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Die Krisen im Februar und Juni

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Direkt aus dem Herzen des Vatikans traf Mons. Ronca eine Reihe von Einwänden gegen seine Tätigkeit. In den Akten des Substituten Montini entdeckt man eine interessante Notiz vom 31. Januar 1944:

Sowohl Fürst Carlo Pacelli als auch der ehrwürdige Rektor des Seminario Maggiore Romano wurden darauf hingewiesen, dass es sinnvoll wäre, einige der Gäste, die derzeit im Seminar untergebracht sind, anderenorts unterzubringen, um keine Verantwortung für sie tragen zu müssen; ebenso wurde auf die Gefahr hingewiesen, die von solchen Gästen ausgehen könnte, wenn sie es nicht unterlassen, riskanten Tätigkeiten nachzugehen.

Außerdem heißt es dort, dass Pacelli und Ronca diese Sorgen teilten. Interessanterweise sah das Staatssekretariat Carlo Pacelli als einen einflussreichen Mittelsmann zwischen dem Vatikan und dem Lateran und all dem, was dort geschah. Er war es, der verschiedene „Umherstreunende“ dorthin brachte. Daraufhin wurde Mons. Alberto Ferrero di Cavallerleone, ein Minutant der Kongregation für die Orientalische Kirche (der Mons. Ronca nahestand), damit beauftragt, die Möglichkeit eines Umzugs der Gäste ins „Collegio Romeno“, das rumänische Kolleg auf dem Gianicolo zu prüfen. Ferrero war so etwas wie der Geistliche der politischen Flüchtlinge und feierte mit ihnen regelmäßig in einer Kapelle des Seminars die Heilige Messe.34 Dieser befand jedoch, dass ein Umzug nicht in Frage kam, weil das „Collegio Romeno“ sich nicht dazu eignete, um Menschen zu verstecken. Gleichzeitig gab er jedoch zu verstehen, dass er sich keine großen Sorgen um die Lage im Lateran machte. Im Grunde genommen änderte sich also nichts; vielleicht ging es nur darum, einige vatikaninterne Sorgen zum Schweigen zu bringen. Das Staatssekretariat gab die Notiz Ferreros an Kardinalvikar Marchetti Selvaggiani weiter und schloss, dass es keine Alternative zum Lateran gab.

Der Überfall der Faschisten auf die Abtei Sankt Paul vor den Mauern in der Nacht vom 3. auf den 4. Februar 1944 stürzte die kirchliche Welt im Untergrund in eine schwere Krise. Aus verschiedenen Quellen geht hervor, dass Panik um die Sicherheit der kirchlichen Refugien aufkam. Eine Jüdin namens Nella Milano Fano erzählte, dass ihr Ehemann „sich nicht mehr traute, mit uns im Kloster zu bleiben, weil er, besonders nachdem die Faschisten Sankt Paul überfallen hatten, glaubte, dass die Männer umso stärker in Gefahr waren, wenn sie zu lange an einem Ort blieben“.35 Keiner konnte mehr einschätzen, welche Grenze die Deutschen noch achten würden. Keiner konnte wissen, wo und wen sie als Nächstes überfallen würden. Bemerkenswert ist, dass man sich mehr um die Männer sorgte, wo es die Deutschen doch auf alle Juden, Kinder mit eingeschlossen, abgesehen hatten. Sergio Frassineti erzählte, dass sein Großvater mütterlicherseits ins Haus seines Bruders zog, weil er glaubte, dass man alte Menschen nicht deportieren würde, aber schließlich doch zusammen mit seinem Bruder nach Auschwitz gebracht wurde. Was die Deutschen vorhatten, war für das damalige Verständnis von Kriegsgewalt unvorstellbar.36

Mario Tagliacozzo (der zusammen mit seiner Familie im Päpstlichen Kolleg für die italienische Auswandererseelsorge in der Via della Scrofa versteckt war) notierte nach dem Überfall auf Sankt Paul: „Die Lage ist ernst.“ Der Leiter, Mons. Viganò, war laut Tagliacozzo „ziemlich bestürzt und stellt uns die Sache noch ernster dar, als sie wirklich ist. Er sagt uns, dass wir nach all dem, was passiert ist, nicht mehr in Sicherheit sind, dass von einer Stunde auf die nächste auch seine Einrichtung überfallen werden kann und dass er uns daher nicht weiter Unterschlupf gewähren kann, nicht einmal unter unserer eigenen Verantwortung. Er gibt uns 48 Stunden, um auszuziehen. Wir sind alle niedergeschlagen […]“ Für Tagliacozzo eröffnete sich nun ein Weg ins Ungewisse, der ihn in Privathäuser und auf die Suche nach immer neuen Klöstern führte. Sein Urteil fiel erschütternd aus: „Es gibt keinerlei Schutz mehr, sondern […] jeder Bürger ist Gewalt und Willkür ausgeliefert.“37

Tatsächlich gaben die Leiter der kirchlichen Einrichtungen ihren Gästen im Februar, mal klarer und mal weniger, zu verstehen, dass die Räume der Kirche nicht mehr sicher waren. Besonders im Februar, als Pietro Caruso Polizeichef von Rom wurde, stieg die Gefahr für die Juden und die Verfolgten.38 Der Monat begann mit einer großen Durchkämmung: 2.000 Männer wurden gefangen genommen und zur Zwangsarbeit verpflichtet. Durch die Aussetzung eines Kopfgelds stieg die Zahl der Anzeigen und damit die der Festnahmen im Februar. Das Klima war unheilschwanger geworden. Das Leben in allen Ordensgemeinschaften war in dieser Zeit ungewiss und unsicher.

Einige Gäste, unter ihnen De Gasperi, verließen das Seminario Romano. Der christdemokratische Leader versteckte sich im Haus von Mons. Celso Costantini im Palazzo der Propaganda Fide an der Piazza di Spagna. Seine Entscheidung zu diesem Schritt legt nahe, dass er den Lateran in Gefahr wähnte. Der Sekretär der Propaganda Fide, ein wichtiger Mitarbeiter beim Aufbau der Kirche in China, berichtete, De Gasperis Frau sei am 8. Februar um 5 Uhr nachmittags zu ihm gekommen: „Wären Sie bereit, ihm in einem Moment der Gefahr zu helfen?“, fragte sie ihn bezüglich ihres Mannes. Als der Priester die Frage bejahte, verriet sie ihm, dass ihr Mann unten in der Bar wartete. Costantini berichtete weiter:

De Gasperi kam nach oben, bleich, aber ruhig. Er berichtete mir, dass man ihn im Seminar im Lateran wirklich christlich behandelt habe. Ich war froh, ihm in so turbulenten Zeiten sofort Gastfreundschaft anbieten zu können. Er ist mein persönlicher Freund; er wird nicht von der Polizei gesucht, er ist nicht zum Wehrdienst verpflichtet, er ist eine Amtsperson des Vatikans; aber man sieht in ihm einen gefährlichen Feind des Faschismus.39

Antonazzi, der Ökonom des Kollegs der Propaganda Fide, notierte am 24. Februar 1944, nachdem er in der Wohnung seines Vorgesetzten Costantini gewesen war: „Er befindet sich im Gespräch mit einem feinen Herrn, der etwas nachdenklich und streng aussieht. Diesen stellt er mir als den Abgeordneten De Gasperi vor. Dann, fast reuevoll, bittet er mich inständig, dies unbedingt für mich zu behalten […]“40

Auch Michael Tagliacozzo verließ im Februar den Lateran, um jedoch, wie viele andere Gäste, binnen kurzer Zeit wieder ins exterritoriale Gebiet zurückzukehren. Aus einer Nachricht Roncas an das Staatssekretariat vom 6. Februar, die in den Akten des Substituten liegt, geht hervor, dass viele den Lateran in der Nacht nach dem Überfall auf Sankt Paul verließen. Doch schon da baten einige darum zurückkehren zu dürfen. Sofort setzte der Rektor das Staatssekretariat davon in Kenntnis. Dort wurde zwei Tage später ein römischer Arzt vorstellig, der mitteilte, die Jagd auf die Juden werde nach den Vorfällen in Sankt Paul in anderen exterritorialen Gebäuden fortgesetzt. Am 21. Februar informierte ein Polizeikommissar den Substituten darüber, dass man plante, im Lateran einzufallen, um dort nach Flüchtlingen und Waffen zu suchen. Ronca wurde benachrichtigt. Am 18. Mai erhielt Kardinal Maglione eine ähnliche Mitteilung und informierte Marchetti.

Gerüchte um eine Bedrohung der Exterritorialität, die im Februar nach den Ereignissen in Sankt Paul hartnäckiger denn je die Runde machten, gab es immer wieder. In den Akten Roncas entdeckte ich einen im März des Jahres verfassten Brief mit einer nicht entzifferbaren Unterschrift, in dem es heißt: „Ich habe erfahren, dass die Polizei der Salò-Republik infolge der Denunziation durch eine unbekannte Frau eine Besichtigung des Collegio Lateranense plant. Ich kann Ihnen jedoch nicht genau sagen, ob die Besichtigung nun definitiv stattfinden wird oder nicht.“41 Dieses Schreiben zeigt, dass Roncas Engagement und das Leben der Flüchtlinge auf wackligen Beinen standen. Auch die Randbemerkung Montinis an einem Informationsschreiben zu einem angedrohten Überfall lässt tief blicken. Der Substitut vermerkte dort nach der Befreiung Roms: „Diese Aufzeichnung gibt eines der vielen Gerüchte wieder, die in der Zeit von September 1943 bis Juni 1944 ständig kursierten und den Verantwortlichen große Sorgen bereiteten.“ Am 13. Mai 1944 wurde Kardinal Maglione ebenfalls vertraulich darüber informiert, dass Polizeichef Caruso plante, das Seminario Romano zu überfallen. Sofort benachrichtigte er Kardinal Marchetti.42 Doch es geschah nichts – auch wenn man, wie sich später herausstellen sollte, in faschistischen Kreisen tatsächlich mit dem Gedanken spielte, den Lateran zu überfallen. Die Bedrohung war also durchaus real.

Ronca sorgte sich unentwegt darum, den Heiligen Stuhl nicht in Mitleidenschaft zu ziehen. Dies belegt ein undatiertes Memorandum, das nach der Befreiung verfasst wurde: „Das Seminar war sich des Zustands bewusst, der da entstand. Auch wenn dieser es dem Seminar einerseits unmöglich machte, angesichts der Gefahr, die so vielen drohte, gleichgültig zu bleiben, konfrontierte er andererseits die Einrichtung, die dem Heiligen Stuhl unterstand und dafür da ist, die jungen Männer zu beherbergen, die für das Priesteramt bestimmt sind, mit äußerst bedauerlichen und schadensreichen Eventualitäten.“ Eine zweifache Herausforderung also – wie sollte man darauf reagieren? Im Memorandum heißt es weiter:

Man versuchte, sofern das möglich war, die Zahl der Anfragen zu begrenzen und sich von der Bürde der dringenden Bitten zu befreien. Besonders die Direktion des Seminars stand in ständigem Kontakt mit den Vorgesetzten und vervielfältigte die Anzahl der Berichte über das, was geschah, sowohl an Seine Eminenz den Kardinalvikar, mit dem man ein oder auch zwei Audienzen am Tag hatte, als auch an das Staatssekretariat, besonders an den Sekretär von Mons. Montini, zu dem das Seminar lange Zeit täglich einen Priester des Instituts schickte, um rechtzeitig ausführliche Anweisungen zu erhalten.

Mons. Ronca betonte jedoch: „Der Sekretär Mons. Montinis wiederholte mehrmals, dass das Seminar umfangreiche ‚Indemnitätserteilungen‘ zu allen Handlungen erhalten habe und dass eben der Besuch von S. E. [Montini] im neuen Flügel damals genau diesen Zweck gehabt habe.“ Clarizio, der Sekretär Montinis, stattete „dem Flügel des Instituts, in dem die Gäste untergebracht sind, häufig Besuch“ ab; er interessierte sich „für ihre Befindlichkeit, ihre Bedürfnisse und Wünsche und schenkte besonders jenen besondere Aufmerksamkeit, die von Mons. Montini selbst empfohlen wurden oder besser: die er selbst dort untergebracht hatte“.43 Der Substitut war also einer von denen, die heimlich Gäste, wahrscheinlich Politiker, im Seminar einquartierten. Ronca beschloss sein Memorandum folgendermaßen: „Mons. Montini schickte darüber hinaus andere zum Staatssekretariat gehörige Personen mit Aufträgen zu den Gästen und manchmal setzte er sich mit ihnen direkt in Verbindung und nahm die gesamte Initiative und Verantwortung auf sich.“ Montini war in die Vorgänge mit einbezogen und hatte ein waches Auge auf die Politiker. Das Staatssekretariat hatte Babuscio Rizzo, dem Vertreter Badoglios im Vatikan, sechs Plätze im Seminar bewilligt, und er bat darum, Prof. Frugoni einen davon zuzuweisen.44 Den Aufzeichnungen Roncas ist zu entnehmen, dass es sogar Gästezimmer gab, die direkt für das Staatssekretariat reserviert waren.

Das in den Dreißigerjahren nicht besonders gute Verhältnis zwischen Ronca und Montini sollte nach dem Krieg aufgrund der politischen Aktivitäten des Rektors schwierig werden, die in eine Richtung tendierten, die der Substitut nicht billigte (Ronca war gegen eine Politik der Mitte und bevorzugte ein Bündnis aus Katholiken und Rechten). Doch im oben zitierten Text bestätigte Ronca, dass Montini involviert war und dass sein Sekretär Clarizio – wie er selbst später sagte – ins Seminar kam und sich dort länger aufhielt. Montini kam sogar persönlich dorthin und erteilte damit Roncas Arbeit eine stillschweigende Genehmigung.

Am 18. Januar war Mons. Ronca erneut in Schwierigkeiten. In einem Gespräch mit Galeazzi fragte er diesen, ob es der Papst gewesen sei, der darum gebeten hatte, die Liste mit den Namen der Gäste einzureichen. Galeazzi bejahte dies. Ronca betonte gegenüber dem Grafen, in welch einer schwierigen Lage er sich befand, und wies darauf hin, dass er dazu verpflichtet war, Kardinal Marchetti Selvaggiani über die Vorgänge im Seminar auf dem Laufenden zu halten, natürlich immer unter Vorbehalt dessen, was der Papst wollte.45 Der Rektor fragte sich, ob Graf Galeazzi ihm den Willen des Papstes mitteilte und wie er sich gegenüber seinem direkten Vorgesetzten verhalten sollte. Aus einer Notiz geht hervor, dass Ronca am gleichen Tag auch mit Clarizio sprach: Er teilte ihm mit, dass „S. E.“ (wahrscheinlich Marchetti) nicht beabsichtigte, neue Gäste aufzunehmen, aber der Papst habe das letzte Wort. Schließlich legte man ein Prozedere fest: „Bei jeder Neuaufnahme wird das Sekretariat S. E. benachrichtigen und die Sache an den Rektor des Seminars zur Umsetzung weiterleiten.“

Laut diesem Prozedere oblagen dem Staatssekretariat die Initiative und die Verpflichtung, den Kardinalvikar zu informieren. Ronca wollte wissen, welchem Vorgesetzten er denn nun zu Gehorsam verpflichtet war, und bat um einen Mittelsmann, der ihn über die Meinung der Vorgesetzten in Kenntnis setzen sollte. Offensichtlich wollte auch das Staatssekretariat „keine Verantwortung für andere Personen übernehmen als für die, die vom Staatssekretariat selbst vorgestellt worden waren“. In dieser Phase (wir befinden uns bereits im Jahr 1944) wurde unter dem Druck der Ereignisse aus der spontanen Aufnahme von Gästen eine vom Staatssekretariat überwachte Operation. Das vatikanische Organ, das dem Papst am nächsten stand, übernahm die Verantwortung; und auch vorher hatte es schon häufig die Initiative ergriffen. Ronca hatte nicht mehr länger die alleinige Kontrolle über die unterschiedlichen Vorgaben und das Drängen von allen Seiten. In einer leider undatierten Notiz schilderte der Rektor diese neue Situation. Es heißt dort, dass von 35 Personen, die das Seminar verlassen hätten, fünf nun wieder zurückkehren wollten. Man erfährt, dass „zurzeit einige Zimmer (aktuell zwölf) für das Staatssekretariat Seiner Heiligkeit reserviert sind“. So als wäre ihm nicht klar, wie viel Verantwortung das Staatssekretariat übernehmen wollte, konstatierte der Rektor trocken:

Wenn ich die Anfragen, die bei mir angekommen sind oder die bei mir ankommen könnten, melde, möchte ich damit nicht meinen Wunsch bekunden, den Antragstellern eine positive Rückmeldung zu geben, sondern selbiges Ersuchen nur bekannt geben und, sollte es für angebracht gehalten werden, jedwede Anweisung entgegennehmen. Ich glaube schließlich, dass ich über einige Aufnahmen nicht entscheiden kann, wenn nicht entweder der Heilige Vater oder der Kardinalvikar geruhen, mir diesbezüglich Mitteilungen zukommen zu lassen. Ich bitte darum, dass solche Botschaften über den Kardinalvikar übermittelt werden.

Obwohl er die zahlreichen und täglich eintreffenden Anfragen registrierte, hatte Ronca nicht mehr das Gefühl, die Gäste nach seinem Willen auswählen zu dürfen. Nach Monaten, in denen er so viele Erfahrungen gesammelt hatte, akzeptierte er, dass der Papst oder der Kardinalvikar über die Aufnahme neuer Gäste im Lateran bestimmen sollten; von Letzterem sollte die Anweisung dazu kommen. Der Lateran war voller Flüchtlinge, die Risiken waren groß, die Anfragen stiegen ebenso wie der Druck von Seiten der Kirche und ihrer Männer zugunsten des einen oder des anderen. Sein mutiger Einsatz wurde auch kritisiert. Vielleicht war Ronca gar nicht klar, wer ihm wirklich den Rücken deckte. Zeitweise hatte er nicht nur Zweifel daran, dass die Vertrauten des Papstes, Fürst Pacelli oder Graf Galeazzi, ihn unterstützten, wiewohl sie sich für das Engagement im Untergrund starkmachten, sondern er fragte sich auch, ob das Staatssekretariat auf seiner Seite stand. Tatsächlich war das Spektrum der Aktivitäten im lateranischen Untergrund so breit, dass der Einfluss der Vorgesetzten sie kaum alle vollumfänglich decken konnte. Ronca behielt die Verantwortung für viele Dinge in einem Haus, in dem auch politische und militärische Persönlichkeiten untergebracht waren. Zweifelsohne galt die Kritik an der Aufnahme von Gästen im Lateran nicht so sehr den Juden, sondern vielmehr dem politischen Aspekt und der ausgeprägten Präsenz von Militärs.

Nach dem Überfall auf Sankt Paul im Februar 1944 war die Maschinerie im Untergrund im Grunde genommen zu einer festen Institution geworden. In den Akten des Substituten liegt ein kleiner Faszikel mit einer Notiz des Rektors, dem Reglement für die Flüchtlinge und der Erklärung, die diese unterzeichnen mussten, wenn sie in den Lateran kamen. Nur De Gasperi legte man die zu unterzeichnende Internierungserklärung nicht vor. Die Sicherheitsvorkehrungen wurden verschärft. Denn in jenem Februar wurde nicht nur die Abtei von Sankt Paul überfallen, sondern vor allem ergriff der deutsche Botschafter beim Heiligen Stuhl, Ernst von Weizsäcker, drastische Maßnahmen, nachdem ein deutscher Deserteur in den Vatikan geflüchtet war; eine Blockade des Vatikans oder gar Schlimmeres wurde befürchtet.

Aus den Aufzeichnungen Roncas geht hervor, dass der Lateran mit seinen Gästen im Seminar und in den anderen Gebäuden des Komplexes, seinem Lebensmittelversorgungssystem und seinen breitgefächerten Kontakten der zentrale Anknüpfungspunkt eines großen Hilfsnetzes im Untergrund war. In den Akten des Rektors liegt zum Beispiel der Brief zweier Juden, die sich für die freundliche Hilfe des Pfarrers der Gemeinde Trasfigurazione di Gesù, Don Giovanni Buttinelli, bedankten (dieser half in Monteverde etwa 100 Juden). Ronca teilte Montini stolz mit: „Das Seminario Romano hat nicht nur die eigenen Gäste verpflegt, sondern auch jene unentgeltlich mit Nahrung versorgt, die in den Gebäuden wohnten oder wohnen, die die diplomatische Immunität des Laterans genießen und darum gebeten haben.“46 Der Rektor des Seminars, seine Mitarbeiter und der ganze Laterankomplex bildeten eine Hochburg im kirchlichen Untergrund: Sie waren das Zentrum, das am besten organisiert war und über die meisten Ressourcen verfügte. Ein paar Details aus der Zeit nach dem 16. Oktober 1943 machen deutlich, wie einflussreich Ronca war: So rief er den Generaloberen der Pauliner, Don Giacomo Alberione, an und forderte ihn ohne Umschweife dazu auf, Juden in allen Häusern seines Ordens aufzunehmen. Als der Pauliner Don Occelli, der Pfarrer im Stadtteil Montagnola war, am 25. März von den jungen Leuten seiner Gemeinde erfuhr, was in den Ardeatinischen Höhlen geschehen war, benachrichtigte er umgehend Mons. Ronca.47 Man sieht: Der Rektor war in Rom eine einflussreiche und angesehene Person.

Gleichzeitig tat Roberto Ronca stets treuergeben das, was der Vatikan ihm auftrug. Doch unter seiner eigenen Verantwortung ging er viele Risiken ein und nahm Juden, Verfolgte und die unterschiedlichsten Menschen auf. Verantwortungsbewusst und mit einem Sinn für das, was es zu tun galt, beherbergte er Politiker und Militärs im Lateran. Er war in jeder Hinsicht aktiv und autonom: Als humanitär und politisch engagierter Mann überschritt er nach Meinung einiger Kollegen Grenzen, nicht nur als Rektor eines Priesterseminars, sondern auch als verantwortungsvoller Priester, waren die Zeiten auch noch so außergewöhnlich. Doch ohne die Erlaubnis und die Rückendeckung des Kardinalvikars, des Staatssekretariats und einflussreicher vatikanischer Personen hätte er so gut wie nichts ausrichten können. Dass er vier Jahre nach der Befreiung Roms und dem Ende des Einsatzes im Untergrund im Lateran mit nur 47 Jahren zum Prälaten von Pompei und zum Titularerzbischof von Lepanto ernannt wurde, war ein klares Zeichen der Anerkennung für sein Wirken.

Doch den Faschisten und den Deutschen konnte nicht entgehen, was hinter den Mauern des Laterankomplexes geschah. Die Verantwortlichen des Einsatzes, Ronca, Palazzini und Caraffa, sagten mir, Marschall Graziani persönlich habe sich dafür eingesetzt, dass die Faschisten den exterritorialen Komplex nicht überfielen. Wir werden später noch deutlicher sehen, dass der Lateran Thema einer Debatte zwischen Faschisten und Deutschen war, denn die Idee eines Überfalls lag tatsächlich in der Luft. Die allgemeine Angst zeigt, dass die Verantwortlichen im Lateran und der Vatikan sich der Gefahr bewusst waren, zumindest seit Februar 1944.

Die Lage spitzte sich gegen Ende der deutschen Besatzung zu, als – wie schon gesagt – das unter Folter abgenötigte Geständnis eines italienischen Offiziers den Nazis den Beweis dafür lieferte, dass General Bencivenga im Lateran versteckt war (wobei ihnen möglicherweise gar nicht klar war, welche Position er innehatte). Dadurch, dass die Kirche ihn aufgenommen hatte, stellte sie sich auf die Seite einer Partei, ja sie unterstützte sogar die Resistenza. Daher intervenierte Kappler beim Staatssekretariat und forderte, der General solle seinen Zufluchtsort verlassen. In seinen Augen war Mons. Ronca verantwortlich für die Aufnahme des hohen Offiziers. Wenn dieser sich weigerte, den Lateran zu verlassen, so der SS-Mann, dann sollte er zumindest von seinen Aufgaben entbunden werden. Es war eine vertrackte Situation. Aus Bonomis Tagebuch erfährt man, dass ein Assistent Bencivengas den „Politikern“ im Lateran am 1. Juni mitteilte, ein Überfall des Gebäudes in der folgenden Nacht sei durchaus möglich.48

Wahrscheinlich im Auftrag des Staatssekretariats trat Ronca dem General entgegen und bat ihn, die Forderung Kapplers zu akzeptieren oder zu gehen. Mons. Montini regelte dann die Sache folgendermaßen: Gegenüber den Deutschen behauptete er, Bencivenga sei nicht im Seminar (er war dort unter falschem Namen), und intern ordnete an, ihn ins Haus von Mons. Virgili zu bringen, das zwar außerhalb des Seminars, aber immer noch auf dem Gebiet des Laterans lag. So schilderte es später zumindest der General selbst.49 Laut Bonomi wiederum verpflichtete sich der Heilige Stuhl gegenüber Kappler dazu, Bencivenga zu isolieren; Ronca würde ein Auge auf ihn haben. Er hielt zudem fest, dass sich die Deutschen in dieser Phase nicht sonderlich aggressiv gegenüber dem Vatikan verhielten, ja sogar Interesse daran gezeigt hätten, „die Brücken nicht abbrechen zu lassen“.50 Ronca zufolge verfolgte Mons. Montini in Erwartung der Befreiung gegenüber den Deutschen eine Hinhaltetaktik. Dem Einsatz des Prälaten war es letztlich zu verdanken, dass Bencivengas Tätigkeit nicht unterbunden wurde und er weiterhin über sein Funkgerät kommunizieren konnte.

In einer Art Tagebuch der letzten Tage der Deutschen in Rom, das sich in den vatikanischen Akten befindet, heißt es, der deutsche Salvatorianer Pater Pankratius Pfeiffer sei am 4. Juni ins Staatssekretariat gekommen, um zu verkünden, Kappler habe sich damit zufriedengegeben, dass Bencivenga, wenn auch isoliert, im Lateran blieb. Pfeiffer war jedoch in Sorge um dessen Sicherheit: „Vorsichtig sein“, heißt es in dem Dokument. „Es gibt Spione, die das Losungswort kennen und alles Mögliche tun, um zu ihm zu gelangen, indem sie Belohnungen zahlen oder sich als Eingeweihte ausgeben usw. (dass sie kommen, um ihn zu töten, ist nicht auszuschließen). Doch er sollte auch auf keinen Fall fliehen.“51 Wie schon gesagt feuerten die Deutschen ein paar Kanonenschüsse gegen das Zimmer, in dem Bencivenga wohnte, als sie Rom verließen. Doch da war das Ende der Besatzung bereits in greifbarer Nähe.

Der längste Winter

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