Читать книгу Samson und die STADT des bleichen Teufels - Andreas Dresen - Страница 10

Angriff der Maschinen

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„Wo kommst du eigentlich so plötzlich her? Hier sollte keiner sein!“ Reugel beäugte Fahrat misstrauisch, als sie den schmalen Weg den Hang hinuntergingen, der sie zu den Ruinen von Tarda Tekbat bringen sollte. Fahrats Gedanken rasten. Er musste aufpassen, was er sagte, denn er wollte sich nicht verraten. Nichts wäre ihm peinlicher gewesen, als wenn der Mann ihn für einen Schwächling gehalten hätte, nur weil er vor dem Schnüffler auf den Baum geflüchtet war. Vielleicht kannte er ja seinen Großvater. Also wollte er seine wahre Identität erst einmal geheim halten.

„Also, eigentlich komme ich aus der STADT …“

„Ach herrje. Erzähl mir bloß nichts davon. Bin froh, dass ich da weg bin, Jungchen. Hat Morton immer noch alle unter seiner Knute?“

„Ich weiß es nicht, ich glaube, gerade ändert sich da vielleicht etwas.“ Fahrat erinnerte sich schmerzhaft daran, dass er Ava im Stich gelassen hatte und er gar nicht wusste, wie ihre Flucht ausgegangen war.

„Ach, Jungchen, ich will gar nichts darüber wissen. Bin froh, dort weg zu sein.“

Reugel schnaufte. Er legte ein schnelles Tempo vor, so dass es Fahrat schwerfiel, ihm zu folgen. Trotzdem wollte er das Thema noch nicht fallen lassen.

„Wieso haben Sie die STADT verlassen?“, fragte er außer Atem.

„Das war doch kein Leben da!“ Der Alte funkelte wütend und warf die Hände in die Luft. „Ach, Jungchen, immer nur eingesperrt. Eine STADT aus der man nicht rauskommt, ist ein Gefängnis. Ich bin Abenteurer. Ich musste da raus, Jungchen. Die STADT war mir zu eng. Vor allem hier!“ Er tippte sich an die Stirn. „Alles Kleingeister. Allen voran mein Sohn, der alte Speichellecker.“ Er sah Fahrat an. „Kennst du ihn? Heinrich deReemer?“

Fahrat nickte vorsichtig. „Ziemlich bekannt in der STADT. Habe ihn lange nicht mehr gesehen.“

„Sei froh. Kann ihn nicht leiden. Und er mich auch nicht. Sein Bruder ist nicht viel besser, aber versteckt sich immer hinter ihm. Ach, Jungchen, kein Wunder, dass aus meinem Enkel nichts wird. In so einem Haushalt.“ Reugel fiel in einen leichten Trab. „Wir müssen uns beeilen, bevor sie wieder Witterung aufnehmen.“

Doch Fahrat war hellhörig geworden. Er hatte seinen Großvater wirklich gefunden. Endlich konnte er mit ihm über sich und seine Familie reden. Wie sehr hatte er sich das gewünscht. Endlich war da jemand, der ihn verstehen würde.

„Was ist mit Ihrem Enkel?“, traute er sich schließlich zu fragen, obwohl er Angst hatte, Reugel könnte ihn nun, da sie ja eigentlich über ihn sprachen, doch plötzlich erkennen. Der Alte war jedoch sehr konzentriert auf ihre Umgebung, so dass er Fahrat bisher kaum richtig ins Gesicht gesehen hatte. Doch nun blieb er plötzlich stehen und blickte Fahrat direkt an.

„Er könnte dir inzwischen ähnlich sehen. Als ich ihn das letzte Mal zu Gesicht bekam, wurde er auch langsam zu fett.“

Als er sah, das Fahrat bleich wurde und den Bauch einzog, tätschelte er Fahrat den Arm. „Mach dir nichts draus, Jungchen. In meinem Alter darf man die Wahrheit unverblümt aussprechen.“

Ach was, dachte Fahrat gekränkt. Wer hat den Alten denn erlaubt, immer die Wahrheit zu sagen? Sie verletzt einen ja trotzdem.

„Ach, aus dem Jungen hätte etwas werden können. Hatte Talent, wirklich. Ein kluges Köpfchen. Aber die Eltern haben ihn einfach erstickt. Also, jetzt im übertragenen Sinne.“ Er grinste. „Obwohl die Mutter auch rein körperlich die Möglichkeiten dazu gehabt hätte. So oft und fest, wie sie den Jungen immer an sich gedrückt hat. Und sie war nun wirklich kein mageres Persönchen. Ein Wunder, dass der Junge da noch Luft bekommen hat.“

Fahrat dachte etwas wehmütig an seine Mutter. Sie hatte es immer etwas zu gut mit ihm gemeint. Wenn der Vater ihn beschimpft hatte, nahm sie ihn in den Arm und tröstete ihn. Aber nur, solange Heinrich das nicht sah. Sie hätte sich nie getraut, ihm zu widersprechen. Trotzdem, fand Fahrat, sollte Reugel nicht so über sie sprechen.

„Ich bin sicher, sie hatte es nur gut gemeint.“

„Gut gemeint ist das Gegenteil von gut gemacht, Jungchen.“

Fahrat wurde etwas forscher.

„Vielleicht hätten Sie da bleiben sollen? Bei dem Jungen? Um ihm zu helfen? Vielleicht hätte es ihm gutgetan jemanden zu haben, zu dem er aufblicken kann. Oder mit dem er sich über die Familie hätte austauschen können?“

„Ach was. Entweder der Junge schafft es von alleine, oder gar nicht. Evolution, Jungchen. Sag ich immer wieder. Jeder muss an sich selber denken, so kommen die Besten aus dem Prozess hervor.“

„Ihr Sohn ist einer der besten und angesehensten Abenteurer der STADT.“

„Auch die Evolution macht Fehler.“ Reugel wandte sich ab.

„Und warum sind Sie jetzt ausgerechnet hier?“

Reugel ging forschen Schrittes vor Fahrat her und schwieg eine Weile. Doch gerade, als Fahrat erneut nachfragen wollte, antwortete sein Großvater ihm doch.

„Ich habe keine Zeit mehr, Jungchen. Ich werde alt. Aber ich habe keine Lust zu sterben. Ich weiß, dass ich hier einen Weg finden kann, das Leben zu überlisten. Oder besser gesagt: den Tod! Ich habe den Fehler in der Evolution gefunden.“

Er sah Fahrat prüfend an. „Kannst du ein Geheimnis für dich bewahren?“

Fahrat, dem gerade zum ersten Mal der Gedanke kam, dass sein Großvater hier in der Wildnis vielleicht verrückt geworden sein könnte, zuckte die Achseln. „Wem sollte ich es hier erzählen? Ich bin hier genauso gestrandet wie Sie.“

„Auch wieder wahr. Aber ich muss dir ja nicht alles erzählen. Ich bin mir nicht sicher, ob du clever genug bist, um mein Geheimnis ganz zu verstehen. Auf der anderen Seite, wenn es klappt … na ja. Egal. Komm mit. Du gefällst mir. Scheinst Köpfchen zu haben, sonst wärst du nicht hier. Ich wünschte, mein Enkel wäre so geworden. Ein Rebell!“

„Vielleicht ist er es.“

Reugel zuckte mit den Schultern. „Müßig, darüber nachzudenken. Komm mit!“

Fahrat folgte dem alten Mann kopfschüttelnd.

Der Himmel hing tief über Tarda Tekbat. Erstaunt blickte sich Fahrat in dieser einstigen Metropole um. Sie hatten die ersten Ausläufer der Stadt, schmale Straßenzüge mit eingefallenen kleinen Häuschen, hinter sich gelassen, und der Anblick hatte bei dem Schwertler eine Gänsehaut hinterlassen. Alles hier schien wie auf einen Schlag verlassen worden zu sein. Die Häuser waren zwar verwahrlost und verrottet, aber es gab keine Anzeichen von gewaltsamer Zerstörung. Immer wieder erwischte er sich bei dem Gedanken, dass so auch die STADT aussehen könnte, wenn man sie zwei-, dreihundert Jahre der Natur überlassen würde.

Sie verließen die Vorstadt und überquerten einen kleinen Kanal, in dem das Wasser brackig und träge stand. Nun änderte sich das Bild und Fahrat bekam ein Gefühl dafür, wie alt Tarda Tekbat sein musste. Am Kanal entlang erstreckten sich große Lagerhäuser, vier und mehr Stockwerke hoch, reich verziert und von Schlingpflanzen bis zu den gewölbten Dächern bewachsen. Fahrat blickte den schnurgerade gezogenen Kanal entlang und glaubte, an dessen Ende den Sumpf erkennen zu können. Unter der Moosschicht, die die Kaimauern bedeckte, erkannte er zahlreiche Ornamente, die der Wasserstraße in früheren Zeiten sicherlich ein prachtvolles Aussehen verliehen hatten. Tarda Tekbat musste einst eine reiche Stadt gewesen sein, mit einem florierenden Handel, der über den Fluss abgewickelt wurde, bevor die gesamte Gegend versumpfte.

Sie gingen weiter durch die Stille der Stadt. Die Häuser wurden immer größer und schienen mit ihren dunklen Fenstern wie aus leeren Augenhöhlen auf sie herabzustarren.

Reugel, dem Fahrat einfach hinterhergelaufen war, stoppte plötzlich und signalisierte Fahrat, das gleiche zu tun. Dann lauschte er.

„Was ist?“, fragte Fahrat.

„Pssst.“ Reugel wirkte ungeduldig. „Noch einer. Wir sollten ihm aus dem Weg gehen. Sie mögen keine Fremden in dieser Stadt.“

„Noch einer?“ Fahrat war erstaunt. „Noch ein was? Hier ist doch nie…“

„Ein Schnüffler“, unterbrach Reugel ihn harsch.

Fahrat atmete erleichtert durch. „Ok. Lass mich das mal machen.“ Endlich würde er seinem Großvater zeigen können, dass er nicht ängstlich war, sondern auch seinen Mann stehen konnte. Beschämt dachte er daran zurück, wie er Avas Hilfe benötigt hatte, um mit einem einzigen Bluthund des Kanzlers fertigzuwerden. Diesmal würde es nicht so enden. Nicht bei einem Schnüffler. Wie gefährlich konnten die schon sein? Er schob seinen Großvater sanft zur Seite und horchte Das leise Schnüffeln hallte von den nackten Wänden der Straße wider. Hinter der Ecke schien es auf sie zuzukommen. Er wartete noch einen Augenblick, bis es ganz nah war.

„Hör mal, warte, man muss schon wissen, wie es geht, du solltest ihm …“

Fahrat ließ ihn nicht ausreden. „Ich weiß, einen Tritt verpassen.“

Mit diesen Worten sprang er um die Ecke.

Der Schnüffler war nicht ganz so nahe, wie Fahrat gehofft hatte. So hatte das Ding Zeit, den Schwertler zu entdecken. Es hob seinen kleinen Kopf und starrte Fahrat an. Dieser fluchte und lief zwei Schritte auf ihn zu.

Der Schnüffler hob seinen Rüssel, doch da war der Schwertler bereits über ihm. Er holte aus und verpasste ihm einen kräftigen Tritt. Da er ihn aber zu sehr von der Seite ausgeführt hatte, flog der Schnüffler zwar durch die Luft und knallte gegen die Wand, zerfiel aber leider nicht in seine Einzelteile. Noch bevor Fahrat wieder bei ihm war, hob der Schnüffler seinen Rüssel und schrie aus Leibeskräften. So jedenfalls kam es Fahrat vor. Ein ohrenbetäubender Lärm entwich aus der kleinen Maschine. Sie hieb mit ihren kurzen Klingen nach Fahrat und stieß erneut einen trompetenden Laut aus, der mit dutzendfachem Echo durch die Straßen hallte. Dann trat Fahrat nochmals zu, gezielter diesmal, und endlich herrschte Stille.

Der Schwertler blickte auf, doch Reugel sah ihn nicht an. Vielmehr schien er immer noch zu lauschen. Plötzlich, das Echo des Hilferufs war gerade erst verklungen, schien es, als würde aus allen Ecken der Stadt Antwort kommen. Das Trompeten wiederholte sich, brach sich, überlagerte sich. Dutzende langgezogene Antworten hallten durch die leeren Straßen der totgeglaubten Stadt. Wie eine Herde Elefanten, die ein Junges suchte, kamen die Geräusche näher, wurden wilder, als sie von der kaputten Maschine nicht beantwortet wurden.

„Du magst es spannend, Jungchen, oder?“ Der Großvater sah ihn zweifelnd an.

„Was? Noch mehr Schnüffler?“ Fahrat ärgerte sich darüber, dass ihm dieser kleine Fehler unterlaufen war, aber er hatte keine Angst. Mit Schnüfflern konnte er umgehen.

„Wenn es nur das wäre! Jetzt haben wir die Schneider und Hacker am Hals. Wir sollten von hier verschwinden.“

Fahrat erstarrte und er erinnerte sich wieder an das Monster in der Kanalisation, das so viele schwerbewaffnete Soldaten getötet hatte, bevor man es mit einem letzten, verzweifelten Manöver aufgehalten hatte – der Sprengung des ganzen Tunnels. Er wurde bleich und begann zu schwitzen.

„Wohin?“, fragte er atemlos.

Doch Reugel schüttelte nur den Kopf. „Ich weiß es nicht. Es gibt nur ein Versteck, das uns schützen könnte, wenn sie uns auf der Spur sind.“

Der Alte setzte sich fast widerwillig in Bewegung, begann zu laufen. „Wir haben nur eine Chance!“

Fahrat wollte ihm gerade hinterher, da blitzte ihm etwas aus der zerbeulten Maschine zu seinen Füßen entgegen. Die Sonnenstrahlen wurden von einem kleinen Stückchen Gold zurückgeworfen, das im Inneren der Kreatur verborgen gewesen war. Fahrat bückte sich und pulte schnell ein kleines goldenes Herz aus den metallenen Eingeweiden. Falls er jemals wieder nach Hause kam, würde er wenigstens seine Miete bezahlen können, dachte Fahrat bitter und verstaute den kleinen Schatz in einer Hosentasche, ehe er seinem Großvater hastig folgte, denn die Elefantenfanfaren der Schnüffler kamen schnell näher.

Samson und die STADT des bleichen Teufels

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