Читать книгу Samson und die STADT des bleichen Teufels - Andreas Dresen - Страница 12

Die Entführung

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Samson blinzelte. Irgendetwas hatte ihn geweckt. Draußen war es noch stockfinster, es musste tiefe Nacht sein. Verschlafen warf er einen Blick auf die Anzeige seines Radioweckers und sah seine Vermutung bestätigt. Als er sich gerade wieder umdrehen wollte, hörte er es. Ein Rumpeln in der Wohnung über ihm. Das musste ihn geweckt haben. Etwas Schweres schien auf den Boden gefallen zu sein. Er hörte Stimmen. Em war nicht alleine, dachte er und wunderte sich. Die Frau hatte nicht ausgesehen, als ob sie nächtlichen Besuch empfing. So konnte man sich täuschen.

Er warf die Decke zurück und stand auf. Samson war es gewohnt, dass er das Leben der Nachbarn mitbekam. Das Haus war alt und Samson konnte manchmal jeden Schritt hören, den jemand in der Wohnung über ihm tat.

Aber der Krach heute war anders. Samson fröstelte und zog sich eine Jeans und einen Pullover an. Dann ging er in die Wohnküche und lauschte. War das ein Schrei gewesen? Er hielt den Atem an. Es rumpelte erneut. Wieder fiel etwas hin.

Samsons Herz schlug schneller. Was sollte er tun? Sollte er hochgehen und nachschauen? Vielleicht waren es Einbrecher und Em brauchte Hilfe?

Auf der anderen Seite hatte sie nicht den Eindruck vermittelt, sie könne sich nicht wehren. Samson nahm an, dass Em einen Angreifer allein mit einem Blick in die Knie zwingen könnte.

Was wäre, wenn sie dort oben einfach Spaß hatte? Dann würde es nur stören, wenn er nun da hochginge und nach dem Rechten sah. Wie peinlich das wäre …

Bevor er sich weitere Gedanken machen konnte, hörte er, wie oben die Tür geöffnet wurde. Eine Männerstimme dröhnte durch den Flur, Em kreischte erstickt. Samson hörte sie fluchen und schimpfen. War da nicht auch eine zweite Männerstimme? Samsons Gedanken überschlugen sich. Was sollte er jetzt tun? Er umklammerte den Türgriff, bereit, die Tür aufzureißen und Em aus den Fängen ihrer Peiniger zu befreien.

Er merkte, wie sein Mund trocken wurde. Vorsichtig legte er ein Ohr an die Tür, um besser lauschen zu können. Sein Herz blieb beinah stehen. Lachte sie? Schritte kamen durch den Hausflur, er hörte zwei, vielleicht drei Menschen die Stufen herunterpoltern. Lachte sie wirklich? Ein Schluchzen folgte. Weinte sie?

„Still jetzt“, grollte eine Stimme durch den Flur, Samson konnte es genau hören. Ein Klatschen, wie ein Schlag mitten ins Gesicht, folgte.

Samson fühlte den Knoten in seinem Hals wachsen. Da waren außer ihr zwei Männer, wahrscheinlich Typen gebaut wie Mathway. Was sollte er da tun? Er konnte rausgehen und versuchen, sie aufzuhalten. Aber welche Chance hätte er schon? Aber vielleicht könnte er sie soweit ablenken, dass Em fliehen konnte. Auf der anderen Seite, hatte er kein Recht sich einzumischen. Vielleicht geschah das alles aus ihrem freien Willen heraus? Vielleicht hatte sie gerade Spaß und Samson bildete sich nur ein, dass sie in Gefahr war? Trotzdem, dachte er, dieses Risiko muss ich eingehen. Wenn sie gerade entführt wird, muss ich ihr helfen. Vielleicht ist sie dann freundlicher mir gegenüber eingestellt und erzählt mir etwas mehr von früher.

Samson fühlte, wie Stolz seinen Körper durchflutete, als er die Wohnungstür aufriss.

Er starrte in den dunklen Hausflur und hörte noch, wie die Haustür unten zufiel. Sie waren fort.

Samson beschlich das Gefühl, dass er absichtlich zu lange gewartet hatte. Er zögerte kurz. Dann nahm er seinen Mut zusammen und zog die Wohnungstür hinter sich zu. Er würde ihnen folgen! Er sprang die Stufen hinab, öffnete die Haustür, lief über den Hof und blickte auf die Straße. Doch außer einigen parkenden Wagen war nichts zu sehen. Die Straßenlaternen warfen ein fahles Licht auf die Häuserschlucht. Nebel war aufgezogen und driftete von den Hügeln hinab in die Stadt. Irgendwo quietschten Reifen. Samson drehte sich um und sah weiter hinten ein Auto im düsteren Grau der Nacht verschwinden. Er war zu spät gekommen.

Samson schlich die Treppen hoch. Er hatte versagt, das war ihm klar. Die Dunkelheit des Hausflurs schien ihn ersticken zu wollen. Trotzdem traute er sich nicht, das Licht einzuschalten. Er konnte der Wirklichkeit nun nicht ins Auge sehen. Er war feige gewesen. Mal wieder.

Er wartete kurz auf dem Treppenabsatz, bevor er in seine Wohnung zurückging. Vor wenigen Minuten waren sie noch hier gewesen. Er glaubte, Ems Parfum noch riechen zu können. Den Duft erkannte er ohne jeden Zweifel, doch da war noch ein anderer, ein schwerer Geruch. Ein Hauch von Erde, eine Ahnung von Wasser und Fäulnis waberte wie eine Erinnerung durch das Haus. Plötzlich kam ein Windhauch auf und vertrieb die Gerüche, scheuchte sie vor sich her, wie ein Hund eine Herde voller Schafe.

Samson wurde schlagartig wieder aufmerksam. Wieso fegte der Wind durch den Hausflur? Irgendwo musste ein Fenster offen sein. Wenn es heute Nacht regnte, wäre wieder die ganze Treppe überflutet. Er überwand sich und schaltete das Licht an. Im ersten Moment geblendet, stieg er die Treppe einen Absatz höher, doch das Flurfenster war geschlossen. Er blickte den nächsten Absatz hinauf, in die nächste Etage und sah Licht aus Ems Wohnung dringen. Die Wohnungstür stand offen und auf der Treppe lagen verstreut einige Sachen, die offenbar ihr gehörten.

Erschrocken stieg er über einen vereinzelten Schuh, einen Schal und irgendein glitzerndes Schmuckstück hinweg und starrte in die Wohnung.

Der Zustand der Wohnung war verheerend und mit dem Wort „Chaos“ nur unzureichend zu beschreiben. Im kalten Licht der Lampe wirkte es, als hätte jemand der Wohnung die Eingeweide herausgerissen. Ein Schrank stand offen, Kleidungsstücke lagen zerstreut auf dem Boden. Ein Stuhl war umgefallen und überall lagen Glasscherben. Es schien Samson nicht so, als ob Em die Wohnung freiwillig verlassen hatte. Doch woher sollte er das so genau wissen? Sollte er hineingehen und sich umsehen? Zumindest das Licht ausmachen und die Tür schließen sollte er, oder? Samson zog sich langsam zurück. Nein, dachte er, er sollte sich da nicht einmischen. Em wird schon wissen, was sie tut. Sie ist eine erwachsene Frau. Morgen früh wird sie wieder da sein, das Licht in ihrer Wohnung löschen und aufräumen. Verstohlen sah er sich um. Doch es war mitten in der Nacht und niemand außer Em und ihm selbst bewohnten das Hinterhaus. Wer sollte ihn beobachten?

Er hob vorsichtig den Schal vom Boden auf und steckte seine Nase hinein. Er roch gut. Doch Samson steckte ein Kloß im Hals, als ihm ein Gedanke kam. Er ließ die Hand mit dem Schal sinken.

Em hatte seine Mutter gekannt, soviel stand fest. Vielleicht waren sie und seine Mutter zu einer Zeit miteinander bekannt gewesen, an die Samson sich nicht mehr erinnerte. Konnte das sein? Vielleicht wusste sie etwas über den Grund, der seine Mutter so traurig hatte werden lassen. Darüber, warum sie diesem abgrundtiefen Gram verfallen war.

Und nun hatte sie jemand entführt, bevor sie es ihm erzählen konnte! Sein Blick fiel auf das Schmuckstück, das neben dem Schal auf dem Boden lag. Das kalte Flurlicht spiegelte sich in dem blank polierten Metall. Es schien eine Art Kette mit einem Anhänger zu sein. Samson betrachtete es genauer. Ein Medaillon, dachte er. Es sieht alt aus. Das ist zu wertvoll, um es auf der Treppe liegen zu lassen, dachte er. Ich werde es für sie aufheben. Also bückte er sich. Der Anhänger bestand aus einem goldenen Oval, das man mit einem kleinen Scharnier öffnen oder schließen konnte. Es musste aufgesprungen sein, als es zu Boden gefallen war. Im Inneren des Medaillons erkannte Samson ein Bild. Er bückte sich weiter, um das Bild genauer sehen zu können. War das nicht …? Mit einem schnalzenden Geräusch ging in diesem Moment automatisch das Licht im Hausflur aus. Samson richtete sich schlagartig auf. Sein Herz hämmerte. Konnte das wahr sein, was er gerade gesehen hatte? Zitternd suchte er den Lichtschalter. Seine Fingerkuppen tasteten über den rauen Putz des Treppenhauses, bis er schließlich den kleinen Knopf gefunden hatte. Sofort sprang das Licht wieder an. Samson stürzte zu dem Amulett und kniete sich hin. Er hatte sich kaum getraut, es zu berühren, doch als er das Bild seiner Mutter darin erkannte, konnte er sich nicht mehr zurückhalten. Er streckte die Hand aus und griff nach der goldenen Kette.

In diesem Moment durchfuhr es ihn wie ein warmer Blitz. Seine Sicht verschwamm und die Welt schien sich kurz zu drehen. Samson schloss vor Schreck die Augen, doch dann war das Schwindelgefühl auch schon wieder vorbei. Er öffnete die Augen wieder und schüttelte den Kopf. Irgendetwas war anders. Alles sah aus wie vorher, und doch wirkte es ein bisschen verändert. Alles schien irgendwie schärfer zu sein. So, als ob er nun endlich genauer hinschauen würde, als hätte ihm jemand einen grauen Schleier von der Netzhaut gezogen.

Ihm fiel zum ersten Mal der Stuck an der Decke auf. Nein, dachte er, das ist nicht wahr. Ich habe den Stuck schon oft gesehen, täglich fast. Doch noch nie war ihm aufgefallen, dass ihn dort von der Decke aus der verschnörkelten Verzierung derart hässliche Fratzen anstierten. Augen schienen ihm aus den Ecken zu folgen, wo der Gips sich zu dunkleren Schatten verband. Alles schien ihm plötzlich so klar, aufdringlich klar. Am liebsten hätte Samson sich wieder in seine alte Wahrnehmung verkrochen, wie eine Schnecke in ihr Haus, doch die alte Wahrnehmung war nicht mehr da. Irritiert sah er sich um. Als er gerade das Muster der Bodenfliesen genauer betrachtete, durchbrach plötzlich ein Kichern die Stille des Treppenhauses. Samson drehte sich auf dem Absatz um und zuckte vor Schreck zusammen.

„Na, du Held!“ Fast hätte Samson den Schal und das Medaillon fallen gelassen, denn das, was ihn da ansprach war kein Mensch, sondern … ein Wesen, das auf dem Handlauf der Treppe saß und dort seine kurzen Beine baumeln ließ. Als es auch noch lächelte und dabei eine breite Reihe schlecht geputzter Zähne zeigte, verlor Samson die Nerven. Mit einem Schrei stürzte er die Treppe hinab.

Der Hausgott hörte noch, wie die Wohnungstür zuschlug, der Schlüssel mehrmals im Schloss gedreht und etwas sehr Schweres von Innen dagegen geschoben wurde.

Auf dem Klo fühlte sich Samson sicher. Er hatte sich in die kleine Nische zwischen Waschmaschine und Toilette gequetscht und die Kapuze seines Pullovers über den Kopf gezogen. Sein Herz raste.

Er hatte gedacht, es würde aufhören, wenn er in seine Wohnung zurückkehrte. Diese seltsame Optik. Doch sie war noch immer da. Samson dachte nach. Was hatte er da auf dem Flur gesehen? Dieses Monster, wie ein kleiner, unförmiger Mensch mit langen spitzen Ohren, schiefen übergroßen Zähnen und Augen, die bis in seine Seele zu blicken schienen. In die Wohnung konnte es ihm nicht folgen, er hatte mit seiner letzten Kraft die Kommode vor die Tür geschoben. Doch als sein Blick aus dem Fenster in den Hof gefallen war, war ihm fast das Herz stehengeblieben. Unten in den Schatten, dort wo sonst noch nicht einmal Ratten zu sehen waren, schlängelte sich etwas Dunkelbraunes an der Mauer entlang. Am Himmel hatte er etwas fliegen sehen, das eindeutig zu groß für einen Vogel gewesen war. Und auf dem gegenüberliegenden Dach hatten Kreaturen gesessen und ihm ins Fenster gestarrt – Samson war sich sicher, dass sie Popcorn gegessen hatten. Also war er ins Badezimmer geflüchtet. Dieser Raum hatte keine Fenster.

Was war hier los? Wieso sah er plötzlich all diese furchtbaren Dinge? Ob er auf einem Trip war? Hatte er irgendwelche Drogen genommen? Aus Versehen? Er schloss die Augen und hoffte, dass sich alles drehen und die Sicht verschwinden würde, aber nichts geschah. Er atmete tief durch, fühlte sich selbst, seinen Körper, und war sicher, nicht in einem Traum gelandet zu sein. Dies hier war die Wirklichkeit. Sein Atem wurde wieder schneller, als er darüber nachdachte. Er fixierte eine Spinne, die oben in der Ecke der Dusche hockte. Starrte sie ihn etwa an? Nein, schalt er sich, bleib ganz ruhig, werde jetzt bloß nicht paranoid. Du hast deine Sinne immer beieinander gehabt, verliere nun nicht deine Nerven!

Wann hatte all das angefangen? Er war vor Ems Wohnung gewesen, war aber nicht hineingegangen. Vielleicht hatten die Entführer ein Nervengift gesprüht, mit dem sie Em außer Gefecht gesetzt hatten? Oder so verwirrt, dass sie ihnen freiwillig gefolgt war? Und er hatte es dann eingeatmet und bekam jetzt Halluzinationen davon? So musste es sein. Sein Puls beruhigte sich etwas und ein Stein fiel ihm vom Herzen. Endlich wieder eine vernünftige Erklärung. Für all das gab es einen logischen Grund.

Samson und die STADT des bleichen Teufels

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