom war also im Gegensatz zu vielen anderen italienischen Städten eine echte Gemeinschaft. Auch damals war die Zahl der alt eingesessenen Römer verhältnismäßig niedrig; man „wurde“ vielmehr zum Römer. Die neun Monate von September 1943 bis Juni 1944 waren gesellschaftlich gesehen insgesamt eine starke Phase; was den Staat und seine verrufenen und dysfunktionalen Institutionen anging, waren sie jedoch eine äußerst schwache Phase. Auch dieser Kontrast macht die Geschichte so bedeutungsvoll.

Vergebens wird der Leser auf den folgenden Seiten eine chronologische Schilderung der Ereignisse suchen. Vielmehr wollen wir den einzelnen Wegen durch jene neun Monate folgen und die Verläufe und Zustände im Untergrund mit all ihren dramatischen Momenten, ihren politischen und diplomatischen Verflechtungen und den kleinen Geschichten des täglichen Überlebens und Kampfes nacherzählen. Zwar mag das in einigen Fällen zu Wiederholungen führen, doch diese Herangehensweise ermöglicht einen besseren Überblick über die einzelnen Facetten des großen Gesamtbildes. Dieses Bild ist ein Mosaik aus vielen Steinen. Es zeigt eine Stadt, die im Grunde genommen nicht mehr relevant, nicht mehr die Hauptstadt war, von den Deutschen und den Faschisten verachtet und für die Alliierten nicht so wichtig war. Natürlich war Rom für die Römer wichtig, weil sie dort lebten und auch in Zukunft leben wollten. Auch für seinen Bischof, Pius XII., war Rom wichtig: Er versuchte, Rom zu einer sinnbildlichen, vor den Augen der Welt heiligen und damit unantastbaren Stadt machen. Eine Stadt mit einem großen symbolischen Wert für Menschen auf der ganzen Welt.

Die zahlreichen Schilderungen des Alltags und des Lebens im Untergrund während jener neun Monate verschafften mir einen Einblick in die Welt der Verfolgten, der Juden und der Nichtjuden, der Verfolger und ihrer Kollaborateure, der Männer und Frauen der Kirche und der vielen couragierten und anonymen Römer, einer großen Menge von Menschen, die in der Zeit zwischen dem 8. September 1943 und dem 5. Juni 1944 auf den Straßen Roms unterwegs waren, sich in ihren Häusern einschlossen oder an den Fenstern standen. Ich hoffe, dass die Entdeckung dieser Welt für den Leser ebenso lehrreich und spannend sein wird wie für mich. Dieses Buch bietet die Möglichkeit, weiterhin vom Holocaust zu erzählen (denn wir dürfen nie aufhören, von ihm zu erzählen) und an all das Leiden dieses Krieges zu erinnern, damit wir die Brutalität der wahnsinnigen ideologischen Rassenideen niemals vergessen. Es soll zeigen, wie viele Menschen mit bloßen Händen gegen all das Böse kämpften und versuchten, die Schmerzen zu lindern oder auch nur das zu tun, was im Rahmen ihrer eigenen Möglichkeiten lag. Dieses Buch möchte die Begeisterung für die Geschichte am Leben erhalten. In der Geschichte sind die Dinge nie vollkommen gleichförmig, ideologisch und deterministisch. Sie setzt sich aus den Taten vieler einzelner Männer und Frauen zusammen, denn das Handeln jedes Einzelnen ist ein wertvoller Fortschritt – auch gegenüber einer Macht, die überwältigend wirken mag.

Vor einigen Jahren hat Elio Toaff, ein bekannter Rabbiner aus Rom und Zeitzeuge der Judenverfolgung, in der Einleitung zu einem Buch mit Geschichten aus der Zeit des besetzten Roms geschrieben: „Die Geschichte des Holocaust ist wie ein großes Mosaik, in dem jeder Stein für Leiden, Schmerz und Verzweiflung steht. Entgegen allen Regeln kennt dieses Mosaik weder Schranken noch Grenzen und bedarf in seiner Unendlichkeit immer neuer Steine und neuer Beiträge.“17 Wie ein Mosaik durfte ich aus nächster Nähe das Leben der Römer und der Besatzer in jenen neun Monaten zusammensetzen und mir so eine Vorstellung vom historischen Kriegsschauplatz und dem totalen Krieg verschaffen. Er ließ Menschen auf paradoxe Weise handeln, er beraubte Einzelne und ganze Gruppen ihrer Freiheit und zermalmte so viele. Und doch gelang es ihm nicht, den ganzen Raum auszufüllen, innerhalb dessen der Mensch ein Mensch bleibt.

Ich widme dieses Buch dem großen Meister der Kirchen- und Politikgeschichte Pietro Scoppola, der am 25. Oktober 2007 verstorben ist. Er hat vorausgesehen, wie ertragreich das Wandeln auf diesen Forschungswegen ist, und hat inmitten einer Debatte, die von starren Kategorien bestimmt war, neue Interpretationsschlüssel für die Kriegsjahre geliefert. Er war erfüllt von einer großen moralischen und menschlichen Leidenschaft für die Geschichte, die nichts anderes ist als das Leben von Frauen und Männern.

Ich muss nun, da dieses Werk vollendet ist, vielen danken, die mich durch ihre Aussagen, ihre Hinweise und ihre Hilfe unterstützt haben. Ich erlaube es mir, nur drei der vielen Zeugen zu erwähnen: Michael Tagliacozzo, Eva Maria Jung Inglessis und Mons. Elio Venier. Zudem möchte ich des vor geraumer Zeit verstorbenen Mons. Filippo Caraffa gedenken, der mir in den Siebzigern viele wegweisende Dokumente zur Verfügung gestellt hat. Der Begeisterung für das Gedächtnis und die Geschichte dieser und anderer Personen habe ich für die Realisierung dieses Buches sehr viel zu verdanken.

Ich danke auch Adriana Gulotta für ihre große Hilfe bei der Korrektur des Textes.

Mein Dank gilt außerdem Valerio De Cesaris für seine Mitarbeit und Gabriele Rigano für die gründliche Durchsicht des Textes.

Der längste Winter

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