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Die Kirche als Quell des Friedens
ОглавлениеEs ist nicht ganz einfach nachzufühlen, wie die Römer damals, in einer Zeit der eingeschränkten Freiheit, empfanden. Schon 1942 beobachteten viele Spione des faschistischen Regimes, dass die Römer sich mehr und mehr dem Papst zuwandten: „Das Volk“, so heißt es im März 1943, „nähert sich mit großer Begeisterung dem Vatikan an und der Plebs setzt allgemein große Hoffnungen auf den Papst.“ Es ging das Gerücht um, der Papst verhandle über einen Separatfrieden für Italien; „alle Familien hoffen auf diesen Frieden“.19 In der allgemeinen Vorstellung war der Papst ein Quell des Friedens. Man hoffte darauf, dass Rom seinetwegen nicht bombardiert werden würde.20 Die Bombardierung von San Lorenzo am 19. Juli war, wie die Informanten festhielten, für die Römer ein schwerer Schlag: Rom war geschändet geworden. Dass Pius XII. das bombardierte Viertel besuchte, traf genau den Nerv der Römer und bestätigte gewissermaßen die direkte Verbindung zwischen dem „römischen“ Papst und seiner Stadt: „Der Auftritt des Papstes stieß in verschiedenen Kreisen des Volkes auf große Zustimmung. Das Volk war in einem wahren Delirium“, liest man in einem Polizeibericht. Das Volk, das sich um Pius XII. scharte, rief: „Frieden! Frieden!“ Carlo Sommaruga, ein Schweizer Diplomat, war dabei, als der Papst das Viertel San Giovanni besuchte. In einem Brief an seine Frau berichtete er von diesem Ereignis: „Du kannst dir gar nicht vorstellen, was da los war, Applaus, Menschen, die riefen: ‚Wir wollen den Frieden‘, Fluche, ‚Warum handelst du nicht den Frieden ein?‘ Es war wunderbar, den Heiligen Vater ohne jemanden anderen inmitten der Menschenmassen zu sehen.“21
Auch am 13. August wurde Rom bombardiert und auch danach besuchte Pius XII. die betroffenen Viertel. Bei den Bombenangriffen war der Pfarrer der Gemeinde Sant’Elena in der Via Casilina, Raffaele Melis, ums Leben gekommen. Fiorenzo Angelini, der junge Vikar der Gemeinde Natività di Nostro Signore Gesù Cristo unweit der Lateranbasilika, schilderte sein zufälliges Zusammentreffen mit Pius XII., der das Viertel ohne seine Schutzgarde besuchte, folgendermaßen:
Plötzlich stand ich in einer Straße in der Nähe der Villa Fiorelli und sah dort ein schwarzes Automobil, in dem der Papst, Pius XII., zusammen mit Mons. Giovanni Battista Montini und dem Grafen Enrico Galeazzi saß […] Die Straße war fast leer und das Automobil stellte sich mir, der ich von unten kam, in den Weg, so als käme es mir entgegen. Auf der Mitte der Straße stehend breitete ich die Arme aus, schrie und deutete darauf hin, dass ganz in der Nähe, direkt hinter mir in einem Krater, eine große Fliegerbombe zu sehen war, die noch nicht explodiert war […] Der Papst stieg aus dem Fahrzeug aus und die Menschen rannten erfüllt von sehnlicher Liebe auf den Mann zu, der besonders in jenem Moment der einzige Anhaltspunkt für eine Rettung war. Geschrei, Gezeter gegen die Regierung, gegen den Krieg, Flehen um Frieden; ich erinnere mich daran, dass auch ich unter diesen Umständen die Menge mitriss und zu einer Beendigung des Krieges und zum Gebet für den Frieden aufrief. Der Papst war ergriffen, er stand wie versteinert und mit gefalteten Händen da […]
Auch nach 192922 waren Besuche des Papstes in der Stadt nicht an der Tagesordnung. Dass Pius XII. am 19. Juli und am 13. August fast ganz allein und ohne seine Sicherheitsleute in der Stadt erschien, erhob ihn in der Vorstellung der Römer zur Bezugsperson in der Krise jener dramatischen Tage. So sah das Angelini. Er berichtete, dass die Menschen seiner Gemeinde den Klerus um Rat baten, die Kirche als einen geschützten Raum empfanden und sich während der Bombenangriffe in die Krypta flüchteten.23
Für viele Römer begannen Zeiten der Verwirrung und schwieriger Entscheidungen. An wen sollte man sich wenden, wenn man nicht mehr weiterwusste? Mons. Giovanni Antonazzi, der damalige Ökonom des Kollegs der Propaganda Fide auf dem Gianicolo, notierte im Oktober 1943 in seinem Tagebuch: „Nicht wenige kommen und bitten um Rat, ob sie sich nun der Republik von Salò anschließen oder dem König treu und in Rom bleiben sollen.“ Die Antwort des Priesters war, nicht zu kämpfen, sondern „nach dem eigenen Gewissen zu handeln“. Antonazzi betonte: „Es handelt sich dabei nicht um eine politische Einschätzung der Lage, sondern um ein moralisches und persönliches Problem, besonders bei denjenigen, die Familie haben.“24
Was sollten die tun, die den faschistischen Wehrdienst verweigerten? Die Zahl der Verweigerer war in der Landeshauptstadt Rom höher als im Rest Italiens: Etwa 15–20 Prozent mehr Männer als in anderen Städten verweigerten den Dienst an der Waffe. Die alliierten Geheimdienste schätzten gar, dass sich nur zwei Prozent der Römer auf die Einberufung durch die Deutschen oder zum Wehrdienst der Republik von Salò meldeten. Daher musste ein Großteil der jungen männlichen Römer untertauchen.25 Wie viele andere Römer mussten sich die Wehrpflichtigen auf die Suche nach einem Unterschlupf machen.
Elena Carandini Albertini, die in vielen unterschiedlichen Kreisen der Stadt verkehrte (unter anderem kannte sie den Schweizer Diplomaten Carlo Sommaruga, der der Schwiegersohn des bekannten römischen Kinderarztes Francesco Valagussa war), beobachte scharfsinnig, was im besetzten Rom vorging. Ihr Tagebuch zeugt von einer liberalen Geisteshaltung und einem religiösen Denken, das im Dunstkreis des modernistischen römischen Priesters Ernesto Buonaiuti gereift war. Sie beobachtete: „Verstecken, verstecken, man hört nur noch verstecken. Jedes Haus hat sein Geheimnis.“26 Auf einem faschistischen Plakat war ein hinter Fensterläden versteckter Mann abgebildet, darunter der Kommentar: „Der Feigling versteckt sich, während der Eindringling das Vaterland zerstört.“27 Wie viele Personen es genau waren, die sich in Rom in jenen Monaten versteckten, lässt sich nicht sagen; schätzungsweise waren es zwischen 200.000 und 400.000 Menschen. Mit der Zeit stieg die Zahl derer, die um Asyl baten.
Nach Erlass des Dekrets vom 18. Februar 1944, durch das den Einberufenen, die sich nicht meldeten, sowie den Wehrpflichtigen der Jahrgänge 1923, 1924 und 1925 die Todesstrafe angedroht wurde, wuchs die Schar derer, die nach einem Unterschlupf suchen mussten. Fulvia Ripa di Meana bemerkte Anfang 1944: „Auf den Straßen der Stadt sind bloß Frauen, Frauen und wieder Frauen, außerdem Kinder und Männer mittleren Alters unterwegs […]“28 Frauen waren die Hauptakteure im alltäglichen Leben jener Monate, auch weil die Bewältigung der Probleme des Alltags nun auf ihnen lastete. Mons. Patrick Carroll-Abbing, ein irischer Priester, der sich in Rom für Kinder engagierte, beobachtete: „Die Frauen erwiesen sich womöglich als gelassener als die Männer.“29 Auf Carlo Trabucco wirkte Rom Ende Oktober wie ausgestorben: „Gut ein Drittel der Einwohner ist aus dem Verkehr verschwunden.“ Die Römer lebten in einer Atmosphäre, die von der Jagd auf den Menschen geprägt war, und in ständiger Angst, verhaftet zu werden: „Wenn man in eine Tram einsteigt, ist es wichtig, dass man sofort in Richtung der vorderen Plattform voranpirscht, um die Lage zu erkunden“, hielt Trabucco fest.30
Mons. Antonazzi erinnerte sich daran, dass die jungen Leute ihn anfangs nur fragten, was sie tun sollten; mit der Zeit hörte er aber immer häufiger eine andere Frage: Wo sollen wir uns verstecken? Dieses Gesuch um Asyl war für die religiösen Einrichtungen, die einen Raum des in sich geschlossenen und streng umgrenzten Lebens darstellten, etwas ganz Neues. Niemals in ihrer Geschichte, vor allem der der letzten Jahrhunderte, waren Priester und Ordensleute so eindringlich mit einem derartigen Problem konfrontiert worden. Seit Beginn des Krieges war der Klerus in das Leben der Römer miteinbezogen und half denen, die sich in Notsituationen befanden. Doch das Gesuch um Asyl war eine andere Sache.
Die meisten Wehrdienstverweigerer und Offiziere baten noch vor den Juden um Asyl. Bei den Juden fühlten sich die Männer am stärksten bedroht, da sie befürchteten, zu Zwangsarbeit verpflichtet zu werden. Celeste Sonnino, eine Jüdin aus Testaccio, erzählte, dass ihr Vater und die älteren Brüder sich bereits vor dem 16. Oktober versteckt hätten, während die Frauen und die kleineren Brüder im Haus geblieben seien.31
Nach dem 8. September bekam Don Libero Raganella (den wir bereits kennengelernt haben) Besuch von Questore Morazzini, dem früheren Kommissar von San Lorenzo, der ihn darum bat, seinen Sohn bei sich unterzubringen. Der Priester notierte daraufhin: „Es wird vereinbart, dass der junge Morazzini in der Gemeinschaft verbleibt und den Talar trägt, so als wäre er Theologiestudent.“ Ein paar Tage später kam Francesco Saverio Cacace, der Kommissar des Arbeiterviertels San Lorenzo, um mit Raganella über die Antifaschisten des Bezirks zu sprechen, die er überwachen sollte. San Lorenzo hatte heftigen Widerstand gegen das Regime geleistet, sodass es zu Schießereien gekommen war, als Giuseppe Bottai beim Marsch auf Rom das Viertel betreten hatte. Der Kommissar bat den Priester darum, die gefährdeten Antifaschisten zu warnen. Raganella ging daraufhin von einem Haus zum anderen und warnte jeden Einzelnen. „Ich hätte nie gedacht, dass ausgerechnet ein Priester einem Kommunisten helfen würde“, entgegnete ihm einer von ihnen.
Raganella erläuterte dem Kommunisten daraufhin die Gründe für sein Handeln: „Es geht darum, Menschen zu retten und zu vermeiden, dass sie in die Hände der Deutschen fallen. Was den Kommunismus und den Antikommunismus angeht: Darüber reden wir in besseren Zeiten.“ Menschenleben retten – dies war das Motiv, das die meisten Ordensleute damals dazu bewegte, aktiv zu werden. Gegenüber dem Kommunisten Renato Gentilezza, der ihm bekannte, er sei der erste Priester, mit dem er sprach, und dass es ihn sehr freute, ihn zusammen mit Antifaschisten zu sehen, stellte Raganella klar: „Ich bin weder auf eurer Seite noch auf der von irgendjemandem anderen. Ich bin Priester und stehe nur denen zur Seite, die mich brauchen. Persönliche politische Meinungen spielen hier keine Rolle. Es geht darum, vereint zu sein gegen eine gemeinsame Gefahr […] Ein jeder behalte seine Meinungen für sich. Ich frage niemanden, wessen Flagge er schwenkt. Wenn jemand Hilfe braucht, bekommt er sie, was den Rest angeht, ist es seine Sache.“
Raganella half auch den Partisanen der so genannten „Gruppi di Azione Patriottica“ (Patriotische Aktionsgruppen, GAP), forderte von den Mitgliedern jedoch eine förmliche Verpflichtung: „Kein Anhänger der GAP darf im Bereich dieses Viertels agieren […] Wenn ich mich hier engagiere, dann weil ich möchte, dass im Viertel nichts passiert. Die Menschen haben schon genug gelitten und ich möchte nicht, dass sie auch noch unter irgendwelchen Vergeltungsmaßnahmen leiden müssen […]“ Der Priester versprach zu helfen, aber unter einer Bedingung: Im Viertel sollte nicht gekämpft werden, San Lorenzo sollte sich nicht in ein Schlachtfeld verwandeln. Im Kleinformat – wenn man das so vergleichen kann – ist das das Ziel, das Pius XII. für die Stadt Rom verfolgte: Gewalt verhindern und den Menschen in Not helfen. Dieses Ziel verfolgten während der deutschen Besatzung viele Priester und Ordensleute. Raganella verkehrte mit Juden, Kommunisten, Antifaschisten und untergetauchten britischen Soldaten, doch er blieb stets Priester und vergaß nie sein Amt. Lachend entgegnete er dem Kommunisten Gentilezza, der ihm seine Hochachtung ausdrückte: „Das ändert nichts daran, dass ich bereit wäre, dir die Beichte abzunehmen, falls du dich eines Tages doch noch dazu entscheiden solltest, den rechten Weg einzuschlagen und all das zu beichten, was du verbrochen hast; und ich würde dir eine Buße auferlegen […] eine ordentliche Buße, an die du dich noch eine ganze Weile erinnern würdest.“32
Schon vor dem 16. Oktober hatten religiöse Einrichtungen Menschen geholfen und sie versteckt. Es handelte sich dabei primär um Militärs, Wehrdienstverweigerer und ein paar Juden. Einige jüdische Familien hatten dem Anschein der Ruhe nach dem 8. September nicht getraut: „Wir hatten begriffen, dass es nicht in Frage kam, in unseren Wohnungen zu bleiben“, erzählte Giuseppe Fuà. „Es wurde ein Familienrat bestehend aus meinem Vater, meinem Onkel und anderen Onkeln einberufen, der beschloss, das Haus zu verlassen.“ Die Entscheidung wurde gefällt, nachdem von der jüdischen Gemeinde 50 Kilo Gold gefordert worden waren.33 Die Deutschen wiederum befürchteten, dass man den Juden die Möglichkeit gab, sich zu verstecken, wenn man die Razzia zu lange hinauszögerte. Dies betonte Kaltenbrunner ausdrücklich in einer Nachricht an Kappler vom 11. Oktober 1943: „Je länger es sich hinzieht, desto mehr Juden, die ohne jeden Zweifel an Evakuierungsmaßnahmen arbeiten, bekommen die Gelegenheit, in die Häuser judenfreundlicher Italiener umzusiedeln oder ganz zu verschwinden.“34
Doch nach der Razzia vom 16. Oktober spitzte sich die Lage zu. Warnungen machten die Runde. Als Don Raganella darüber informiert wurde, dass man Jagd auf die Juden machte, eilte er, um eine jüdische Familie in der Via dei Volsci zu warnen. Die Brüder Perugia brachte er bei den Figlie di Maria Santissima dell’Orto in der Via Tiburtina Vecchia unter. Deren Oberin war damit einverstanden, konnte aber für den Fall einer Durchsuchung kein sicheres Versteck bieten: „Sie beherbergt bereits Dr. Müller, einen deutschen Juden, der seit geraumer Zeit in Rom lebt.“ Ein Maurer aus San Lorenzo richtete schließlich im Keller einen Unterschlupf her. In den folgenden Monaten nahm diese Gemeinschaft, bei der Don Raganella jeden Tag die Heilige Messe feierte, weitere Juden auf. Doch die Brüder Perugia fühlten sich in der klösterlichen Klausur etwas unwohl und zogen in die Abruzzen. Dort wurden sie von den Deutschen verhaftet und nach Auschwitz gebracht. Nur zwei von ihnen kehrten aus dem Lager zurück.
Natürlich waren es nicht nur Ordensleute, die den Juden halfen. Vielen halfen Freunde. Piera Bassi Levi und ihre Mutter Bianca gaben im Collegio Militare vor, katholisch zu sein, und wurden deshalb entlassen. Sie machten sich auf den Weg nach Hause und bogen auf eine Tiberbrücke ab: „Auf der Hälfte der Brücke kam uns ein Priester entgegen. Er musste gemerkt haben, dass ich verängstigt war, wie ich da mit der einen Hand meine Mutter hinter mir herzog und in der anderen einen Koffer trug. Er hielt uns an und fragte: ‚Entschuldigen Sie, kann ich Ihnen behilflich sein?‘ Ich war so verschreckt und hatte Angst vor allem, was um mich herum geschah. In diesem Moment sagte ich bloß: ‚Nicht nötig, nicht nötig.‘“ Piera, die zu traumatisiert war, um vertrauen zu können, schaffte es bis nach Hause, doch von da an begann sie in einer Reihe von Notunterkünften zu leben.35