Читать книгу Samson und die STADT des bleichen Teufels - Andreas Dresen - Страница 7

Samson

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„Die Sieben musst du nehmen! Die Zwölf und dann die Dreiunddreißig!“ Walter stand vor Samson und starrte ihn ernst an. Mit einer Hand hatte er sich an das Schaufenster des Kiosks abgestützt, die andere hatte er tief in der Hosentasche vergraben. Samson stellte seine Einkaufstüten kurz ab, als er sein Gegenüber musterte. Man sah Walter nicht an, dass er auf der Straße lebte. Keiner wusste, ob oder wo er vielleicht doch eine Wohnung hatte, doch lief er jeden Morgen mit einem sauberen Hemd und gebügelten Hosen durch die Straßen des Viertels, sonntags trug er sogar eine Krawatte. Was jedoch auffiel, war sein alter und vergammelter Hut, der aussah, als hätte er ihn unter einer Brücke in einer Pfütze gefunden – was wahrscheinlich auch den Tatsachen entsprach.

Samson hatte, genauso wie jeder andere Mensch in diesem Viertel, noch nie einen vernünftigen Satz aus Walters Mund gehört, also lachte er nun freundlich. „Alles klar, Walter. Danke für den Hinweis, ich werde es mir merken.“

Walter tippte mit einem Finger an den Hut, blickte den Jungen ernst an.

„Grün!“, rief er noch im Gehen und klopfte Samson leicht auf den Rücken. Dann verschwand er eilig, denn es schien, als habe Walter immer etwas zu tun, immer etwas zu regeln. Keiner wusste etwas Genaues über ihn, doch nannten ihn alle nur den „Wirren Walter“. Samson lächelte, bis er in seine Straße einbog und auf sein Haus zuging. Er fand es beruhigend, dass es in dieser Stadt noch Platz für Leute gab, die etwas anders waren. So wie Walter. So wie er selbst.

Doch seine Freude schwand so schnell, wie sie gekommen war. Samson näherte sich dem Haus, in dem er in einer kleinen Wohnung lebte. Er wünschte sich manchmal, dass er sich etwas länger ablenken könnte. Doch die Gedanken gingen immer wieder zurück zu dem einen Thema. Er war immer noch traurig und einsam. Dabei lag der Tod seiner Mutter nun schon Jahre zurück. So lange, dass er sich kaum noch an ihr Gesicht erinnern konnte, wenn er die Augen schloss. Die Jahre in den verschiedenen Pflegefamilien hatten es nicht einfacher gemacht.

Sie hatten viel mit ihm darüber gesprochen. Erklärt, dass ein Körper nicht alles verkraften kann. Alkohol und Drogen, hatten sie gesagt. Daran wäre sie gestorben.

Trotzdem konnte Samson es nicht verstehen. Warum hatte seine Mutter sterben müssen? Warum so? Ganz alleine, während er bei diesen fremden Menschen gewesen war. Es fühlte sich so falsch an.

Sie war immer so glücklich gewesen, wenn sie von früher erzählt hatte. Von ihrer Schwester und ihrer Jugend. Von ihren Verehrern und dem Spaß, den sie damals gehabt hatte. An diesen Tagen, an denen sie Samson die alten Geschichten erzählte, trank sie meist noch mehr als sonst. Als ob sie die Gedanken, die sie fröhlich machten, nicht ertragen würde.

Er hatte sie oft gefragt, was dann geschehen sei. Warum sie nicht mehr so fröhlich war wie früher. Dann hatte sie mit ihm geschimpft.

„Es ist vorbei und das ist gut so. Nichts ist mehr wie früher.“

„Warum?“

„Weil du geboren wurdest.“

Der kleine Junge, der er damals war, hatte zwar nie verstanden, was sie damit meinte, aber er hatte dennoch dieses schamvolle Schuldgefühl gespürt, das ihn auch heute noch jeden Tag begleitete. Er hatte damals versucht es zu verstehen, hatte seine Mutter danach gefragt, doch sobald das Gespräch bei diesem Punkt angekommen war, hatte sie ihn jedes Mal angeherrscht, er solle sie in Ruhe lassen. Samson hatte nie erfahren, was sie so quälte – und was sie am Ende ins Grab gebracht hatte.

„Mach, dass du wegkommst, du Loser.“ Mathway stand in der Tür des Fitnessstudios, direkt neben der Toreinfahrt zu Samsons Wohnblock. Dieser war tief in seine trüben Gedanken versunken und hatte den bulligen Dauergast der Muckibude gar nicht bemerkt. Das grelle Muskelshirt seines Gegenübers ließ freie Sicht auf dessen glänzenden Oberkörper. Er schien sich nach dem Training immer mit Öl einzureiben, damit seine Oberarme in der Sonne glänzen konnten.

Samson senkte den Blick, ging aber weiter auf Mathway zu. Er kam sich dünn und schmächtig vor neben diesem Muskelpaket. Seine Schultern waren schmal und oft schlackerten die schwarzen T-Shirts, die er bevorzugt kaufte, wie Zeltbahnen an seinem Körper. Auch die dunklen Jeans waren entweder zu weit oder zu kurz, da er lange und etwas zu dünne Beine hatte. Nur die klobigen, schwarzen Leder-Schnürstiefel saßen wie angegossen, aber dadurch wirkten seine Beine noch mehr wie Streichhölzer. So fühlte sich Samson insgesamt in seinem Körper unwohl und einer direkten Konfrontation mit Mathway bei Weitem nicht gewachsen.

Doch er hatte keine andere Wahl, er musste an ihm vorbei. Tanja wollte kommen. Er hatte sie im Bioladen kennengelernt, und sie hatte nicht direkt die Flucht ergriffen, als er ihr etwas über die Verbesserung der Bodenqualität durch konsequenten Regenwurmeinsatz erzählt hatte. Sie hatte ihm interessiert zugehört und schließlich sogar seine Einladung zu einem Abendessen angenommen.

Er hatte Kekse und Kaffee besorgt. Tanja hatte gesagt, sie würde ihn eventuell besuchen kommen und seine Sammlung ansehen. Er musste nach Hause. Und dorthin gab es nur einen Weg: durch die Toreinfahrt, an der Tür des Fitnessstudios im Vorderhaus und damit auch an Mathway vorbei.

Seit einigen Wochen wohnte Samson im Hinterhaus dieses knarrenden, alten Backsteingebäudes, bei dem kontinuierlich der Mörtel aus der Außenwand rieselte, der dann in kleinen Häufchen auf dem Hof liegen blieb. Es war seine erste eigene Wohnung. Doch die Freude darüber wurde ihm ziemlich schnell von Mathway vergrätzt. Seit er Samson das erste Mal im Hof entdeckt hatte, hatte er ihn zu seinem Opfer auserkoren.

„Ich sagte, du sollst verschwinden.“ Mathway kam nun die Stufen herab und stellte sich Samson breitbeinig in den Weg. Sein einfältiges Gesicht war zu einem breiten Grinsen verzogen. Samson wäre am liebsten umgedreht und in die andere Richtung gelaufen.

Einmal hatte er versucht, Mathway aus dem Weg zu gehen. Er war um den halben Häuserblock gegangen und hatte in einer anderen Straße gewartet, bis jemand dort aus dem Haus gekommen war. Dann hatte er sich in den Hausflur geschlichen und war von dort aus in den Garten gegangen. Als er versucht hatte, über die Mauer zu klettern, um von hinten an den eigenen Hauseingang zu gelangen, war er erwischt worden. Die Alte aus dem Haus nebenan hatte so ein Theater gemacht, dass Samson nun die Straßenseite wechselte, wenn er ihr irgendwo begegnete.

Mathway stemmte die Fäuste in die Hüften, machte sich so breit, dass Samson mit seinen Einkaufstüten nicht an ihm vorbeikommen würde. Samson senkte den Kopf, er war schon jetzt in Schweiß gebadet – doch es gab keinen anderen Weg. Selbst wenn er sich verstecken würde, um zu warten – Mathway hatte ihn gesehen und würde ihm auflauern, bis es endlich soweit war. So war es immer. Es gab immer jemanden, der ihn herumschubste. So war es in der Schule gewesen, und auch in der Pflegefamilie. Wie glücklich er gewesen war, als er endlich seine eigene Wohnung gehabt hatte – und endlich etwas Ruhe und Frieden. Aber das hielt nur, bis er Mathway, den muskelbepackten Rüpel aus dem Haupthaus, kennengelernt hatte. Er gehörte zu den Menschen, die sich am Leid anderer ergötzen und deren Lebenssinn darin zu bestehen scheint, Schwächere herumzuschupsen, um das eigene Ego aufzuplustern.

Samson hatte nun keine Zeit mehr, ihm aus dem Weg zu gehen. Tanja würde kommen. Er bekam nicht häufig Besuch. Und Samson fand sie aufregend.

Er zog die Schultern zusammen und hob die Einkaufstüten schützend vor seinen Körper. Dann begann er zu rennen. Noch ein paar Schritte, dann gäbe es den Zusammenprall, fünf, vier, drei. Zwei Schritte, einen noch. Samson schloss die Augen, hielt die Luft an. Ein Schritt, noch einer. Nichts geschah.

Er öffnete erstaunt die Augen, blickte sich hektisch um. Mathway war im letzten Moment zur Seite getreten, lachte ihn aus, zeigte mit dem Finger auf ihn. Samson verstand noch nicht, was geschehen war, doch die überschüssige Energie, die er für den Zusammenstoß mit Mathway vorgesehen hatte, fiel ihm aus den Schultern in die Beine. Er verlor die Kontrolle, stolperte über seine schweren Stiefel und flog im hohen Bogen auf das Kopfsteinpflaster des Hinterhofs.

Die Einkaufstüten rissen in dem Moment, als er auf den Boden schlug. Er hörte das Zerplatzen der Hühnereier in der Packung, Mathways Lachen und das Geräusch, mit dem die Colaflasche knirschend über den Hof rollte. Er folgte ihr entsetzt mit dem Blick, bis sie an die Stufe vor der Türe knallte und dort mit einem hässlichen Knacken zerbrach. Nur der Stapel Tiefkühlpizza, der seine Wochenration darstellte, und das Pfund vakuumverpackter Kaffee hatten den Unfall unbeschadet überstanden. Nachdem Mathway sich überzeugt hatte, dass er seine Tagesmission ‚Demütige den trotteligen Nachbarn‘ erfolgreich erfüllt hatte, zog er sich lachend zurück, und Samson begann fluchend mit spitzen Fingern die Scherben aufzulesen.

Da erst bemerkte er das Paar brauner Wildlederschuhe auf den Stufen der Treppe. Samson schaute etwas höher und hangelte sich mit seinem Blick über ein weites, buntes Kleid entlang, das mit indischen Mustern geschmückt war. Auf dem ausladenden Busen lag eine Kette aus grünen Steinen, die in der Sonne funkelten. Die kurzen, schwarzen Haare waren mit einer braunen Lesebrille zurückgesteckt, an den Ohren baumelten lange Ohrringe aus dunklen Steinen. Die Frau erinnerte Samson an die Direktorin seiner Schule, denn sie wirkte genauso einschüchternd auf ihn.

„Ha… hallo!“, stotterte er und bemühte sich schnell aufzustehen.

Die Frau starrte ihn ausdruckslos an und fragte:

„Wer sind Sie denn? Und was soll dieser Unfug? Stehen Sie auf.“

„Ich …“ Samson rappelte sich umständlich auf, dabei rutschte ihm die Tüte aus den Fingern und knallte erneut auf den Boden. Er blickte erschrocken hoch, dann kniete er sich wieder hin, um sie aufzuheben.

Samson wusste nicht mehr, was er sagen sollte, in seinem Kopf ratterten die Gedanken.

„Ich … ich bin der neue Nachbar. Ich … wollte mich noch vorstellen kommen. Ich heiße Samson.“ Er holte tief Luft und hob den Blick, um in die strengen Augen der Frau zu blicken. Als ihr durchdringender Blick ihn traf, senkte er den Kopf sofort wieder. Doch da packte sie ihn, grub ihre Finger in seine langen, fettigen Haare und kratzte dabei mit ihren harten Nägeln über seine Kopfhaut. Sie riss seinen Kopf nach hinten.

„Schau mich an, wenn ich mit dir rede.“ Ihre grauen Augen fixierten ihn. In ihrem harten Gesicht war keine Regung zu erkennen. Nur ihre Augen musterten Samson. Ihr Blick schien manchmal direkt neben ihm in der Luft zu verweilen, so als blicke sie geradewegs an ihm vorbei. Als fiele sie plötzlich in tiefe Gedanken. Sie schloss die Lider etwas, als ob sie ihre Sicht schärfen wollte. Dann sah sie ihm wieder in die Augen.

„Wie heißt du?“, fragte sie.

Samson wunderte sich. Das hatte er doch schon gesagt. „Samson“, antwortete er hastig, als ihr Griff fester wurde, weil er sich mit der Antwort Zeit ließ. „Vielleicht könnten Sie mich loslas…“

„Dein Nachname, Bengel! Und wann ich dich loslasse, entscheide ich. Also?“

„Kowalski! Samson Kowalski.“

Da weiteten sich ihre Augen. Samson bemerkte das leichte Flackern. Ihr Griff in seinen Haaren wurde kurz lockerer, als ob sie den Impuls, den Arm zurückzuziehen, unterdrücken müsse. Doch dann griff sie wieder fester zu und schoss mit dem Gesicht vor, bis sie ganz nah bei ihm war. Er konnte ihr Parfum riechen, es war leicht und blumig, wollte so gar nicht zu diesem Aussehen passen. Ihre Augen waren kleine Schlitze. Sie zischte ihn an.

„Wer hat dich geschickt?“

Samsons Augen wurden groß. Diese Frau war verrückt! Das wurde ihm plötzlich glasklar. Er kniete auf der Erde, sein Rücken war durchgebogen und er konnte sich vor Schmerz und Anspannung nicht rühren. Was sollte er jetzt tun? Er entschied sich für die Wahrheit.

„Niemand. Ich wohne hier. Seit vier Wochen. Entschuldigung, ich wollte mich vorstellen kommen, aber …“

„Bist du Karens Sohn? Du siehst aus wie sie!“

Samson wurde ganz kalt. Die Zeit schien still zu stehen. Alle Geräusche, alles was er wahrnahm, schien in den Hintergrund zu treten. Hatte er sie richtig verstanden? Kannte sie seine Mutter? Sie kannte … ihn? Samson atmete heftig aus. Niemals, niemals hatte er jemanden getroffen, der seine Mutter gekannt hatte. Außer den Menschen vom Sozialamt. Konnte das wahr sein?

„Ich habe dich etwas gefragt!“, zischte sie erneut und zog wieder an seinen Haaren.

Samson nickte nur. Alle Angst war vergessen und seine Neugier war erwacht. „Ja“, hauchte er. Dann wurde er lauter. „Ja, ja, ich bin Karens Sohn! Samson!“

„Wer hat dir gesagt, wo du mich findest? Los, wer hat dir das verraten? War es Devil? Oder Jogus? Los, sag schon.“

„Niemand!“ Samsons Gedanken rasten. Wieso sollte ihm jemand verraten, wo diese Frau wohnte? Er kannte sie ja noch nicht mal. Aber sie kannte seine Mutter. Endlich würde er etwas über sie erfahren. „Ich bin doch hier eingezogen, weil meine Pflegefamilie mich … weil ich erwachsen bin.“

Die Frau ließ ihn los und trat einen Schritt zurück. Sie blickte ihre Finger an, die sie aus Samsons langen, schwarzen Haaren gezogen hatte. Angeekelt wischte sie sie an ihrem Kleid ab, was sie augenblicklich zu bereuen schien. Dann blickte sie ihn wieder an. Sie hob drohend einen Finger. „Wir sprechen uns noch.“

Samson nickte nur, wieder fehlten ihm die Worte. Als die Frau sich umdrehte und schnellen Schrittes über die Toreinfahrt ging, rappelte sich Samson auf. Er nahm seinen ganzen Mut zusammen und rief: „Wie heißen Sie denn?“

Die Frau blieb wie angewurzelt stehen und drehte sich um. Zorn funkelte in ihren Augen. Sie ballte die Fäuste, scheinbar um ihre Fassung ringend. Dann sagte sie ruhig und fast so leise, dass Samson es nicht mehr hören konnte:

„Emily LaGrange – oder einfach Em.“

Samson und die STADT des bleichen Teufels

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