Читать книгу Samson und die STADT des bleichen Teufels - Andreas Dresen - Страница 6
Teil 1 Dschungel
ОглавлениеFahrat war kurz davor, in Panik zu geraten. Er schluckte. Sein Herz raste und schlug ihm bis zum Hals. Verzweifelt versuchte er die Kontrolle über seine Gefühle zurück zu erlangen. Er zwang sich langsamer zu atmen. Hatte er da etwas gehört? Oder bildete er sich das wieder nur ein?
Der graue Himmel lag drückend auf den Bäumen. Der Urwald war dicht und still. Fahrat konnte nichts hören, außer seinen eigenen Atem. Die Stämme der Bäume ragten bedrohlich über ihm in die Höhe, schienen ihn einzukreisen. Kroch da etwas langsam über den Boden? Der Schwertler meinte ein Scharren und Kratzen zu hören. Sein Atem begann sich wieder unkontrolliert zu beschleunigen, sein praller Bauch hob und senkte sich unter seiner verschwitzen und zerrissenen Kleidung. Er strich sich eine Strähne seines dunklen Haares aus dem Gesicht, danach zog er den Riemen seines Rucksacks fester, damit er fest an seinem Körper anlag.
Irgendetwas ist hier, dachte er verzweifelt. Er starrte in die grüne Finsternis des Waldes, in dem er sich gnadenlos verirrt hatte, doch er sah nichts außer Ästen und Blättern. Oder bewegte sich dort hinten etwas? Seine Hände begannen zu zittern.
Panik ist der Tod des Abenteurers, murmelte er den alten Merkspruch aus seiner Schwertler-Ausbildung. Er versuchte erneut, seinen Atem langsamer werden zu lassen. Da ist nichts, zwang er sich zu denken. Ich bilde mir das nur ein. Niemand jagt mich. Ich bin alleine.
Panik ist der Tod des Abenteurers, wiederholte er langsam. Aber ich bin kein Abenteurer! Ich wollte nie einer sein! Diese plötzliche Erkenntnis durchzuckte Fahrat wie ein Blitz. Er drehte sich um sich selbst, ließ den Blick unruhig von einer Seite zur nächsten wandern. Etwas knackte im Gebüsch. Ein Ast fiel zu Boden.
Da war es um Fahrats Selbstbeherrschung geschehen. Ohne zu sehen wohin, lief der Schwertler los. Er riss die Arme hoch, um sein Gesicht vor den peitschenden Ästen zu schützen. Dadurch sah er noch weniger, aber das war ihm egal. Hauptsache weg von diesem Ort, raus aus dem Wald. Stolpernd preschte er durch das Unterholz. Büsche und Sträucher verfingen sich in seiner Kleidung, rissen weitere Fetzen heraus. Wurzeln stellten sich dem Schwertler in den Weg, ließen ihn straucheln, doch er beachtete sie nicht. Er rannte, rannte, rannte, bis ihm der Atem ausging.
Keuchend blieb er stehen und sog japsend die Luft ein. Er lauschte. Stille umfing ihn und er entspannte sich kurz. Er hatte es abgehängt. Wenn überhaupt etwas hinter ihm her gewesen war. Der Schwertler lachte verlegen. Jetzt kam ihm seine Panikattacke albern vor. Dann kratzte etwas leise über den Boden. Fahrat erstarrte erneut.
Das Geräusch kam näher. Fahrat fröstelte und zog lautlos seinen Degen. Die Waffe seines Großvaters, die er dem Verräter Kairo abgenommen hatte. Er lauschte. Alles war wieder still.
Kein Vogel sang in den Bäumen, nur die kondensierte Schwüle des Waldes tropfte hin und wieder von den Blättern. Sie schien sich irgendwo in dem schier endlosen Grün der zahllosen Pflanzen verfangen zu haben und lastete schwer auf dem schwitzenden Schwertler.
Er wusste nicht mehr, wie lange er schon durch dieses Dickicht irrte. Das Portal am Ende der Welt hatte ihn einfach hier ausgesetzt, ohne Karte, ohne Hinweis darauf, wo er sich befand. Aber Fahrat ahnte, warum er hier war. Irgendwo in diesem Dschungel lag Tarda Tekbat, die untergegangene Stadt. Dies war der letzte bekannte Aufenthaltsort von Reugel deReemer. Meera hatte ihm davon berichtet. Er musste seinen Großvater finden. Ein einziges Gespräch würde so viel klären. Um hierher zu kommen, hatte er – wenn auch nicht absichtlich – Ava im Stich gelassen, und er hatte seine Angst vor der Wildnis unter Kontrolle bekommen. Bis jetzt.
Plötzlich kam ein leichter Wind auf. Das Dickicht schien an einer Stelle etwas lichter zu werden und Fahrat schöpfte Hoffnung. Er nahm seine letzte Kraft zusammen, drehte sich entschlossen um und hackte sich den Weg nach vorne frei.
Kurz darauf stand er am Rande eines Talkessels und er konnte so weit blicken, wie schon seit Tagen nicht mehr. Unter ihm erstreckte sich ein Tal, und um dieses, soweit sein Auge reichte, nur saftig grüner Wald.
Und mitten in dieser Senke erblickte er zum ersten Mal die Ruinen von Tarda Tekbat. Wie abgenagte Fischgräten lagen sie zu seinen Füßen, verblichenen Kadavern gleich, die unter grünem Schleim begraben waren. Nur noch an wenigen Stellen lugten weiß und grau die Reste der ehemals prächtigen Metropole hervor. Doch heute war Tarda Tekbat eine versunkene Stadt, versunken in den Tiefen des ewigen Dschungels. Im Osten begrenzte ein brodelnder Sumpf das Gebiet von Tarda Tekbat, an allen anderen Enden war sie von den Hügeln der Wildnis umgeben. Die Reste der Stadt schimmerten silbern-grün in der Nachmittagshitze. An einigen Stellen ragten Reste von Hochhäusern wie verfaulte Backenzähne in den diesig grauen Himmel empor. An anderen Orten konnte Fahrat noch lange Straßenzüge ausmachen, vereinzelt auch eingefallene Kirchen. In der Mitte des Gebietes aber stieg ein Tempel wie eine groteske, wild wuchernde Pyramide in die Höhe und überragte alle übrigen Gebäude. Bewachsen mit Bäumen und Schlingpflanzen thronte er wie ein aufgepfropftes Geschwür über der dunklen Metropole. Eine düstere Heiligkeit strahlte von diesem Ort aus, unterdrücktes Leben in totem Stein. Doch die Stadt war still. Nirgendwo schien sich etwas zu bewegen. Tarda Tekbat wirkte leer auf den Schwertler, ausgeblutet und vergessen. Hier lebte niemand mehr.
Fahrat sank enttäuscht zu Boden. Der Schweiß brannte in seinen Augen, doch das merkte er nicht mehr. Die Fliegen setzten sich auf seine Haut. Mit ihren spitzen Beinen kratzten sie über seine Arme, über sein Gesicht, saugten an den feinen Tröpfchen, die sich bildeten. Gedankenverloren verscheuchte der Schwertler die Insekten.
Fahrat war am Ende seiner Kräfte. War alles umsonst gewesen? Die ganze Qual? Hier war nichts mehr. Meera, die ihm von Leben in Tarda Tekbat erzählt hatte, musste sich geirrt haben. Noch nicht einmal die Tiere des Waldes schienen sich an diesem Ort aufhalten zu wollen. Außer den Fliegen hatten weder Vogel, noch Reh, noch Raubtiere Fahrats Weg gekreuzt.
Nur die bedrückende, schwüle Stille war hier – und die Angst. Diese Stadt ist so tot wie ein Golem ohne das belebende Wort.
Der Schwertler steckte den Degen weg. Hier würde er ihn wohl nicht mehr brauchen.
Es knirschte leise im Unterholz. Fahrat schrak auf und sprang behände auf die Füße. Da war es wieder. Jetzt war er sich sicher, etwas gehört zu haben. Ein unnatürliches Geräusch, gerade so, als ob Stahl auf Eisen schabte, eine Kette rasselte und etwas durch die Büsche schlich, das kein Gefühl für die Angst kannte, die diesen Wald im Griff hatte. Schnell verdrängte er den Gedanken, zu sehr steckte ihm die Panik in den Gliedern. Und Panik ist der Tod des Abenteurers.
Vorsichtig versuchte der Schwertler, sich auf einen niedrig hängenden Ast zu ziehen, um vor einem ersten Angriff geschützt zu sein. Seine Füße stemmten sich gegen den glitschigen Baumstamm, doch er rutschte immer wieder ab. Seine Straßenstiefel waren durchweicht und begannen sich aufzulösen. Es gelang ihm nicht, sich hochzuhangeln. Das Geräusch wiederholte sich, es kam näher und war fast hinter ihm. Fahrat verfluchte seinen dicken Bauch, den er seit seiner Ausbildung angesetzt hatte. Wenn man als Schwertler konsequent jedes Abenteuer meidet und sich lieber in der Küche als in unbekannten Gebieten rumtreibt, kann das zur Folge haben, dass man außer Form gerät.
Ich werde abnehmen, sandte der Schwertler ein Stoßgebet zur Wassergöttin. Ich verspreche es.
Wieder raschelte es, etwas schien zu schnuppern. Das Geräusch beflügelte den Schwertler. Mit letzter Kraft warf er sich an den niedrig hängenden Ast, klemmte den Stamm zwischen seine Beine und schob sich langsam, wie eine Raupe, den Baum hinauf. Das Moos und die Rinde schienen plötzlich nicht mehr so feucht zu sein, aber vielleicht bildete er sich das auch nur ein. Er erreichte den Ast keine Sekunde zu früh. Gerade hatte er sich auf dem niedrigen Geäst niedergelassen, da rasselten Ketten im Dickicht unter ihm.
Aus der grünen Dunkelheit der Büsche schob sich eine Kreatur, die Fahrats Atem stocken ließ. Etwas Ähnliches hatte er in der Kanalisation der STADT gesehen. Und gehofft, so etwas nie wieder erblicken zu müssen.
Schleppend zog sich das Wesen auf die Lichtung und hielt an der Stelle, an der Fahrat vor Sekunden noch gestanden hatte. Ein Sonnenstrahl fiel auf die Kreatur, die nicht viel größer als ein Igel war, und ließ sie hell im Licht erstrahlen. Wie polierter Stahl blitzten die spitzen vorderen Gliedmaßen auf, mit denen es sich vorwärts zog. Scharf wie Messer schienen sie zu sein. Statt Hinterbeinen hatte das Wesen, wie bei einem Panzer, kleine Ketten unter dem Leib, mit denen es tiefe Abdrücke im feuchten Waldboden hinterließ. Der eigentliche Körper war nur eine Ansammlung von kleinen Maschinen, denn unter einer derben ledrigen Haut, drehte und bewegte es sich unaufhörlich. An einer Stelle schimmerten kupferne Zahnräder durch einen Riss der Verkleidung. Den absonderlichsten Anblick aber bot der Kopf. Mit zwei langen Hörnern oder Zangen versehen, wirkte der vordere Teil wie eine Gasmaske aus dem letzten Krieg, die Fahrat während seiner Schwertler-Ausbildung im historischen Museum der STADT gesehen hatte. Doch statt eines Filters hing aus dem glatten Gesicht ein faltiger Schlauch, der bis auf die Erde reichte. Mit diesem Rüssel schnüffelte und schnaufte das Wesen. Immer und immer wieder zog es tief die Luft ein und schwenkte den Schlauch in jede Richtung. Auf Fahrat wirkte es seltsam ungelenk. Wer konnte so etwas erbauen? Und warum? Es wirkte, als hätte jemand den ungeschickten Versuch unternommen, eine Maschine zu erfinden, von der er zwar wusste, was sie tun sollte, aber keine Ahnung hatte, wie man sie zusammensetzt.
Jetzt hat es meine Witterung aufgenommen, dachte Fahrat entsetzt, denn plötzlich zog sich das Ding mit seinen scharfen Krallen äußerst zielstrebig in Richtung des Baumes, auf dem der Schwertler hockte. Fahrat umfasste seinen Degen, nicht sicher, wie er reagieren sollte und ob die Waffe überhaupt etwas gegen dieses … Ding würde ausrichten können. Was ist das nur, fragte sich Fahrat. Mit Entsetzen dachte er daran, wie das Maschinenmonster, dem er vor wenigen Tagen in der STADT entkommen war, ohne Mühe und ohne zu zögern, vier schwer bewaffnete Wächter getötet hatte. Die anderen waren nur mit knapper Not entkommen.
Und nun sah sich Fahrat schon wieder einer solchen Kreatur gegenüber. In einer anderen Stadt. Viel kleiner und anscheinend nicht bewaffnet. Aber er war skeptisch, ob dieses Wesen hier so harmlos war, wie es aussah. Das Ding auf dem Waldboden schien zu fauchen. Stoßweise zog es die Luft durch den Rüssel ein, um sie dann laut schmatzend wieder auszustoßen. Es konnte sich nur noch um Sekunden handeln, dann würde es die Fährte des Schwertlers aufgenommen haben.
Die Erinnerung an das Gemetzel in der Kanalisation hatte Fahrat erstarren lassen. Wieder war die alte Furcht in ihm hochgestiegen. Immer wenn er einen klaren Kopf am nötigsten bräuchte, packte sie ihn eiskalt im Nacken und machte ihn bewegungsunfähig. Panik ist der Tod des Abenteurers. Wie wahr dieser Spruch doch war.
Mein Vater hat recht gehabt, dachte er resigniert. Ich tauge nicht zum Abenteurer. Ich bin der geborene Verlierer. Zuerst habe ich Ava im Stich gelassen und nun hocke ich wie ein ängstliches Kätzchen auf dem Baum und fürchte mich vor einem … Spielzeugauto. Ihm fiel kein besseres Wort dafür ein.
Aber er wollte ja auch gar nicht hier sein! Am liebsten wäre er jetzt zu Hause in seiner Mietwohnung und würde Brot backen. Oder besser noch Kuchen. Er seufzte und sehnte sich zurück in seine STADT.
Fahrat starrte auf das Wesen hinab, das langsam mit tastenden Schritten und lautem Geschnüffel näher kam. Ich muss etwas tun, dachte er, aber seine Arme und seine Beine waren wie gelähmt. Nicht einmal den kleinen Finger konnte er rühren, nur dasitzen und auf den kleinen Rüssel starren, der ihn bald entdecken würde.
„Verfluchte Mistviecher!“ Mit diesem Schrei brach plötzlich ein Mann durch die Büsche, stoppte unter Fahrats Baum und setzte das Rüsselmonster mit einem gut gezielten Tritt außer Gefecht. Ein weiterer Tritt zerlegte es in seine Einzelteile. Der Rüssel zuckte noch einmal, während um ihn herum kleine Zahnräder rotierend durch das Gras kullerten, dann war es still.
„Danke“, seufzte Fahrat erleichtert, bevor er es sich besser überlegen konnte.
Der Mann drehte sich um und starrte ihn verwundert an. Er hatte graue Haare, die verfilzt in alle Richtungen standen und war offenbar älter, als es sein behändes Auftreten vermuten ließ. Seine Kleidung war einfach, aber gepflegt und an ein Abenteuer im Dschungel angepasst. Ein kleines Kinnbärtchen stand schmal unter seiner vollen Unterlippe und zuckte, als der Mann begann, Fahrat auszulachen.