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Die Hochburg im Untergrund

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Auch um diese ominöse Unparteilichkeit des Heiligen Stuhls zu verstehen, wollen wir uns das, was damals im Lateran geschah, aus der Nähe anschauen. Tagliacozzo, der von keiner einflussreichen kirchlichen Persönlichkeit empfohlen wurde, war im Grunde genommen ein Niemand. Doch auf die Bitte einer katholischen Lehrerin hin nahm Ronca ihn sofort auf. Dass es für die Juden nicht mehr möglich war, im besetzen Rom zu leben, war ihm klar; daher half er ihnen. Tagliacozzo war nicht die erste Person, die im Seminar versteckt wurde. Als einer der Ersten kam der Senator Domenico Bartolini im Seminar unter, den der Priester Don Mario Di Sora in den Lateran brachte. Darauf folgten die Minister Umberto Ricci und Leonardo Severi. Laut der von Palazzini zusammengestellten (und wahrscheinlich dem Staatssekretariat übergebenen) Liste kamen die ersten Gäste am 15. Oktober: Es waren Fürst Giovanni Torlonia und sein Sohn sowie ein gewisser Righini (möglicherweise ein Verwandter von Don Claudio Righini, Roncas treu ergebenem Sekretär). Am Tag darauf erschienen Professor Emilio Albertario und ein Verwandter sowie eine Gruppe von Soldaten. Am gleichen Tag wie Tagliacozzo, der in der Liste als 22. aufgeführt wird, kam ein anderer Jude namens Raffaele Menasci. In dessen Haus in der Via Macchiavelli versteckte sich Tagliacozzo später einen Tag lang, als er den Lateran im Februar 1944 für kurze Zeit verließ.

Wann die Politiker kamen, kann man nicht genau sagen. Don Palazzini erinnerte sich aber daran, dass Ronca ihn irgendwann zwischen dem 15. und dem 25. September darum bat, zu Mons. Pietro Barbieri zu gehen, um dort eine Person abzuholen, die er ins Seminar bringen sollte. Er sollte sehr vorsichtig sein. Der Mann, den er mit der Tramlinie 16 in den Lateran begleitete, trug eine Sonnenbrille: Es war Pietro Nenni, ein führender Sozialist. Über Barbieri gelangten nach und nach verschiedene Politiker und im Grunde genommen die gesamte Spitze des CLN in den Lateran. Dieser Barbieri war in der Welt der Politik gut vernetzt; nach dem Krieg bezeichnete man ihn gar als den „Geistlichen der Abgeordnetenkammer“. Er war ein vor Energie nur so sprühender und ideenreicher Priester, der zuvor in den Vereinigten Staaten gelebt hatte (wo er eigenen Angaben zufolge Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti unterstützt hatte) und nun in der Resistenza aktiv war. Benzoni beschrieb ihn als einen „waghalsigen Monsignore […] mit einer schneeweißen Löwenmähne und einer heimlichen Leidenschaft für die Politik […] wie ein Vulkan und ständig darum bemüht, die Bedürfnisse des Komitees [des CLN] in punkto Lebensmittel und Geld zu erfüllen“.16 Er war der Schatzmeister des CLN: Viele erinnerten sich an seine umfangreichen finanziellen Mittel, die er großzügig mit anderen teilte. Durch den Leiter des „Istituto Poligrafico dello Stato“, Luigi Francia, ließ er Tausende falscher Ausweise und Dokumente erstellen, die im Untergrund zum Einsatz kamen. Francia sorgte außerdem dafür, dass die Namen, auf die die Dokumente ausgestellt waren, in die meldeamtlichen Karteien eingetragen wurden. Von etwa 20.000 Ausweisen ist die Rede, die gedruckt und verteilt wurden, um ein ganzes Volk von Untergetauchten zu schützen.17 Barbieri arbeitete mit einem Maristenpriester, Pater Francesco Merlino, zusammen.

Im Hause Barbieris in der Via Cernaia, ganz in der Nähe der Porta Pia, fanden die Sitzungen des CLN statt. Bonomi schilderte die Atmosphäre dort in seinem Tagebuch: „Es ist ein Kommen und Gehen von Menschen, von Männern und Frauen jeden Rangs […] Die politischen Freunde gehören jedem Geschlecht und jeder Couleur an.“18 Elena Carandini bezeichnete sein Haus als ein „freundliches Babel“, in dem sich Antifaschisten frei treffen konnten. Benzoni stimmte dem zu: Für sie war Barbieris Wohnung „eine Art chaotisch-organisierter Seehafen“.19 Barbieri war eine ganz besondere Person im römischen Untergrund; er schaffte es, sich frei zu bewegen, ohne Ärger mit den Deutschen zu bekommen, und schuf dadurch einen geschützten Raum für die Antifaschisten. Damals war er so etwas wie eine lebende Legende, um die sich Geschichten rankten.

Das ständige Kommen und Gehen von Menschen in seiner Wohnung wurde dadurch gedeckt, dass der Priester zusammen mit einer großen Gruppe von Mitarbeitern an der Zusammenstellung der Enciclopedia cattolica arbeitete. Meuccio Ruini fand bei ihm Unterschlupf: Der bekannte Laie war unter Francesco Saverio Nitti Minister gewesen und gründete im Untergrund den „Partito Democratico del Lavoro“. Paolo Dalla Torre, der Sohn des Chefredakteurs des Osservatore Romano, brachte ihn später von der Via Cernaia in den Lateran. Der Minister Marcello Soleri, der Senator und frühere Direktor von Il Giornale d’Italia Alberto Bergamini und viele andere kamen über Barbieri in den Lateran, als der Unterschlupf in der Via Cernaia nicht mehr sicher zu sein schien. Barbieri arbeitete eng mit Ronca zusammen.

Nicht über Barbieri, sondern über andere Persönlichkeiten der Kirche kam wenig später Alcide De Gasperi in den Lateran. Später folgte Giuseppe Saragat, der aus dem Gefängnis Regina Coeli ausgebrochen war. Auch Bruno Buozzi, um dessen Aufnahme Nenni gebeten hatte, wurde erwartet, doch er wurde noch am Abend vor seiner geplanten Ankunft verhaftet.20 Die antifaschistischen Politiker wohnten in einem gesonderten Bereich, Palazzini kümmerte sich um sie. Jeden Tag feierte er mit ihnen in einer kleinen Kapelle die Heilige Messe. An der Sonntagsmesse nahmen alle Gäste außer Pietro Nenni teil. Obwohl es ihm in der Nachkriegszeit häufig vorgeworfen wurde, trug Nenni, der den falschen Namen Don Pietro Emiliano erhalten hatte, ebenso wie alle anderen niemals das Priesterkleid. Im Seminar erinnerte man sich daran, dass Nenni der einzige war, der grundsätzlich nicht an den Gottesdiensten teilnahm, die im Übrigen nicht verpflichtend waren. Manchmal sagte er zu den anderen: „Geht ihr zu eurer Messe; ich erwarte euch zum Kaffee.“21 Kleine Anekdoten wie diese erzählen von einem Zusammenleben mit Menschen, die die Welt der Kirche zum ersten Mal aus der Nähe sahen.

Unter den Politikern war auch der spätere Ministerpräsident Ivanoe Bonomi. Dieser hatte sich am 21. Oktober allein und mit Hilfe von Roncas Mutter in einem Kämmerlein über der Cappella Corsini im Lateran versteckt. Die Abschottung hielt er jedoch nur drei lang Tage aus, weshalb er sein Versteck verließ und ins Haus seiner Neffen zurückkehrte. Da die Lage für ihn jedoch immer brenzliger wurde, beschloss er am 6. November, in den Lateran zurückzukehren, sich aber unter die dort aufgenommenen Politiker zu mischen. Er bemerkte: „Auch das vatikanische Staatssekretariat ermahnt mich, ich solle mich in Sicherheit bringen.“ Einsamkeit war in der Welt im Untergrund ein großes Problem, das manch einen zu unklugen Handlungen trieb. Bonomis Tagebuch entnimmt man, dass er zufrieden darüber war, mit politischen Kollegen zusammenzuleben und mit ihnen zu diskutieren: „Ich habe nicht mehr das Gefühl der Einsamkeit und der Gefangenschaft, das mich dazu bewegte, nach drei Tagen des Eingeschlossenseins zu gehen […] Zusammen mit mir wohnen hier sechs hervorragende Gefährten, die die Gefangenschaft erträglich, ja fast fröhlich machen […] Jeder von uns hat ein eigenes schönes Zimmer mit Licht und fließendem Wasser: Ein langer Korridor dahinter verbindet alle Zimmer miteinander und bietet uns Platz für unsere Spaziergänge.“22

Senator Bergamini, der Begründer des Giornale d’ltalia, schrieb im März 1944 in einem Brief an Pius XII. über die Atmosphäre im Seminar: „Ich habe mich mit ein paar Senatoren versöhnt, denen ich tausendmal auf den Fluren des Senats begegnet bin, ohne sie zu grüßen. Senator Parodi und Senator Giannini, zwei Faschisten und damit meine politischen Feinde, waren direkt neben meinem Zimmer untergebracht. Dann waren dort meine Freunde Casati, Ruini usw.“ Die Dankbarkeit gegenüber dem Papst („Wenn ich wieder schreiben kann, werde ich von diesem Akt der Barmherzigkeit berichten“) ließ den Senator die gebotenen Vorsichtsrichtlinien vergessen: Es war dringend zu vermeiden, in der Korrespondenz die Namen beherbergter Personen zu nennen, solange Rom von den Deutschen besetzt war. Die antifaschistischen Politiker konnten sich frei bewegen, sie verließen, wenn auch unter gewissen Sicherheitsvorkehrungen, das Seminar, um an Sitzungen des CLN teilzunehmen oder um ihren eigenen Dingen nachzugehen. Palazzini erwartete sie hinter der großen Pforte des Lateranpalastes, wo eine Tür angelehnt gelassen wurde, die man bloß drücken musste, um einzutreten. Durch die verschlossene Basilika konnten sie ohne von der Gendarmerie am Eingang gesehen zu werden ins Seminar zurückkehren. Im Gegensatz dazu konnten sich die anderen Gäste des Laterans aufgrund der Risiken, die jeder Kontakt mit der Außenwelt mit sich brachte, nicht so frei bewegen wie die Politiker.

In einem anderen Flügel des Seminars waren weitere Politiker untergebracht: vier zivile Minister der Badoglio-Regierung, darunter Innenminister Ricci, dem der Marschall, bevor er die Hauptstadt verlassen hatte, die Verantwortung über die Regierungsgeschäfte in Rom übergeben hatte. Doch nach dem 10. September tauchte Ricci unter. Außerdem waren dort ein paar Staatsmänner und römische Adlige (darunter der päpstliche Thronassistent Don Aspreno Colonna, die Fürsten Odescalchi, Lancellotti und Torlonia und viele andere). Unter den Gästen waren auch viele Militärs, hohe Offiziere ebenso wie einfache Soldaten. Als die Deutschen Rom verließen und ihren berüchtigten Sitz in der Via Tasso räumten (wo nur wenige hundert Meter vom Lateran entfernt zahlreiche Menschen gefoltert wurden), flüchteten sich sogar etwa 20 Kriegsgefangene in das exterritoriale Gebiet. Dies zeigt, dass allgemein bekannt war, dass der Lateran ein Zufluchtsort war. Auch in der direkten Umgebung der Via Tasso gab es ein paar kirchliche Einrichtungen, in denen Menschen untergebracht wurden, wie z.B. im Haus der Frati Bigi oder im Collegio Santa Maria an der Viale Manzoni.

Zahlreiche Universitätsprofessoren suchten aus Angst vor einer Deportation Zuflucht im Lateran, darunter der Arzt Cesare Frugoni, Giorgio Del Vecchio sowie der jüdische Mathematiker Enriques Agnoletti, der aufgrund der Rassengesetze der Universität verwiesen worden war. Paradoxerweise war unter ihnen auch Nicola Pende, einer der Unterzeichner des „Manifests der rassistischen Wissenschaftler“ von 1938, der anfangs eine biologistische Haltung an den Tag gelegt und sich dann dem so genannten Rassenspiritualismus zugewandt hatte.23 Er wohnte zusammen mit den Juden im Lateran. Mons. Pio Paschini, ein bekannter Historiker der Lateranuniversität, hatte Ronca gebeten, den getauften Juden und angesehenen Wissenschaftler Prof. Giorgio Falco aufzunehmen, der in San Clemente eine vorübergehende Bleibe gefunden hatte. Außerdem wurden dort Personen beherbergt, die erst später zu Berühmtheit gelangen sollten wie z.B. Giangiacomo Feltrinelli24 oder Raniero Panzieri, der spätere Begründer der Quaderni Rossi.25 Und daneben gab es unzählige Unbekannte, die auf den unterschiedlichsten Wegen in den Lateran gelangten.

Die jüdischen, ausschließlich männlichen Gäste bildeten eine große, mindestens 50 Personen umfassende Gruppe. Unter ihnen waren viele unbekannte Gesichter, aber auch bekannte Personen wie der Geograf Roberto Almagià. Sie belastete nicht nur die Ungewissheit ihrer eigenen Situation, sondern auch die Tatsache, dass sie nicht wussten, was aus ihren deportierten und untergetauchten Angehörigen geworden war. Im Dezember 1943 bat Angelo Sonnino in einem Brief an Ronca um Erlaubnis, „ein winzig kleines Radio [zu benutzen], um die Monotonie des langen Tages zu durchbrechen“.26 Aus den Akten des Seminars geht hervor, dass einige Juden, unter ihnen Tagliacozzo und Raffaele Menasci, falsche Taufscheine bekamen.

Der Überfall der Faschisten auf die Abtei Sankt Paul vor den Mauern im Februar 1944, von dem später die Rede sein wird, war für die Welt im Untergrund ein Schock. Er erweckte den Eindruck, dass die Flüchtlinge nicht einmal mehr unter dem Schutzmantel der Exterritorialität sicher waren. Viele Untergetauchte reagierten panisch und wechselten ihre Unterkunft. Die kirchlichen Oberen konnten für nichts garantieren und hatten häufig die gleichen Befürchtungen wie ihre Gäste. Michael Tagliacozzo verließ den Lateran, kam im Haus eines Freundes unter, wohnte eine Nacht lang in der Baptistenkirche und fand dann Unterschlupf im kleinen Haus des Adventistenpastors Daniele Cupertino. Auch Anselmo Ammenti, der Pfarrer der Kirche in der Via XX Settembre, half ihm (und ein paar anderen Juden wie der Familie von Settimio Sorani; er kooperierte mit der DELASEM und stellte falsche Dokumente aus, die im Kellergewölbe seiner Kirche hergestellt wurden27). Dieser besorgte ihm falsche Dokumente. Doch der Lateran blieb Tagliacozzos Bezugspunkt, weil er dort zu essen bekam. Er bat Palazzini schließlich darum, zurückkehren zu dürfen. Einer seiner Brüder war im „Protettorato di San Giuseppe“ in der Via Nomentana untergebracht, wo insgesamt 17 Juden unterkamen. Im März 1944 durfte er in den Lateran zurückkehren und wurde unter dem falschen Namen Mario Bonfiglio im Gebäude der Bußkanoniker untergebracht.

Dort traf er auf eine große Gruppe von etwa 20 jüdischen Gästen, zu der auch der Bruder und der Schwager des Geografen Almagià gehörten. Häufig wurden mehrere Mitglieder einer Familie aufgenommen, jedoch stets ausschließlich Männer. Außerdem wohnten dort zahlreiche Nichtjuden: vier Offiziere der Luftwaffe, Mitglieder der „Fronte Militare Clandestino della Resistenza“ (Geheime Militärische Widerstandsfront, FMCR), ein Major des Heers mit seinem Sohn, verschiedene Wehrdienstverweigerer und ein südafrikanischer Kriegsgefangener. Die unterschiedlichsten Personen lebten in den kirchlichen Einrichtungen zusammen unter einem Dach. Tagliacozzo erinnerte sich daran, dass er seine Zeit damit verbrachte, Bücher und Zeitungen – darunter manchmal auch die Unità28 – zu lesen und Radio zu hören. Man wartete auf die Alliierten (dies entnimmt man einem Dokument vom April 1944), die Atmosphäre war eher entspannt. Mario Tagliacozzo, der mit Michael nicht verwandt war, beschrieb die Ungewissheit darüber, wie lange man noch würde warten müssen.29 Aus einer Aussage von Michele Di Veroli geht jedoch auch hervor, dass man alarmiert war: „Nachts hatte ich Dienst auf den Dächern und passte auf, dass die Deutschen uns nicht überfielen, wie sie es in der Basilika San Paolo getan taten.“30

Die Flüchtlinge spielten Karten. Michael Tagliacozzo kümmerte sich um die Wäsche. Ihn interessierten auch Religionsfragen, über die er sich häufig mit Palazzini und manchmal mit Ronca unterhielt. Er verkehrte mit den franziskanischen Bußkanonikern der Basilika, deren Leiter Pater Ireneo Squadrani war.31 Unter ihnen war auch ein Deutscher, Pater Ludwig. Auch zu den Konversen hatte er Kontakt, zu Fra’ Giulio, dem Koch, und zu Fra’ Marco, dem Pförtner. Tagliacozzo ging manchmal zur Vesper in der Kapelle der Bußkanoniker und nahm auch an der Christmette teil, die Mons. Traglia im Seminar feierte. Für die Juden war es ein wichtiges Anliegen, an dieser liturgischen Feier teilzunehmen, da sie dadurch ihre Dankbarkeit bekunden wollten. Traglia sagte zu ihnen: „Dankt nicht mir, sondern dem Heiligen Vater, der euch liebt und beschützt.“ Während der Feier blieben sie hinten in der Kirche stehen. Bei dieser Gelegenheit erfuhr Tagliacozzo von Prof. Del Vecchio, zu dem er ein gutes Verhältnis hatte, dass Pius XII., sofort nachdem er von der Razzia vom 16. Oktober erfahren hatte, seinen früheren Schulkameraden am Liceo Visconti, Prof. Attilio Ascarelli, hatte suchen lassen, um ihm einen Unterschlupf zu geben.32

Aus Angst vor einem Überfall der Deutschen wurde im Palazzo dei Penitenzieri ein Versteck hinter einer falschen Tür hergerichtet. Später beschloss man, den Keller dafür zu nutzen. Tagliacozzo plante, sich in einem solchen Falle an einem bestimmten Platz in der Bibliothek zu verstecken. Caraffa berichtete mir, dass sich auch die Politiker in einem kritischen Moment im Untergeschoss der Basilika versteckt hätten. Gabellini erinnerte sich daran, dass er die Politiker nach einem falschen Alarm durch die engen Gänge unterhalb des Seminargebäudes geführt hatte, durch die die Rohrleitungen verliefen. Dorthin gelangte man durch eine Falltür in den Bädern des ersten Stocks. Nenni sei hinabgestiegen, so Gabellini, und habe währenddessen Dokumente zerstört, indem er sie einfach zerkaute. Gabellini hielt fest: „Danach schloss ich die Falltür wieder und verdeckte sie mit einem Stoß Geschirrtücher […]“33 Zudem berichtete er, De Gasperi habe bei der Gelegenheit gesagt: „Wenn die Deutschen kommen, die nun mal jedes Loch kennen und jede Klappe öffnen, werden sie uns diesmal wirklich töten.“ Nenni soll erwidert haben: „So werden du mit deiner Vorsehung und ich mit meinem Schicksal am Ende den gleichen Tod sterben.“34 Im Januar und im Februar waren alle sehr verängstigt. Am 31. Januar 1944 berichtete Bonomi in seinem Tagebuch von einem Alarm:

Ein Trupp betrunkener Deutscher, die grölend vor den Toren des Laterans lungerten, ließ uns einen Überfall vermuten. Über eine Stunde lang blieben wir in einem unterirdischen Gang, wo wir nichts anderes tun konnten, als in schwärzester Dunkelheit dazuhocken. Was hätten die Deutschen für eine gute Beute gemacht, wären sie bis dort unten gekommen! Beinahe das ganze Befreiungskomitee, neben mir Casati, De Gasperi, Ruini, Nenni und Solari, hätten sie in jener ausweglosen Falle gefangen nehmen können.35

Und dies war nicht der einzige Alarm. Wenn die Faschisten oder die Deutschen dem Seminar einen Besuch abgestattet hätten, hätte man ihnen erklären müssen, wer denn die vielen Gäste waren. Anfangs, als erst etwa 25 Flüchtlinge im Seminar untergebracht waren, trugen alle das Priestergewand. Viele von ihnen verlangten sogar danach. Gabellini berichtete, dass das Gewand nur in Ausnahmefällen und vorübergehend getragen worden sei, auch weil man nicht genug Gewänder gehabt habe, um sie allen anzubieten.36 Viele baten um eine Beschäftigung, die ihre Anwesenheit im Lateran rechtfertigen könnte. Ein Flüchtling, der sich als Anführer der ganzen Gruppe präsentierte, äußerte diese Bitte. Ronca stand dem eher kritisch gegenüber und reagierte ausweichend.

Alle Gäste bekamen falsche Namen. Einer Mitteilung der Seminarleitung an das Staatssekretariat ist zu entnehmen, dass der Vorschlag, falsche Namen zu verwenden, von den Gästen selbst ausging. Diese verwendeten sie dann in ihrer Korrespondenz und bei jedem Kontakt mit der Außenwelt. Überdies kontrollierte das Seminar die Korrespondenz Brief für Brief, um zu vermeiden, dass durch die Rücksichtslosigkeit eines Einzelnen alle in Gefahr gebracht wurden. Auch das war sehr aufwendig: Jeder Kontakt zwischen den Flüchtlingen und der Außenwelt musste gefiltert werden. Eine Notiz in den Akten des Seminars enthüllt die gut durchdachte Methode, mit der die Gäste mit der Welt außerhalb des Seminars korrespondierten. Weder der Begriff Seminario Romano noch der eigene Name durften jemals genannt werden, sondern lediglich eine Zahl. Der Pfarrer oder der Vikar von San Salvatore in Lauro kamen jeden Montag ins Seminar, um Briefe und Pakete in Empfang zu nehmen, die in den folgenden Tagen in der nahe gelegenen Pfarrei in der Via dei Coronari abgeholt wurden.37

Dennoch kann man sich kaum vorstellen, dass es möglich war, eine so große Gruppe von Flüchtlingen zu verstecken, wenn diese weiterhin (wenn auch unter falschem Namen) Kontakt mit der Außenwelt und ihren Familien hatten. Als das Staatssekretariat eine Auflistung der Namen aller beherbergten Personen anforderte, wollten es die Vorgesetzten lieber vermeiden, an der Zusammenstellung dieser Liste beteiligt zu sein, auch wenn es sich nur um die falschen Namen handelte. Die Betroffenen selbst übernahmen schließlich diese Aufgabe. Darüber hinaus gab es das Problem der Ausweise. Einige wollten über den Vatikan an einen Personalausweis kommen. Ronca bemerkte: „Nachdem hohe Persönlichkeiten im Governatorat mich dazu ermutigt hatten, habe ich lediglich versucht, für einzelne Betroffene eine Kennkarte des Staates der Vatikanstadt zu bekommen.“38 Den Versuch, an falsche Dokumente zu kommen, die in kirchlichen Kreisen und im Untergrund weit verbreitet waren, unterstützte er jedoch nicht.

Wegen der verschiedenen Nachrichten, die das Seminar erreichten, und der langen untätig zugebrachten Tage herrschte manchmal eine angespannte Stimmung unter den Gästen. Gabellini berichtete: „Die Tage im Seminar verstrichen langsam und monoton, sie waren voller Gefahren und Ängste, und ein Ende war nicht abzusehen […]“39 Ronca beobachtete im Kontakt mit den Flüchtlingen „[…] die psychologischen Beweggründe der Flüchtlinge, sich immer stärker verstecken zu wollen; und in bestimmten Fällen kann man gar nichts anderes tun, als dafür zu sorgen, dass man ihnen so gut wie eben möglich entgegenkommt.“40 Es sind winzige Einblicke in eine Welt der Probleme und der Spannungen. Die Erinnerung an diese acht Monate wurde schließlich durch den Beginn eines neuen Lebens nach der Befreiung, durch die Dankbarkeit gegenüber den Rettern und den Wunsch, eine traurige Phase des Lebens schnell wieder zu vergessen, jäh ausgelöscht.

Die langen Tage im Seminar mit Inhalt zu füllen, war ein großes Problem. Mons. Motylewski, ein Mitarbeiter Roncas, stellte einen Pressebericht mit verschiedenen Nachrichten zusammen, auch auf der Grundlage der Sendungen verschiedener Radiostationen. Bonomis und Palazzinis Erinnerungen ist zu entnehmen, dass unter den Politikern Diskussionen zur Zukunft des Landes an der Tagesordnung waren. Pietro Nenni arbeitete an einer Geschichte des Sozialismus. In einer Notlage übergab er Palazzini das Manuskript zur Verwahrung: Als „eine Geschichte der Spaltung“ bezeichnete sie der Priester in den Siebzigerjahren. In seinen Memoiren scheint der sozialistische Führer die im Lateran verbrachte Zeit herunterspielen zu wollen, ohne sie jedoch zu verheimlichen. Denn obwohl er das Seminar zwischendurch für ein paar Tage verließ, blieb es sein fester Bezugspunkt.41 Während eines Ausgangs im Dezember 1943 erwarb Nenni eine Korbflasche Wein, die er an ein Geschäft zustellen ließ, das Verwandten von Don Righini gehörte. Das Schreiben, in dem er Righini darum bat, sie ins Seminar zu bringen, liegt in den Akten – ein positives Fragment jener schwierigen Monate.

Auch die Familien der Gäste stellten ein gewisses Problem dar. Als Francesca De Gasperi ins Seminar kam, um ihren Mann zu sehen, war Palazzini in großer Sorge, da er befürchtete, dass man sie auf ihrem Weg dorthin beschattet haben könnte. Barbieri brachte die Frauen Bonomis und Casatis bei den Schwestern vom Coenaculum am Corso d’Italia unter und erwirkte dann, dass sie in den Lateran gebracht wurden. Nenni war besorgt um seine verschollene Tochter Vittoria, die in Paris gelebt hatte und von den Nazis interniert worden war. Am 2. Januar 1944 bat er Ronca um Erlaubnis, die schwedische Gesandtschaft in Rom zu kontaktieren. Er verwies auf seine guten Beziehungen zu führenden schwedischen Sozialdemokraten und bat darum, der internierten Tochter durch das Schwedische Rote Kreuz Lebensmittel zukommen zu lassen (nach der Befreiung stellte sich jedoch heraus, dass sie da bereits tot war). Ganz unterschiedliche Welten kamen im Lateran zusammen. Dieses Miteinander war so eigenartig, dass irgendwann das Gerücht ans Ohr Pius’ XII. drang (der es dann Giorgio La Pira weitererzählte), Nenni fluche im Lateran. Doch es handelte sich nur um Geschwätz.

Für die Juden waren es schwierige Zeiten. Tagliacozzo, der sich häufig mit den Geistlichen unterhielt, konnte sich jedoch nicht daran erinnern, dass man jemals versucht hätte, ihn zur Konversion zu bewegen, oder auch nur unterschwellig Druck ausgeübt hätte. Für interessierte nichtpolitische und nichtjüdische Flüchtlinge wurde unter der Leitung des Dogmatikdozenten Mons. Fares eine religiöse Fortbildung mit wöchentlichen Sitzungen und einem Gottesdienst in der Lateranuniversität angeboten. Und auch an Weihnachten wurden für die verschiedenen Gruppen von Gästen Feierlichkeiten organisiert.

Auch wenn die einzelnen Gruppen strikt voneinander getrennt lebten, lag das Hauptproblem darin, das Alltagsleben zu organisieren und riskanten Verzweiflungstaten zuvorzukommen. Denn dadurch, dass im Laufe der Zeit die Angst vor den Deutschen abnahm, wurden viele leichtsinnig und brachten sich in Gefahr, etwa um der Monotonie des Alltags zu entfliehen, das normale Leben wieder aufzunehmen oder einfach um liebe Menschen wiederzusehen. Daher bedurfte es einer umsichtigen Regie, die ganz in den Händen Roncas lag. Konfrontiert mit dem plötzlichen Hilferuf so zahlreicher Menschen wurde der Rektor zum Verwalter eines komplizierten und aufwendigen Phänomens, das er in den Rahmen seiner Institution integrierte. Er versuchte, Lebensqualität in einen Zustand zu bringen, von dem keiner wusste, wie lange er andauern würde.

Der längste Winter

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