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III
Humanitärer Einsatz und
politische Probleme Gefährliche Gäste im Lateran
ОглавлениеRonca war der Kopf des heimlichen Hilfseinsatzes im Lateran. Palazzini, Caraffa, Righini, Motylewski und viele weitere Mitarbeiter unterstützten ihn. Janusz Motylewski war 1939 in Warschau von der Gestapo verhaftet worden, Ronca hatte aber über die Nuntiatur in Deutschland seine Befreiung erwirkt.1 Der Mönch kehrte nach Italien zurück und arbeitete fortan eng mit Ronca zusammen. Die Suore di Maria Bambina, die dem Seminar zugeteilt waren, spielten vor allem bei der Verpflegung der Gäste eine wichtige Rolle. Sie bekamen schließlich Unterstützung von den Figlie della Carità, die im Seminar untergebracht wurden: Ganz in der Nähe des Laterans und der deutschen Botschaft in der Villa Wolkonsky hatten die Schwestern ein Waisenhaus mit etwa 60 Kindern geführt. Die italienischen Trupps, die die deutsche Botschaft bewacht hatten, waren ins Kloster der Figlie della Carità geflüchtet, als die Deutschen die Botschaft wieder in Besitz genommen hatten. Daraufhin hatten die Deutschen das Kloster beschlagnahmt. Es war eines der wenigen Male, dass die Deutschen gegen eine Ordensgemeinschaft vorgingen. Ronca quartierte die Schwestern und die 60 Kinder im Erdgeschoss des Seminars ein.
In vielen anderen Einrichtungen Roms lebten die Flüchtlinge eingeschlossen auf engstem Raum. Im Gegensatz dazu standen den Verantwortlichen im Lateran wesentlich mehr Platz und Möglichkeiten zur Verfügung, und das obwohl dort so viele Gäste untergebracht wurden. Die Mauern und die Pforten umgrenzten das exterritoriale Gebiet und vermittelten dadurch ein Gefühl der Sicherheit. Aufgrund der räumlichen Gegebenheiten konnten die Gäste in Gruppen eingeteilt werden, sodass jede für sich lebte und sie sich untereinander nicht begegneten. Jeder, der aufgenommen wurde, musste ein „feierliches Versprechen“ unterschreiben. Damit verpflichtete er sich dazu, „die Neutralität des Staates der Vatikanstadt auf gewissenhafteste Weise zu wahren“, von jedwedem Akt abzusehen, der ihr zuwiderlief, und sich bereitwillig den von der vatikanischen Obrigkeit verlangten Kontrollen zu unterziehen. Darüber hinaus unterschrieben die Gäste ein aus vier Artikeln bestehendes Reglement. Darin wurde angeordnet, dass die Flüchtlinge in keinem Fall den ihnen zugewiesenen Platz verlassen durften; dass sie ferner keine Kontakte mit der Außenwelt zu pflegen hatten, außer unter der Aufsicht der zuständigen Obrigkeiten; dass sie sich jeglicher politischer Handlungen, Diskussionen oder Demonstrationen enthalten und keine Waffen verstecken sollten.2 Mons. Caraffa hielt fest: „Von Beginn an wurde überprüft, ob die Gäste Waffen bei sich hatten […] Die Direktion war fest dazu entschlossen, jegliche Ausnutzung ihrer Barmherzigkeit zu unterbinden, weshalb sie entsprechende Maßnahmen ergriff.“3
Bezeichnenderweise liegt dieses Reglement in den Akten des Substituten des Staatssekretariats, Giovanni Battista Montini. Wahrscheinlich wurde es mit ihm abgestimmt. Dass es so ein Dokument gibt, verdeutlicht, dass Ronca bei seinem Hilfseinsatz strukturiert vorging. Etwas Vergleichbares konnte für andere kirchliche Einrichtungen nicht nachgewiesen werden. In den Akten Montinis liegt auch die Erklärung, die die Gäste unterzeichnen mussten. Darin heißt es:
Der Unterzeichnende […] erklärt bei seiner Aufnahme in das exterritoriale Gebiet des Seminario Romano, das zum Heiligen Stuhl gehört, dass er weder Waffen bei sich führt noch solche im Bereich des exterritorialen Gebiets gelagert oder versteckt hat, dass er sich nach den Vorschriften verhalten wird, die für einen Internierten in einem neutralen Staat gelten, und dass er sich allen Regeln und Kontrollen unterordnet, die der Heilige Stuhl oder der Staat der Vatikanstadt zur Wahrung der Neutralität des beherbergenden Staates für notwendig erachten.4
Wer im Lateran aufgenommen wurde, hatte den Status einer Person, die in einem neutralen Staat interniert war. Dadurch sollte von vornherein eine Verteidigungslinie gegenüber den Deutschen gezogen werden. Aber nicht alle Gäste waren politisch inaktiv: Die offensichtlichste Ausnahme waren die Politiker des CLN – auch wenn sie Ronca jedes Mal um Erlaubnis bitten mussten, wenn sie das Seminar verlassen wollten, und bei jedem Schritt und jeder Nachricht auf die Hilfe seiner Mitarbeiter angewiesen waren. Dass im Lateran Waffen gelagert oder Initiativen militärischer Natur ergriffen wurden, ist jedoch nicht bekannt. Ein Angestellter des Seminars, der auf der Piazza San Giovanni auf Deutsche schoss, wurde jedoch entlassen.
Die Versammlungen des CLN im Lateran waren also eine Ausnahme. Sie fanden nicht im Seminar selbst statt, sondern im Haus von Roncas Mutter neben der Basilika. So konnten nicht nur diejenigen, die von außen kamen, unbemerkt hereingelassen werden; man betonte dadurch auch, dass das Seminar an den Aktivitäten des CLN nicht beteiligt war. In einem vertraulichen Schreiben vom 1. Mai 1944, das in den Akten des Seminars liegt, riet Bonomi Ronca davon ab, einer Sitzung des CLN im Lateran zuzustimmen, um die Kirche nicht in Schwierigkeiten zu bringen und letztlich den Nazis oder den Faschisten einen Grund für einen Überfall zu bieten.5 Die Mitglieder des CLN im Lateran führten politische Diskussionen und entwarfen Leitlinien für die Gegenwart und für die Zukunft. Diese „Politiker-Wohngemeinschaft“ im Seminar war ein ganz außergewöhnliches Laboratorium.
Darüber hinaus zog es viele in den Lateran, eben weil dort die Männer des CLN lebten. Gelegentlich kam sogar der Kommunist Mauro Scoccimarro, um diese zu treffen, zog aber nicht im Seminar ein. Auch die Führungsriege der Aktionspartei wohnte nicht im Lateran, kam jedoch dorthin, um mit den anderen Politikern zu diskutieren. Der Sozialist Giuseppe Romita, die Christdemokraten Giovanni Gronchi und Umberto Tupini und die Liberalen Manlio Brosio und Nicolò Carandini sowie interessanterweise auch Vertreter der Freimaurerei von der Piazza del Gesù und Guido Lai aus der Großloge, dem Palazzo Giustiniani, kamen in den Lateran und damit auf päpstliches Territorium.6
Ein noch eindeutigerer Verstoß gegen die Unparteilichkeit des Vatikans war jedoch die Aufnahme von General Roberto Bencivenga, der sich den Oberschenkelknochen gebrochen hatte, als er ins Seminar kam, um mit Bonomi zu sprechen. Der General hatte am 22. März als oberster Vertreter der Regierung im Süden das militärische und zivile Kommando über Rom übernommen.7 Nach seinem Unfall wurde er im Seminar operiert (seine Rehabilitation lag, so Gabellini, in den Händen eines blinden Masseurs, den man ins Seminar brachte). Nachdem die Ärzte ihr Einverständnis gegeben hatten, wurde er in die Wohnung von Mons. Lavinio Virgili im Palazzo dei Penitenzieri verlegt. Dort richtete er seine Operationszentrale ein. Zu dem Zeitpunkt hatte man bereits ein Funkgerät in Betrieb genommen, mit dem Bencivenga mit der Badoglio-Regierung und der Fünften US-Armee kommunizieren konnte. De Gasperi erklärte später im Rahmen des von ihm gegen Giovannino Guareschi angestrengten Prozesses8, dass ihnen im Seminar ein Funkgerät zur Verfügung gestanden habe – vermutlich das von Bencivenga.9 Ronca stellte dem General seinen Mitarbeiter Gabellini als Mittelsmann zur Seite, der dadurch Zeuge all seiner Aktivitäten wurde. Mit Bencivenga war im Lateran der Mann untergebracht, der im Namen der Regierung im Süden seit März die Amtsgeschäfte in Rom leitete. Die Sache war streng geheim. Lange Zeit wussten nicht einmal die Männer des CLN, dass der General unter dem gleichen Dach wohnte wie sie. Aus Bonomis Tagebuch erfährt man, dass Ronca den Politikern am 12. Mai nach Meinungsverschiedenheiten zwischen dem CLN und Bencivenga eröffnete, dass der Kommandant im Lateran war. Bonomi konnte den General also in seinem Zimmer aufsuchen, um persönlich mit ihm zu sprechen.
Der Lateran war das Zentrum der römischen Opposition gegen die Deutschen und den Nationalsozialismus. Und natürlich mussten die Deutschen Wind davon bekommen. Ein gefangen genommener Soldat gestand unter Folter in der Via Tasso, dass Bencivenga im Lateran war. Die „Banda Koch“ brachte rings um den Lateran herum Soldaten in Stellung, die das Leben und Handeln im Inneren gefährlich machten. Als Ronca ein Taxi zum Vatikan nahm, um mit Kardinalvikar Marchetti Selvaggiani zu sprechen, folgten ihm Kochs Männer.10 Die Beherbergung Bencivengas im Lateran führte zu heftigen Spannungen zwischen dem Staatssekretariat und dem deutschen Kommando und war Gegenstand intensiver Verhandlungen, zu denen wir später kommen werden. Die im Lateran untergebrachten Personen wurden schließlich zu einem Politikum, doch als es so weit war, waren die Tage der Deutschen in Rom bereits gezählt. Als sie am 4. Juni die italienische Hauptstadt verließen, feuerten sie Kanonenschüsse gegen den Lateran, von denen zwei das Zimmer, in dem Bencivenga wohnte, nur knapp verfehlten.
Am 3. Juni 1944 übersandte Ronca an Staatssekretär Maglione eine Botschaft des CLN für General Domenico Chirieleison, den Militärkommandanten der offenen Stadt. Dieser war im Vatikan gut bekannt. Die Männer des CLN äußerten darin den Wunsch, mit dem General in Kontakt zu treten. General Chirieleison kam in den Lateran und traf dort mit Bencivenga und Bonomi zusammen, um sich mit ihnen über die Übergabe der Amtsgeschäfte zu verständigen.11 Die politische Seite der heimlichen Aktivitäten des Laterans trat in den letzten Zügen der deutschen Besatzung deutlich hervor, während sie in den ersten Monaten eher im Hintergrund gestanden hatte. In dieser letzten Phase ging es primär darum, ein Vakuum zu vermeiden. Bonomi hielt fest, Ronca, der „unermüdlich im Einsatz“ gewesen sei, habe das Treffen mit Chirieleison am 4. Juni organisiert.12 Und noch während Bencivenga, Bonomi und Chirieleison sich unterhielten, betraten zwei Priester den Raum und teilten ihnen mit, dass die Alliierten kurz vor der Porta San Giovanni ständen.
Im Lateran wohnte damals eine bunt zusammengewürfelte Gruppe. Denn dort hielten sich nicht nur ein Gutteil des CLN, Bencivenga, viele Juden, Minister Badoglios und zahlreiche gesuchte Personen auf. Auch Rodolfo Grazianis Tochter Wanda, ihrem Ehemann, dem Grafen Sergio Gualandi, und ihren Kindern wurde im Laterankomplex Asyl gewährt. Manchmal kam auch die Ehefrau des Marschalls. Wenn Graziani in Rom war, besuchte er seine Tochter in ihrer Wohnung im Lateran. Überdies ließ er den Lateran mit Lebensmitteln beliefern. Dass er sich für die Rettung der Einwohner von Filettino einsetzte, denen die Nazis eine Dezimierung angedroht hatten, ist bekannt. Mons. Caraffa, der wie Graziani aus diesem Dorf im Latium stammte, bat über Angehörige des Marschalls um eine Intervention beim deutschen Bündnispartner. Diese folgte auf dem Fuße.
In den Monaten, in denen er Kriegsminister der Italienischen Sozialrepublik war, führte Marschall Graziani gegenüber dem Vatikan und der Kirche eine Politik des Entgegenkommens. Nachdem er das Amt des Kriegsministers von Salò angetreten hatte, bat er am 3. Oktober 1943 über seinen Schwiegersohn Gualandi um ein geheimes Treffen mit dem Papst oder zumindest mit dem Kardinalstaatssekretär. Er wollte sich erklären und Vereinbarungen treffen. Bei keinem von beiden erhielt Graziani eine Audienz, dafür empfing ihn Montini. Der Marschall verhandelte mit dem Heiligen Stuhl über eine Erweiterung der Palatingarde. Ausgerechnet am 16. Oktober informierte die Nuntiatur in Italien die Militärbehörden darüber, dass der Heilige Stuhl die Erweiterung der Garde auf 2.000 Personen mit 250 Offizieren wünschte. Der Marschall stimmte zu, reduzierte die Anzahl der Offiziere jedoch auf 100. Innerhalb weniger Tage war die Sache unter Dach und Fach. Doch im Grunde genommen war es paradox: Die Vereinbarung wurde mit dem Kommandanten der faschistischen Streitkräfte getroffen, während der Heilige Stuhl das Regime Mussolinis gar nicht anerkannte und diplomatische Beziehungen zur Regierung des Königreichs Italien unterhielt. Diese hatte jedoch keine Macht über Rom.
Der apostolische Nuntius in Italien, Francesco Borgongini Duca, war nicht bei der Regierung Mussolinis akkreditiert, sondern beim König. Er residierte aber weiterhin unbehelligt in Rom, obwohl der König im Süden war. Albert Kesselring reagierte sogar umgehend und sehr hilfsbereit, als ein deutscher Fallschirmjäger das Auto des Nuntius mit dem diplomatischen Kennzeichen in der Nähe der Kirche Il Gesù entwendete.13 Borgongini traf zwar nie mit Graziani zusammen, aber die Nuntiatur stand mit dem Kabinett des Marschalls in Kontakt. Auch nach der Befreiung Roms setzte Graziani seine Politik des Entgegenkommens gegenüber der Kirche fort, insbesondere gegenüber Kardinal Schuster; dieser setzte sich nach der Festnahme des Marschalls maßgeblich für ihn ein. Beim Prozess gegen Graziani sagte auch Mons. Ronca für ihn aus. Bei der Gelegenheit gab er an, den Marschall persönlich um Hilfe für das Seminar gebeten zu haben.14 Später teilte mir Ronca mit, er habe mit Graziani über eine Reihe politischer und militärischer Fragen gesprochen; außerdem habe er einen (nicht näher präzisierten) Kontakt zwischen diesem und der Regierung Badoglios hergestellt, auch über Bencivenga. Substitut Montini und Nuntius Borgongini Duca sagten ebenfalls für Graziani aus und betonten, er habe dem Vatikan tatkräftig dabei geholfen, Menschenleben zu retten.
Das Bild dieser „Wohngemeinschaft“ aus ganz unterschiedlichen Personen bekommt noch eine weitere Facette, wenn man bedenkt, dass auch den Angehörigen Badoglios im Lateran Asyl gewährt wurde, nachdem dessen Sohn Mario von den Nazis verhaftet und gefoltert worden war. Der Neffe des Marschalls, Oberst Servetto, bat darum, die Schwester des Marschalls und ihre Angehörigen im Vatikan unterzubringen. Man bot ihnen zunächst einen Platz in einem Kloster an, den Badoglios Verwandten jedoch ablehnten. Daraufhin schickte das Staatssekretariat sie zu Ronca. In den Akten des Staatssekretariats heißt es: „29. Mai. Die drei Frauen und weitere Angehörige ziehen in den Lateran um.“15 So wohnten die Familien der beiden Marschälle, die während der Zeit des Faschismus Rivalen waren und seit dem 8. September 1943 gegeneinander Krieg führten, im Schutz des Vatikans unter einem Dach.
Doch nicht nur aufgrund der Gäste, sondern auch wegen der Finanzierung der heimlichen Aktivitäten war das Profil des Laterans so besonders. Das IOR, die Vatikanbank, schickte diverse Geldsummen, die an diejenigen verteilt werden sollten, die im Untergrund tätig waren wie z.B. die Carabinieri und die Militärs. Kardinal Palazzini, der eng mit Ronca zusammengearbeitet hatte, bestritt, dass das Zusammenleben im Lateran vom Heiligen Stuhl oder von der italienischen Regierung subventioniert worden sei: „Die notwendigen finanziellen Mittel setzten sich allein aus Spenden von Freunden und Wohltätern zusammen, deren christliche und patriotische Gesinnung sie dazu bewegte, einen Beitrag zu diesem nicht zu unterschätzenden finanziellen Aufwand zu leisten, der sich aus den Bedürfnissen einer bis zu 1.000 Personen umfassenden Gemeinschaft ergab.“16 Dies ist wahrscheinlich nicht anzuzweifeln. Es steht außer Frage, dass der Lateran in jenen Monaten horrende Ausgaben hatte.
Lebensmittel zu finden war eins der größten Probleme. Ronca hatte ein eigenes Landgut und nutzte dessen Erträge zur Verpflegung seiner Gäste. Er ließ überdies Rinder ins Seminar bringen und eine Schlachterei eröffnen. Der Ökonom Caraffa, Mons. Vitelli und Gabellini brachen regelmäßig ins Latium und in die Abruzzen auf, um Nahrungsmittel aufzutreiben. Ein Militärfahrzeug brachte die von Marschall Graziani organisierten Lebensmittel (sie waren für die gesamte Gemeinschaft bestimmt – also auch für die Männer des CLN).17 Ronca versorgte das Seminar und einen Großteil der anderen Einrichtungen im Lateran. Dort gab es auch eine Suppenküche für bedürftige Geistliche. Diverse kirchliche Eirichtungen jenseits der lateranischen Mauern wurden vom Lateran mit Lebensmitteln versorgt. Doch dies ist nur ein Aspekt des finanziellen Problems.
Denn da war noch ein weiterer. Im Lateran trafen Zuwendungen der Regierung im Süden ein, die an die Mitglieder der Resistenza verteilt werden sollten. Pietro Palazzini schrieb, er selbst habe an Pfingsten 1944 in der Sakristei der Lateranbasilika etwa 5 Millionen Lire an Soldaten übergeben, die im Untergrund aktiv waren. Überdies bestätigte er 1975 in einem Memorandum, dass in den Räumlichkeiten des Laterans mehrere Sitzungen stattgefunden hätten, bei denen über die Verteilung der Gelder aus dem Süden beraten worden sei. Mons. Caraffa erzählte mir, dass er für derlei Geschäfte die Corsini-Kapelle in der Basilika genutzt habe, in die man durch einen Hintereingang eintreten konnte, wenn der Haupteingang abgesperrt war. Er selbst führte mich durch diese Räumlichkeiten. Gabellini erzählte mir eine ähnliche Anekdote.18 Giulio Castelli, der 1959 einen Band über Rom als offene Stadt veröffentlicht hat, bezeichnete Ronca als den „Hauptschatzmeister des gewaltigen, mehrere Millionen schweren Vermögens jener seltsamen Gemeinschaft“ (i.e. des Laterans und seiner vielfältigen Gäste und Angehörigen).19
Der humanitäre Einsatz im Lateran hatte auch seine politische Seite. Die Priester im Lateran sandten Botschaften an die Männer des CLN und andere Personen, die in Rom tätig waren. Sie waren in der ganzen Stadt unterwegs – mal mit einem Taxi mit dem päpstlichen Wappen, mal etwas diskreter – und ermöglichten dadurch etwas sehr Wertvolles: dass man im Untergrund miteinander kommunizieren konnte. Doch ging man dabei nicht über die Grenzen der vatikanischen Neutralität hinaus?
Nachdem ich in den Jahren 1975 und 1976 mit den Hauptakteuren des heimlichen Treibens im Lateran gesprochen hatte, war für mich klar, dass in jenen Monaten aus einem Gefüge verschiedener Impulse und Erfahrungen eine regelrechte „Maschinerie im Untergrund“ entstanden war. Im Mittelpunkt dieses Prozesses stand Ronca: ein Ausnahmepriester, der bereit war, Risiken einzugehen und dabei auch über den institutionellen Rahmen seines Verantwortungsbereichs hinauszugehen, ein Mann, der die humanitäre und die politische Rolle der Kirche in jener dramatischen Zeit mit Leidenschaft lebte. Mons. Palazzini spielte damals im Umgang mit den Politikern eine besondere Rolle. Er berichtete später, der Rektor habe ihn im September 1943 zu sich gerufen und ihm folgende Überlegungen unterbreitet:
Die Zeiten, in denen wir heute leben, zwingen uns, die Türen des Seminars nicht nur Geistlichen zu öffnen, deren Zahl stark heruntergegangen ist, sondern auch Fremden, die ein Obdach suchen, um ihr Leben zu retten. Du wirst dich besonders hier im Seminar um sie kümmern, die anderen bekommen neue Aufgaben und ihr werdet in absoluter Verschwiegenheit und ganz vorsichtig zusammenarbeiten. Wir werden die Gäste im neuen Flügel des Seminars unterbringen, da es dort einfacher ist, sie in Gruppen aufzuteilen. Der alte Teil des Seminars bleibt den Klerikern vorbehalten. Kein Kontakt zwischen Gästen und Klerikern.20
Ronca hatte also einen klaren Plan. Zweifelsohne lastete seit September 1943, besonders aber nach dem 16. Oktober ein „humanitärer Druck“ auf Ronca. Nicht nur prominenten Persönlichkeiten, sondern auch einfachen Leuten wie Michael Tagliacozzo musste geholfen werden. Mit jedem Tag stieg die Zahl der Gäste in der Hochburg im Lateran. In einem Brief an Pius XII. merkte Ronca an: „Nach dem 15. Oktober stieg die Anzahl der Menschen, die um Hilfe baten, drastisch; hinzu kam, dass die Not immer dringlicher und heikler wurde, ja manchmal waren die Menschen auch in Lebensgefahr. Nicht selten wurden die Hilfesuchenden von ranghohen Persönlichkeiten vorgestellt und wärmstens empfohlen.“
Welche Rolle Mons. Barbieri im Zusammenhang mit den Politikern spielte, haben wir bereits gesehen. Darüber hinaus schalteten sich auch Fürst Carlo Pacelli, Graf Galeazzi sowie die Kardinäle Giuseppe Pizzardo, Pietro Gasparri und Domenico Jorio ein. Mons. Ernesto Ruffini, der der Sekretär der Kongregation für die Seminare und die Studieneinrichtungen und ein renommierter Konsultor in zahlreichen Dikasterien war, sprach Empfehlungen für viele Personen aus und erklärte sich bereit, Roncas Arbeit zu unterstützen. Alfredo Ottaviani bat um Hilfe für einen Oberst. Ein paar Dokumente in Roncas Akten belegen, dass der Rektor täglich unter Druck stand. Nuntius Luigi Centoz etwa bedankte sich im Mai 1944 für einen erwiesenen Gefallen und bat Ronca darum, es einem Gast (dessen Initialen er lediglich nannte) zu gestatten, sich mit jemandem außerhalb des Seminars in Verbindung zu setzen.21
In den Akten des Rektors liegt außerdem der Hilferuf einer Witwe vom März 1943. Es ging um zwei in ihrem Haus versteckte junge Männer: „An wen sollte ich mich inmitten all dieser moralischen und materiellen Nöte wenden, wenn nicht an die Kirche? Könnte die Kirche den Gebeten einer Witwe und eines Kranken ihr Ohr verschließen […]?“ Und sie schloss: „Barmherzigkeit überlegt nicht, und eben deswegen appelliere ich an Ihre Barmherzigkeit.“ Große menschliche Not und dringende Bitten (auch von hohen Persönlichkeiten aus dem Vatikan) brachten Ronca in eine schwierige Situation. In seinen Akten liegt eine Karteikarte (möglicherweise wurden sie routinemäßig ausgefüllt) zu einem Juden namens Raffaele Tesoro, der 1943 verhaftet und wieder freigelassen wurde, weil er mit einer „Arierin“ verheiratet war. Der Jude „wird wahrscheinlich gesucht, um erneut verhaftet zu werden“, heißt es dort. Er bat um Unterschlupf im Lateran. Graf Morosini und die Oberin der Suore di Maria Bambina setzten sich für ihn ein. Auf der Karte vermerkte der Rektor handschriftlich: „ihm helfen“. In einer anderen Notiz in den Akten des Rektors ist von zwei jüdischen und getauften Brüdern die Rede, den Söhnen eines Generals: „Sie sind untergetaucht“, wohingegen die Eltern bei den Kleinen Schwestern der Armen unterkamen. Die beiden jungen Männer, so die Notiz, „sind in ständiger Gefahr, festgenommen oder Opfer eines Racheaktes zu werden“.22 Man sieht: Der humanitäre Druck, der auf Ronca lastete, war immens.
Unter allgemeinem Druck und angetrieben von den gleichen Absichten wie die anderen kirchlichen Einrichtungen Roms setzte sich die „heimliche Maschinerie“ im Lateran in Bewegung. Sie entwickelte sich jedoch zu etwas viel Komplexerem und viel Riskanterem. Im Laufe der Monate wurde der Einsatz immer strukturierter. Da gab es die politische Ebene, die wir am Beispiel der Verwandten Grazianis betrachtet haben. Dadurch, dass die Mitglieder des CLN im Lateran lebten, hatten die Priester im Lateran auch die durchaus reizvolle Gelegenheit, Kontakte zu knüpfen und Einfluss zu nehmen. Denn sie hatten ganz klare Vorstellungen davon, was aus Rom werden sollte: Die Befreiung durch einen Aufstand war zu vermeiden; die Linken sollten nur eine marginale Rolle spielen; bei einer geräuschlosen Übernahme der Kontrolle über die Stadt durch die Alliierten sollten Menschen und Güter geschützt werden; die öffentliche Ordnung sollte gewahrt und eine Guerilla in der Stadt verhindert werden. Darüber hinaus wollte der Rektor nicht die Verantwortung dafür übernehmen, jemanden abzuweisen. Roberto Ronca war jemand, der den Mut und den Unternehmungsgeist hatte, um eine derartige Initiative in Angriff zu nehmen.
Doch unterstützte Pius XII. das, was im Lateran geschah? Billigte er es, dass auf dem abgegrenzten Gebiet um seine Kathedrale so viele Gäste aufgenommen wurden? Befürwortete er den Schutz der Politiker? Wie stark waren Pius XII. und das Staatssekretariat in die Ereignisse im Lateran verwickelt? Freilich war es der Rektor, der die Initiative ergriff, der höchstpersönlich Risiken einging, der sich selbst möglichen Anschuldigungen aussetzte (die jedoch erst am Ende kamen, kurz bevor die Deutschen Rom verließen). Doch ohne die Erlaubnis seines direkten Vorgesetzten, Kardinal Marchetti Selvaggiani, konnte er das Seminar nicht zu einem Ort der Zuflucht machen. In seiner Doppelfunktion als Kardinalvikar für Rom und Sekretär des Heiligen Offiziums (außerdem war er Erzpriester der Lateranbasilika) hatte er mit Pius XII. „Tabellenaudienzen“. Er sah den Papst also regelmäßig. Zusammen mit Eugenio Pacelli hatte er am Collegio Capranica studiert und man sagte, dass er einer der wenigen war, die ihn nach seiner Papstwahl noch duzten. Marchetti war seit jeher ein überzeugter Verfechter der Karriere und des Einsatzes des außergewöhnlichen Rektors Ronca. Zehn Jahre zuvor, in den Jahren 1932 und 1933, hatte er ihn schon bei einer Auseinandersetzung unterstützt und damit Montini hinsichtlich seines pastoralen Wirkens bei der FUCI23 in Schwierigkeiten gebracht.24 Zudem kann man es sich kaum vorstellen, dass Ronca nahezu das ganze CLN und den Stadtkommandanten von Rom ohne die Unterstützung des Staatssekretariats im Seminar unterbrachte. Doch das Beziehungsgeflecht zwischen Ronca und seinen „Vorgesetzten“ ist recht kompliziert.