Читать книгу Samson und die STADT des bleichen Teufels - Andreas Dresen - Страница 14
Ein Hausgott im Badezimmer
ОглавлениеSamson atmete tief durch, versuchte so, die Wirkung des Gases zu vermindern. Er hatte mal gelesen, dass man durch ruhiges Einatmen den Körper dazu bringen konnte, Giftstoffe schneller und besser abzutransportieren. Noch besser wäre allerdings Sport. Samson dachte nach. Vielleicht sollte er raus auf die Straße, frische Luft würde ihm guttun. Seine Kollegen im Bioladen behaupteten, das würde helfen, wenn sie abends zu viel getrunken hatten. Samson konnte das nicht aus eigener Erfahrung beurteilen. Er trank nie Alkohol.
Und etwas essen sollte ich, dachte er. Wenn man was im Magen hat, bindet das die Gifte. Er überlegte, ob er noch Kekse hatte. Natürlich, schließlich war er eben erst einkaufen gewesen. Aber vielleicht müsste es etwas Gesünderes sein, mit Vitaminen oder so was. Er würde zur Frittenbude gehen. Nicht die um die Ecke, sondern die am Park. Er glaubte, dort schon mal Salat gesehen zu haben. Dort könnte er etwas essen und danach über den Rasen laufen. Das würde helfen. Und wenn er etwas Ungewöhnliches sehen sollte, würde er es einfach ignorieren. Er atmete noch einmal tief durch und versuchte sich zu entspannen.
Schwingen. Festhalten. Graue Bewegungen. Rechteckige Formen. Ein Raum. Keine Farben, schwarz, grau, weiß. Eine Gestalt auf dem Boden.
Samson kam wieder zu sich. Was war das gewesen? Er setzte sich wieder auf und strich sich mit der Hand über die schweißnasse Stirn.
Die Halluzinationen werden offenbar schlimmer, dachte er gequält. Es schien, als hätte er kurz seinen Körper verlassen. Sein Herz raste wieder. Er presste die Finger zu einer Faust zusammen und bemerkte erst in dem Moment, dass er immer noch Ems Medaillon mit dem Bild seiner Mutter in der Hand hielt. Fast erleichtert umklammerte er es, hielt sich an dem Schmuckstück fest, als würde es ihm Kraft geben. Er sollte sich beeilen, hinaus an die frische Luft zu kommen.
Da klopfte es an der Badezimmertür. Samson schrie auf. Die Panik überflutete ihn erneut. Das konnte nicht sein, er hatte alles abgeschlossen! Niemand war in seiner Wohnung.
„Komm schon, mach auf.“
Samson schluckte. Das waren nur Halluzinationen.
Wieder klopfte es. Lauter diesmal.
„Weißt du, eine Tür hält mich eigentlich nicht auf. Ich war schon oft in deinem Badezimmer.“
Samson erkannte die Stimme der Kreatur, die ihm eben im Hausflur begegnet war. Er stopfte sich die Finger in die Ohren. Das waren alles nur Visionen, ausgelöst durch ein Nervengas, wiederholte er. Er würde einfach hier sitzen bleiben und abwarten, bis es vorbei ging. Er schloss die Augen, atmete tief durch. Doch seine Angst wurde größer, sein Sichtfeld engte sich ein. Er hatte das Gefühl, ein dicker Kobold würde auf seiner Brust sitzen und ihm den Hals zuschnüren. Dann wurde es schwarz vor seinen Augen.
Der Lufthauch wehte wie eine grau melierte Wolke vorbei. Töne kamen auf ihn zugeflogen, prallten an den Wänden ab und verfingen sich im Netz zu seinen Füßen. Er konnte sehen, so viel sehen und doch blieb alles nur graue Form, ohne Sinn. Dort unten, genau unter ihm, kauerte diese Gestalt. Sie kam ihm bekannt vor. Er bewegte sich. Es war ungewohnt, doch sein Körper schien zu wissen, was er wollte. Er kam näher, ein bisschen nur, vorsichtig, ganz vorsichtig.
Samson schluckte und wachte auf. Die Visionen werden schlimmer, kein Zweifel, dachte er. Aber er war plötzlich überzeugt, etwas darin erkannt zu haben. Er war irritiert, denn die Visionen im Hausflur waren bunt und lebensecht gewesen, er hatte sich mittendrin befunden. Aber diese plötzlichen Eindrücke waren anders. Fremd, wie aufgesetzt, durch andere Augen gesehen.
Samson begann zu verzweifeln und vergrub seine Hände in den Haaren. Er wollte nur noch, dass dieser Trip endete. In was war Emily da nur hineingeraten? In was war er da nur hineingeraten! Wo war seine Mutter, wenn er sie mal brauchte? Wie immer nicht da. Nur war sie nicht betrunken diesmal, sondern schon lange tot. Samson fühlte sich einsam. Er schluchzte und Tränen rollten über seine Wangen. Plötzlich hörte er eine Stimme.
„Komm schon, nich’ weinen.“
Samson schreckte auf und versuchte sich in die Wand zu drücken. Vor ihm saß die Kreatur aus dem Hausflur und machte ein betretenes Gesicht. Seufzend setzte diese sich auf den Wannenrand. „Keine Angst, Junge. Tu dir nix. Bin schon immer hier jewesen. Has’ mich nur nich’ jesehen.“
Samsons Gedanken rasten. Verdammt, dachte er. Wo kommt der denn her? Ich hatte doch alles verriegelt! Wie ist der hier reingekommen? Oder war das alles nur Teil des Trips?
So musste es sein. Er begann mit weit aufgerissenen Augen zu murmeln: „Du bist nicht echt. Ich ignoriere dich. Du bist nicht echt, ich ignoriere dich!“
„Das is’ aber unhöflich, find’ ich.“ Der Hausgott hatte die dünnen Augenbrauen hochgezogen und war ehrlich überrascht. „Komme her, um dir zu helfen, und du sagst, du ignorierst mich. ’s is unhöflich.“ Das kleine Wesen schüttelte fast ein bisschen traurig den Kopf.
Samson wusste nicht mehr weiter. Was sollte er tun? Das Ganze wurde zu absurd, zu intensiv, um es zu ignorieren. Er beschloss, dass es einfacher wäre, sich der Halluzination hinzugeben. Er atmete tief durch.
„Aber nein. Da es dich nicht gibt, kann ich auch nicht unhöflich zu dir sein.“
„Pah! Von wejen. Du sprichst mit mir, also kann ich wohl keine Halluzination sein, nech? Die Grundbedingung für die Existenz eines Gottes is’, dass jemand an dich glaubt. Du sprichst mit mir, also glaubst du an mich, also jibt’s mich. Quod errat demonstrandum.“
„Du sprichst Latein?“
„Was? Nein. Man schnappt nur so einiges auf mit der Zeit.“ Der Hausgott begann mit seinen Fingern durch seine dünnen, blonden Haare zu fahren.
Die Formen veränderten sich, der Raum füllte sich. Er konnte die Ausdünstungen der Wesen sehen, er sah ihre Wärme. Jetzt begann er zu verstehen. Die grauen Flecken bewegten sich, hinterließen eine Spur der Wärme. Wärme … wie wunderschön sie sein konnte. Samson hatte nie gewusst, dass Wärme und Bewegung so anziehend sein konnten. Ein zweiter Schatten war dazugekommen. Er war viel näher, weniger warm. Samson fühlte sich abgestoßen, ein innerer Impuls ließ ihn zurückschrecken. Eine instinktive Furcht ergriff ihn. Er wollte fliehen, aber die Anziehungskraft der Wärme des anderen Schattens war stärker und zog ihn weiter an …
„Hörs’ du mir überhaupt noch zu?“ Der Hausgott war an Samson herangetreten und beäugte ihn misstrauisch.
„Wer bist du? Was bist du?“, lenkte Samson mit zitternder Stimme ab.
„Ich bin euer Hausgott.“
„Was ist das? Hausgott?“
„Bin der Gott dieses Hauses. Wohne hier. Wache über dat Haus. Über die Bewohner, über die Zeit in diesem Haus.“
„Du bewachst uns? Wieso habe ich dich vorher nie gesehen? Und warum hast du die Entführung nicht verhindert?“
„Mit’m Sehen is’ das so’ne Sache. Jetzt erklär ich dir mal was. Offensichtlich siehst du mich. Das bedeutet, dass du kein normaler Mensch bis’. Oder vielmehr, dass du zwar ein normaler Mensch warst, aber etwas mit dir geschehen is’.“
Er zeigte auf das Medaillon. Samson verstand nicht, was der Hausgott meinte. Doch dieser fuhr fort.
„Weißt du, es gibt nich’ nur deine Wirklichkeit in dieser STADT. Es gibt nich’ nur die Menschen mit ihren Autos und Straßen und Büros und ihren kleinen, wichtigen Leben, ihren Vorgärten und finanziellen Verbindlichkeiten. Es gibt noch ’ne weitere Welt, eine Zwischenwelt, eine Welt, die von ihren Bewohnern als die einzich wahre angesehen wird. Und dort gibt es nu’ mal andere Dinge als in deiner Wirklichkeit. Doch sie existieren beide nebeneinander … oder: ineinander! Wir können die Menschen sehen. Die Menschen uns aber nich’.“
Samson beschloss, diese Halluzination einfach über sich ergehen zu lassen. Das war einfacher und weniger kräfteraubend, als wenn er sich weiter wehren würde. Die Vorstellung einer zweiten Welt innerhalb der Realität fand er allerdings albern und … geschmacklos. Ekelhaft. Er wollte damit nichts zu tun haben. Also hoffte er aufzuwachen, wenn er mitspielte. „Warum sehen die Menschen diese Zwischenwelt nicht?“
Der Hausgott zuckte mit den schmalen Schultern.
„Keine Ahnung, Junge. Ich glaub, Menschen sind einfach ’n bisschen blöde.“
Das kleine Wesen schien es bei dieser Erklärung belassen zu wollen, überlegte es sich offenbar dann aber doch anders.
„Ich hab’ mal Urlaub auf’m Land gemacht, da hab’ ich die Vertretung für den Geist von so’ner alten Bäuerin übernommen, die ihren alten Bauernhof jede Nacht heimgesucht hat. Da musste ich nachts ’n bisschen rasseln, die Schränke umräumen und solche Sachen. Aber tagsüber hatte ich genug Zeit, mir die Kühe auf der Weide anzuschauen. Weißte was, ich hab’ gedacht: Die sin’ wie Menschen! Stehen blöd in der Jegend rum, ham vor allem Angst und lassen sich jeden Abend in den Stall pferchen. Und sin’ auch noch froh darüber! Bloß nix Fremdes! Menschen sin’ ja schon mit ihrer kleinen Welt überfordert. Eine Zwischenwelt würde sie wahrscheinlich endgültig verrückt machen.“ Er schüttelte wieder den Kopf.
„Aber nichts gegen dich, mein Junge, du bis’ schon okay. Nich’ falsch verstehen!“, entschuldigte sich der Hausgott. Wahrscheinlich war ihm plötzlich bewusst geworden, dass er ja gerade mit einem Menschen sprach.
Samson starrte auf sein Medaillon und betrachtete das Bild seiner Mutter. Was hatte sie mit all dem zu tun? Er hatte den Ausführungen des Gottes nur halb zugehört. Seine Gedanken rasten. Ob sie … nein. Das wäre zu abstrus. Wahrscheinlich stellte er sich das alles nur vor, weil er wollte, dass sein kleines Leben einen höheren Sinn bekam. Dass er etwas Besonderes war, auserwählt oder so ein Blödsinn. Wie er es in den ganzen Büchern gelesen hatte, die er abends im Bett immer verschlungen hatte, wenn ihn die Pflegeeltern auf sein Zimmer geschickt hatten. Aber wahrscheinlicher war, schloss er seine Gedanken, dass er einfach nur verrückt geworden war oder einen furchtbaren Trip erlebte. Er ließ das Amulett an der Kette von seiner Hand baumeln.
„Und du meinst, das hier ist der Grund, warum ich das alles plötzlich sehen kann?“ Der Hausgott nickte. Samson starrte ihn an, dann warf er die Kette mit dem Anhänger mit aller Kraft in die Dusche.
„Du hast gelogen – ich kann dich immer noch sehen!“
Der Hausgott schüttelte den Kopf. „Ich war immer hier und ich werd’ auch immer hier sein. Du wolltest mich vorher nich’ sehen, aber jetzt kannst du mich nich’ mehr ignorieren. Du hast jetzt dein Gehirn ausgetrickst. Du weißt jetzt, dass es uns gibt, dass da mehr is’, als du vorher wahrhaben wolltest. Dein Verstand kann dat alles nun nich’ mehr ausblenden. Man könnte sagen, dass du nun eingeweiht bist. Meinen Glückwunsch, Junge! Is’ an sich ’ne feine Sache.“
Samson ließ sich wieder zurückfallen. Das wurde ihm jetzt eindeutig zu viel. Er verstand nur die Hälfte von dem, was er hörte – und das war immer noch mehr, als er hören wollte. Er wechselte das Thema.
„Wie heißt du?“
„Sag ich nich’.“
„Warum nicht?“
„Dat geht dich nix an.“ Der Hausgott sah auf den Boden. Offensichtlich schämte er sich jetzt und Samson war seine Frage sofort unangenehm.
„Entschuldige bitte, ich wusste nicht, dass man einen Hausgott nicht nach seinem Namen fragen darf.“
„Och, darf man schon. Nur … na ja, man gibt sich seinen Namen ja nich’ selbst, nich’ wahr! Also … nenn mich Gott. Oder Hausgott. Dat reicht, ok?“
Samson nickte nur, so dass der Hausgott fortfuhr.
„Du bist irritiert. Verwirrt. Dat seh’ ich dir an. Aber ich kenn’ da einen, der kann dir helfen.“
„Ich brauche keine Hilfe.“ Samson wusste nicht, warum er das sagte. Natürlich brauchte er Hilfe! Am besten von Menschen mit einer psychiatrischen Ausbildung. Aber andererseits war er bisher doch auch alleine zurechtgekommen. Dann konnte er das auch weiterhin.
„Er is’n Priester. Foren heißt er. Netter Kerl. Ich glaub’, er hat Erfahrung mit Leuten wie dir.“
„Mit Leuten wie mir? Was meinst du damit?“
„Na ja, Leute, die plötzlich die Sicht ha’m. Die vorher normale Menschen waren und plötzlich alles sehen können.“
„Es gibt noch mehr davon? Passiert das oft?“
„Da gab es vor kurzem so’ne Geschichte, aber ich hab’ sie nich’ so jenau verfolgt. Da war so ‘n Mädel, was Probleme mit ihren Blagen hatte. Hat sich mit dem schwarzen Engel angelegt. Weiß gar nicht, wie dat ausjejangen is. Aber dat geht mich nix an, ich interessier’ mich eigentlich nur für mein Haus.“
Samson sagte nichts, sondern beobachtete die Spinne, die in die Ecke gekrabbelt war, in der er saß, und sich nun langsam abseilte.
Samson ließ sich durch die Luft pendeln. Länger, länger, weiter, näher. Die Wärme war so schön, er wollte nur dorthin. Er hielt inne, zwang sich anzuhalten. Langsam, schalt er sich. Er fühlte sich alt. Aber sein Körper war perfekt, er hing kopfüber in der Luft, fühlte sich geborgen, alles war richtig. Er war eins mit seiner Welt. Nie zuvor hatte er eine solche Ruhe in sich gespürt. Dieses uralte Bewusstsein, dieser felsenfeste Instinkt. Zweifel kamen ihm so falsch vor, so unnötig. Alles war gut, alles war, wie es sein sollte. Und die Wärme unter ihm war so anziehend. Er ließ sich weiter hinunter. Er spürte den Schatten bevor er ihn sah. Er spürte die Schwingung, spürte die Gedanken und wusste, dass etwas nicht stimmte. Die andere Gestalt war aufgestanden, verdeckte plötzlich das Licht der Lampe, kam näher, wuchs, wurde größer, alles wurde dunkel, dunkler, der Fleck verdunkelte alles, riesige Finger, alte Wärme wurde zu Hitze, unerträgliche Nähe, Angst …
Samson schreckte hoch. Die Vision war abrupt abgebrochen. Der Hausgott stand über ihm und steckt sich die Spinne in den Mund, die er gerade vom Faden gezupft hatte. Leise knirschend kaute er.
„Spinnen sind gut fürs Raumklima!“, sagte er grinsend. „Locken Hausgötter an.“ Er schnalzte kurz mit der Zunge.
„Jetzt guck’ nicht so. Komm’ ers’ mal zu dir. Schlaf ’ne Runde. Morgen komm’ ich wieder vorbei und wir reden weiter, okay? Jetzt muss ich aber wech, in der Muckibude im Vorderhaus beginnt der Yoga-Kurs. Den Mädels muss ich in der Dusche noch dat warme Wasser abdrehen.“ Er kicherte. Dann klopfte er Samson aufmunternd auf die Schulter, zwinkerte ihm zu. Schließlich schritt er wie ein Geist durch die Wand und war verschwunden.
In diesem Haus werde ich nie wieder nackt duschen, dachte Samson, als er verstört dem kleinen wunderlichen Wesen hinterhersah.
Die Visionen, die grauen, schwarzweißen Eindrücke von Wärme und Formen, waren verschwunden und kehrten an diesem Tag nicht wieder zurück.