Читать книгу Der längste Winter - Andrea Riccardi - Страница 8
I
Wohin nur? Die ersten Schritte auf der Flucht
ОглавлениеLibero Raganella war ein junger, noch keine 30 Jahre alter Priester aus der Ordensgemeinschaft der Söhne der Göttlichen Vorsehung. Zusammen mit ein paar Juden, die auf der Flucht waren, befand er sich am 16. Oktober 1943, dem Tag der Razzia, in der Nähe des Bahnhofs Termini. Bald würde die Ausgangssperre beginnen. Wohin sollten sie gehen? Das Klausurkloster Santa Susanna war in der Nähe. Doch die Oberin des Klosters weigerte sich, die Juden bei sich aufzunehmen, da unter ihnen auch etliche Männer waren. Schließlich sagte Don Raganella zu ihr: „Mutter Oberin, Sie müssen die Tür nicht öffnen, sondern nur den Riegel beiseiteschieben. Ich werde dann die Tür aufbrechen. Nicht Sie werden schuld daran sein, dass die Klausur verletzt wurde, sondern ich.“ Und so wurde die Gruppe in der Klausur untergebracht. Ein paar Tage später wandte sich Don Raganella an das Vikariat, die Diözesanverwaltung des Bistums Rom, da er Bedenken hatte, ob er richtig gehandelt hatte. Doch dort sagte man bloß zu ihm: „Gut gemacht!“1
Diese Episode könnte aus einem Abenteuerroman stammen, doch sie schildert genau die Situation, in der sich die Juden, die Römer und die Frauen und Männer der Kirche an jenem 16. Oktober befanden. Was sollte man nach jenem furchtbaren Samstag, dem Tag der Judenrazzia, tun? Eine Flut von Fragen brach über die kirchlichen Einrichtungen herein, unentwegt klopfte es an ihren Pforten. Die Juden auf der Flucht wussten nicht, an wen sie sich wenden sollten. Und es waren viele, besonders im Bereich um das alte Ghetto am Tiber, wo die Razzia am heftigsten gewütet hatte. Eine junge Frau namens Trieste Melappioni arbeitete damals in der Nähe des jüdischen Viertels. Im Kiosk ihrer Familie in der Viale del Re, der heutigen Viale Trastevere, auf der anderen Seite des Tibers verkaufte sie gebrauchte Bücher. Ihr Schwiegervater erfuhr, was gerade mit den Juden geschah, und wies sie an: „Los, lauf und geh zu Giacomino in der Via dei Fienaroli und sag ihm, dass sie dringend fliehen müssen.“ Es ging um eine befreundete jüdische Familie.2 Doch wo sollten sie sich verstecken?
Einen Unterschlupf zu finden, war alles andere als einfach. Wo die Familie unterkam, die Melappioni verständigte, ist nicht bekannt. Aldo Gay floh mit seinem Schwager in ebendiese Viale del Re. Doch die Straße war abgesperrt: „Die beiden versuchten, sich zu verstecken, aber in der näheren Umgebung gab es weder Toreinfahrten noch Geschäfte, nur den kümmerlichen Raum eines Kohlenhändlers, der sie noch nicht einmal zu Wort kommen ließ. Er hatte bereits verstanden und verwies sie auf ein Nonnenkloster in der Nähe.“ Die Schwestern nahmen sie bei sich auf. Gay erzählte, sie seien so verzagt gewesen, dass sie überlegt hätten, sich den Deutschen auszuliefern, doch „die Schwestern flehten uns an, das nicht zu tun“.3
Keiner verstand so wirklich, was da gerade passierte. Vielleicht waren nur die Männer oder nur das jüdische Viertel von der Operation der Deutschen betroffen? Mario Sed Piazza, der in Trastevere wohnte, erfuhr von anderen Juden von der Razzia. Neugierig verließ er sein Haus und begab sich ins Ghetto: „Ich sah, dass die Eingänge zum Viertel von bewaffneten deutschen Soldaten bewacht wurden, sodass es unmöglich war, es zu betreten.“ Da der Rest der Stadt frei war, „glaubte ich“, so Piazza, „dass nur die Juden des Ghettos von der Razzia betroffen seien. Schließlich erfuhr ich aber, dass sie sich gegen alle Juden, gleich welchen Geschlechts, Alters und Rangs richtete.“ Was sollte er tun? Piazza wusste nicht, wohin er gehen sollte, und „nachdem ich lange Zeit durch die Straßen der Stadt gestreift war, kehrte ich nach Hause in die Via Gustavo Modena zurück. Glücklicherweise suchte die SS dort niemanden und daher blieb ich in meiner Wohnung und verließ sie bis zum 10. April 1944 nicht.“4
Emanuele Sbaffi, der Generalsuperintendent der Evangelisch-Methodistischen Kirche Italiens, versuchte am 16. Oktober mit aller Macht, die Deutschen davon abzubringen, die Tür des Hauses von Regina Ottolenghi in der Via di Banco di Santo Spirito unweit der Engelsburg mit einer Axt einzuschlagen. Die Dame war am Morgen zwar telefonisch alarmiert worden, dachte aber, die Razzia betreffe nur die Männer. Baffi und der Portier wiederholten so lange, dass in der Wohnung keiner war, bis die Deutschen es ihnen glaubten und von dannen zogen. Kurz darauf sprang Regina Ottolenghi mit ihrer Tochter aus dem Fenster und verletzte sich dabei schwer. Der methodistische Pastor, der bereits die beiden Fiorentinos bei sich versteckte, nahm sie bei sich auf. Ottolenghis Ehemann wurde jedoch auf der Straße von den Deutschen verhaftet. Die beiden Frauen wollten zu ihm eilen, aber der Pastor hinderte sie daran: „Ich flehte sie an zu schweigen und zusammen mit meiner Frau brachte ich sie in mein Wohnzimmer […]“5
Unzählige Geschichten und Erinnerungen könnten angeführt werden, um von jenem tragischen 16. Oktober zu erzählen.6 Und auch heute noch erschüttert es einen, wenn man bedenkt, was damals mit den Juden passierte. Die jüdische Welt wurde brutal angegriffen. Nur wenige hatten die Gefahr vorausgeahnt. Was passieren könnte und mit welch einer planvollen Entschlossenheit die Deutschen vorgehen würden, konnte man sich nur schwer vorstellen. Nach der Übergabe des Goldes sagte man sich im Ghetto: „Die Deutschen sind anständige Leute, jetzt werden sie uns in Frieden lassen.“7 Der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde, Ugo Foà, beruhigte seine Leute. Der Oberrabbiner Israel Zolli jedoch, der international erfahren war und Freunde und Bekannte in ganz Europa hatte, war der Ansicht, dass die jüdische Gemeinde sich zerstreuen sollte.8 Settimia Spizzichino erzählte: „Ein untergetauchter Antifaschist, Oberst Forti, kam zusammen mit einigen seiner Männer in die Gemeinde, alle waren bewaffnet. Er warnte uns: ‚Übergebt den Deutschen kein Gold. Kauft besser Waffen, um euch zu verteidigen.‘“9 Roberto Spizzichino erinnerte sich: „Damals dachten aber viele Leute, wie auch meine Eltern, dass es nie so weit kommen würde. Der Holocaust war etwas so Absurdes, dass er für viele Juden bis zuletzt vollkommen unvorstellbar war.“10 An jenem 16. Oktober nahm der Albtraum aber Gestalt an.
Einige wohlmeinende Römer warnten die Juden. Bei vielen klingelte am Tag der Razzia im Morgengrauen das Telefon. Es waren Verwandte, Glaubensbrüder, Freunde oder Bekannte. Giacomo Zarfati berichtete, es habe am Morgen des 16. Oktober sehr früh an der Tür geklingelt. Nach einer Weile habe man die Stimme der Pförtnerin vernommen: „Die Arme war ganz aufgewühlt und schluchzte. Flieht, sagte sie zu mir mit gebrochener Stimme, flieht, denn die Deutschen nehmen gerade alle Juden fest.“ Zarfati konnte seinen Bruder warnen, aber nicht seine beiden Schwestern, da sie kein Telefon hatten.11 Doch wohin sollten sie fliehen?
Die Rassengesetze von 1938 hatten die Juden von der römischen Gesellschaft isoliert und alle hatten stillschweigend dabei zugesehen. Man hatte weniger Umgang miteinander, was dazu führte, dass Menschen auf der Flucht vieles fehlte. Rom hatte damals etwa 10.000 jüdische Einwohner. Doch man muss bedenken, dass die Stadt auch zahlreiche Juden von außerhalb anzog: Viele hielten sie für einen sicheren Ort, eine Zufluchtsstadt, sodass sie in Scharen in die italienische Hauptstadt kamen. So beschloss zum Beispiel Alberta Levis Vater, die Familie von Ferrara nach Rom überzusiedeln, weil er Angst vor den Deutschen hatte. Der Bruder des Vaters nahm sie in seinem Haus in der Via Flaminia auf. Levi berichtete: „In einem Brief nach dem 8. September bestand Onkel Mario mit Nachdruck darauf, dass wir nach Rom kommen sollten. Er hatte Dante Almansi, den damaligen Präsidenten der Union der [italienischen jüdischen] Gemeinden, getroffen, der dringend dazu geraten hatte, die Verwandten aus Oberitalien nach Rom kommen zu lassen, da er glaubte, Rom sei eine offene Stadt und die Alliierten würden binnen kurzer Zeit in Rom eintreffen.“
Vor der Razzia hatte man sich um die Männer Sorgen gemacht; man fürchtete, dass sie zur Zwangsarbeit weggebracht werden könnten. Giorgio Soria zum Beispiel „wurde empfohlen, sich von zu Hause zu entfernen“, aber seine Familie blieb dort bis zum 16. Oktober.12 Doch die Leiter der DELASEM, der großen jüdischen Wohlfahrtsorganisation, spürten, dass etwas Furchtbares passieren würde, sodass sie einen Großteil ihrer Unterlagen vernichteten oder versteckten, als sie von der Einnahme Roms durch die Deutschen erfuhren. Und tatsächlich wurde kurz danach ihr Büro durchsucht.13 Die Leiter hatten Kontakte in ganz Europa und ahnten, welche Risiken die deutsche Besatzung für die Juden mit sich brachte. Franca und Gilda Sabatello berichteten:
Die Schwester unserer Mutter, Adele Milano, war mit Aldo Millul verheiratet. Dieser hatte Kontakt zu den Hellers in Wien. Von ihnen hatte er erfahren, was gerade passierte. Er sagte uns deswegen, wir sollten von zu Hause weggehen. Daher zogen wir am 22. September 1943 zu den Canalis um, bei denen wir bis Ende Dezember blieben; dann kamen die Deutschen mit Lastwagen zu unserem Wohnhaus, und dann mussten wir zu den Schwestern gehen.14
Diese Aussage zeigt, dass all jene Juden der Hauptstadt, deren Sensoren über die römische Welt hinausreichten, alarmiert waren. Doch sie waren in der Minderheit. Aus einer Aussage von Salvatore Sermoneta geht hervor, dass die armen Juden des Ghettos sich der Gefahr kaum bewusst waren: „Wir alle waren blind, taub und blind, denn wenn wir gewusst hätten […] Mein Vater sagte nach dem 16. Oktober in einem Moment der Verzweiflung zu uns: ‚Liefern wir uns aus, so kann man nicht weiterleben, sie werden uns in ein Konzentrationslager stecken, das Rote Kreuz wird kommen, es wird uns Essen geben, es wird uns helfen.‘ Wir wussten nichts von den Vernichtungslagern.“15 Alberta Levi erinnerte sich sogar daran, dass in der Familie am 15. Oktober, dem Vorabend jenes Samstags, beim Abendessen verhaltener Optimismus herrschte und alle hofften, dass die Alliierten bald kommen würden. Viele Römer hofften darauf. Doch am 16. Oktober erlosch plötzlich jeder Funke Hoffnung. Wohin sollten all die gehen, die nicht auf den „Bänken“ des Collegio Militare gelandet waren, auf jenen Bänken, an die sich Settimia Spizzichino auch viele Jahrzehnte später noch erinnern sollte?
Einige Verwandte von Alberta Levi gaben sich als katholisch aus und durften daher das Collegio Militare verlassen, wo man die am 16. Oktober gefangen genommenen Juden zentral sammelte. Doch wo sollten sie sich nun verstecken? Als Piera Levi das Collegio Militare verließ, erinnerte sie sich an eine Frau, die am Tag zuvor „sehr freundlich gewesen war“. Sie entschied sich dazu, sie um Hilfe zu bitten, weil sie in Rom sonst niemanden kannte. Einen vorbeigehenden Priester fragte sie nach der Straße und machte sich dann in dieser völlig fremden Stadt auf den Weg zu ihrer potentiellen Retterin.16 Marina Limentani erinnerte sich an dramatische Szenen in ihrer Familie: „Mein Vater weinte ohne Unterlass und sagte: ‚Anna, wir haben die Mädchen untergebracht, aber nun wissen wir nicht, wohin wir gehen sollen, wir haben keine andere Wahl, als uns in den Fluss zu werfen.‘“ Zusammen mit seiner Frau zog Limentani stundenlang durch die Straßen Roms und wiederholte dabei ständig: „Wir wissen nicht, wohin wir gehen sollen, wo wir schlafen sollen, was wir essen sollen […] Es bleibt uns nichts anderes übrig als zu sterben.“17 Doch zufällig trafen sie eine alte Schulfreundin, die sie mit zu sich nach Hause nahm. Sie waren gerettet. Für die einen gab es zufällige Treffen, für andere Freunde. Wieder andere lebten wie Nomaden in der Stadt.
Im Oktober 1943, kurz nach der Übergabe des Goldes, hörten die Faschisten ein Telefongespräch zwischen zwei jüdischen Kaufmännern ab. Einer sagte: „Ich habe erfahren, dass der Papst bei dieser Gelegenheit alle Hebel für uns in Bewegung gesetzt hat!“ Der andere erwiderte: „Wenn man mal ehrlich ist, muss man schon sagen, dass er für uns etwas getan hat, was er bisher noch nie für irgendjemanden getan hat.“ Darauf der Erste: „Und all das passiert in der Wiege der Zivilisation und des Christentums!“ Der Zweite entgegnete ihm: „Ich glaube, dass der Vatikan diesbezüglich schon etwas unternommen hat, doch mit welchem Ergebnis kann man sich wohl vorstellen.“ Und schließlich sagte der Erste: „Wer weiß, was mit uns passieren wird. Wir werden noch dazu bestimmt sein, zum ersten Trupp zu stoßen.“18 Der Vatikan und die Kirche waren für sie also etwas, das Rom besonders machte. Viele Römer teilten diesen Eindruck.