Читать книгу Samson und die STADT des bleichen Teufels - Andreas Dresen - Страница 9

Würmer

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Samson setzte sich in seiner engen Küche auf einen Stuhl, fuhr sich mit seinen Fingern durch die etwas zu langen, schwarzen Haare und starrte erschöpft auf den Fußboden. Es war still im Haus, obwohl man normalerweise jeden Schritt der Nachbarn im Haupthaus hören konnte. Samson war froh über die Stille, so konnte er in Ruhe nachdenken. Was war das nur gewesen? Woher kannte diese Frau seine Mutter? Woher kannte sie ihn? Sie konnte nur eine alte Freundin von ihr gewesen sein. Aber warum war sie dann so erschrocken? Warum hatte sie sich so über ihn aufgeregt? Er seufzte.

Wenn er nur mit jemandem reden könnte. Sein Blick fiel auf das Bild seiner Mutter, das auf dem Bord des Küchenschranks stand. Er nahm es in die Hand. Sie war eine schöne Frau gewesen, jedenfalls in den Jahren, als dieses Foto gemacht worden war. Wieso musstest du dich zu Tode saufen, dachte er. Jetzt könnte ich deine Hilfe gebrauchen, aber du bist ja nicht mehr da.

Doch er legte das Bild nicht aus der Hand. „Was hat diese Frau bloß? Ich würde gerne mehr erfahren, doch ich weiß nicht, ob ich mich trauen werde, sie anzusprechen. Sie war ja eine Furie, weißt du?! Habt ihr euch gekannt? Ob du sie verärgert hast, Mama? Vielleicht, weil du so viel getrunken hast?

Weißt du eigentlich, was mir das Sozialamt gesagt hat, als du gestorben bist? Du hast in deinem Sessel gesessen und einfach nicht mehr geatmet. Das Glas Wein war noch in deiner Hand. Einfach so. Manchmal wüsste ich gerne, warum du so leben wolltest.“

Das Bild seiner Mutter antwortete nicht. Natürlich nicht, dachte Samson, denn sie war ja tot. Langsam stellte er das Bild wieder an seinen Platz.

Vielleicht hätte ich mehr Selbstvertrauen, wenn du mich nicht allein gelassen hättest, auch früher schon, dachte Samson. Plötzlich, wie aus heiterem Himmel, erinnerte er sich an eine Szene, die ihm immer dann in den Kopf kam, wenn er sich elend fühlte.

Seine Mutter saß in ihrem Sessel und hatte das Glas mit Wein in ihrer Linken. Mit der Rechten strich sie ihm die Haare aus dem Gesicht und musterte ihn. Ihr Blick war leer, aber dennoch sah Samson so etwas wie Liebe darin. Er hatte ihr erzählt, wie schwer es ihm fiel, in der Schule Freunde zu finden, dass er sich nicht wie die anderen fühlte. Und er wollte wissen, warum das so sei.

„Schön bist du nicht“, sagte seine Mutter zu ihm. Dann schwieg sie, während Samson das Blut in den Kopf stieg und sein Herz wie wild zu schlagen begann. „Du hast bestimmt andere Qualitäten, wenn man sie mal finden würde. Irgendwann. Vielleicht sollte man mal suchen?“

Samson schüttelte den Kopf. Er hatte es danach vermieden, mit seiner Mutter über Dinge zu sprechen, die ihn berührten. Trotzdem vermisste er sie. Sie war die einzige, die ihn zu verstehen schien, die einzige Person überhaupt in seinem Leben, wenn man es mal genauer betrachtete.

Doch nun war er alleine. Er stand auf und öffnete den Kühlschrank. Er war leer, bis auf zwei Packungen Kekse. Kekse aß er am liebsten. Mit Schokolade oder Erdnüssen, mit Mandeln oder einfache Haferkekse. Sie schmeckten gut und machten satt. Als seine Mutter noch lebte, gab es oft Kaffee mit Keksen zum Frühstück. Und manchmal auch zum Abendbrot. Er nahm sich aus einer Packung einen Kokosnusskeks und steckte ihn sich in den Mund. Dabei fiel ihm ein, dass er sich noch um seine Lieblinge kümmern musste. Darüber freute er sich, lenkte es ihn doch von den trüben Gedanken ab.

Er ging hinüber zu dem kleinen Terrarium, in dem er die Regenwürmer züchtete. Er hob den Deckel und der Geruch vermodernder Gartenabfälle schlug ihm entgegen.

Gedankenverloren stocherte er etwas in der Erde herum. Ein dicker, rosafarbener Wurm kam langsam aus der Erde und kroch auf seine Hand zu. Samson nahm ihn vorsichtig zwischen die Finger.

„Bald bist du soweit“, sagte er zu ihm, fast liebevoll. Samson war der Überzeugung, dass seine Würmer nur deshalb so gut gediehen, weil er mit ihnen redete. Er sprach jeden Tag eine halbe Stunde mit seinen Tieren. Er glaubte, einen gewissen Kontakt zu ihnen herstellen zu können, wenn er sich auf sie einließ. Und der Erfolg gab ihm recht.

Er besah sich den Wurmkörper und dessen verdicktes Mittelstück. Nicht mehr lange und dieser Wurm würde sich vermehren. Samson blickte durch die Glasscheibe auf den unteren Teil der Erde. Im Keller hatte er noch mehrere Fässer voll mit Würmern, die er gezüchtet hatte. Seine Kollegen aus dem Bioladen, wo er ab und an die Regale auffüllte oder im Lager Kisten stapelte, waren dankbare Abnehmer. Seine Würmer standen in dem Ruf, jeden noch so harten Gartenboden und jeden trockenen Kompost aufzuwerten. Innerhalb weniger Wochen war das Ergebnis spürbar, die Erde krümelig und der Kompost fiel glücklich rottend in sich zusammen.

Doch das alles brachte ihm auch keine Freunde, sondern nur den Ruf ein, ein exzentrischer, komischer Kauz zu sein, der besonders aktive Regenwürmer züchtete.

Samson hörte, wie die Tür vom Hof in den Flur aufgeschlossen wurde. Emily, dachte Samson und ging in die Küche. Wieso war sie so schnell wieder zurückgekommen? Tat es ihr vielleicht leid, dass sie ihn so angefahren hatte? Samson sah sich hektisch um, bedauerte, dass er seinen Einkauf in die Mülltonne geschmissen hatte. Schnell schaute er in den Müll, aber der Kuchen war hinüber. Also öffnete er den Kühlschrank und holte eine Packung Schokoladenkekse heraus, riss sie auf und warf den Inhalt auf einen Teller. Dann schlich er zur Wohnungstür und lauschte, den Keksteller in der Hand. Er hörte das Quietschen der Haustüre zum Hof, dann das hohle, knarrende Geräusch, als jemand die Holztreppe hinaufstieg. Die Schritte kamen näher und näher. Gleich würde sie klingeln, dachte Samson, oder klopfen. Und wenn sie hier war, dann würde sie ihm etwas von seiner Mutter erzählen, etwas von früher, als seine Mutter noch jung und schön und glücklich war. Bevor er auf die Welt gekommen war. Sein Herz schlug noch schneller.

Doch die Schritte gingen an seiner Haustür vorbei und nahmen bereits den nächsten Treppenabsatz in Angriff.

Mit einem Mut, der Samson selbst überraschte, öffnete er die Tür. Em drehte sich um und blickte ihn fragend an. Das Licht im Hausflur war ausgegangen, trotzdem konnte Samson sie gut sehen. Eine Hand auf dem glatten, dunklen Handlauf, hatte sie sich ihm halb zugewandt, ihr buntes Kleid wirkte fahl in der Dunkelheit des Treppenhauses.

„Nun?“, war alles, was sie fragte. Ihre Stimme klang müde.

Samson holte tief Luft. Seine Kehle war wie ausgedörrt, sein Mund trocken. Er hielt ihr die Schokoladenkekse hin. „Möchten Sie vielleicht reinkommen? Ich habe ein paar Kekse.“ Er kam sich dämlich vor, als ob er keine ganzen Sätze sprechen könne, ein Schweißtropfen lief ihm den Nacken hinunter. „Wir könnten … reden.“

Jetzt drehte sie sich ganz zu ihm um, kam heruntergetrippelt und stellte sich ganz dicht neben ihn. Samson musste schlucken. Er konnte ihr Parfum riechen, den Duft ihrer Haut. Ihre grauen Augen schienen sich in sein Hirn zu brennen, als sie die Hand hob und mit dem spitzen Zeigefinger in seine Brust stach.

„Ich sage es dir jetzt einmal ganz deutlich: Lass mich in Ruhe! Ich weiß nicht, wer dich geschickt hat, ja? Aber das lass ich nicht mit mir machen. Das ist eine letzte Warnung – und die geb ich dir nur, weil du ihr Sohn bist. Wenn du nicht aufhörst mir nachzuspionieren, kann ich für nichts garantieren, klar?“

Sie starrte ihn an, schien auf eine Antwort zu warten. Dann musste er blinzeln. Er nickte, obwohl er überhaupt nichts verstanden hatte. Erneut nahm er seinen Mut zusammen. Er musste sie einfach fragen.

„Können Sie mir etwas über meine Mutter erzählen? Haben Sie sie gekannt? Wissen Sie, warum sie gestorben ist?“

Em starrte ihn erneut an, schien mit sich zu ringen. Es dauerte Sekunden, ehe sich ihr Gesicht wieder regte. Sie taxierte ihn. Dann sagte sie leise: „Du hast keine Aura. Oder nur eine ganz schwache … Das bedeutet …“ Sie unterbrach sich in ihren Gedanken und fixierte ihn mit ihrem Blick. „Ich habe keine Angst vor dir. Sag ihnen das. Ich habe nichts damit zu tun!“

Dann drehte sich um und war kurz darauf in ihrer Wohnung verschwunden.

Samson legte sich aufs Bett. In seinem Zimmer hingen Poster von Heavy-Metal-Bands und auf dem Schreibtisch stand neben kleineren Terrarien ein überquellender Aschenbecher. Samson war zu faul, ihn zu leeren. Er nahm ein Paket Tabak und drehte sich eine Zigarette. Er ließ sein letztes Streichholz aufflammen, zündete die Zigarette an und schob sie sich in den Mundwinkel. Er rauchte nur selten, aber jetzt brauchte er eine Zigarette. Nach einem tiefen Zug entspannten sich seine Schultermuskeln und er atmete langsam und geräuschvoll aus.

Seine Hände zitterten jetzt nicht mehr, als er sie sich hinter den Kopf schob. Manchmal wünschte er sich, nie geboren worden zu sein. Alles war so … kompliziert.

Er schloss die Augen, hörte auf das Gurren einer Taube, die offenbar auf dem Dach saß. Das Geräusch wurde durch den engen, schachtartigen Hinterhof verstärkt. Samson wurde müde. Der Tag hatte ihn angestrengt. Langsam drang das Gurren in seinen Kopf ein und dehnte sich dort aus, verdrängte andere Gedanken, bis nur noch ein einziger übrig blieb.

Durch Zufall hatte er jemanden gefunden, der seine Mutter kannte. Auch wenn diese Person, Emily, scheinbar verrückt war. Aber vielleicht würde er etwas aus ihr herausbekommen. Von früher. Vielleicht kannte sie sogar jemanden, der sein Vater sein könnte … Und dann würde er ihn holen. In seine Familie holen …

Mit einem Schlag hörte das Gurren der Taube auf und Samson erwachte aus dem Dämmerschlaf. Er drückte die Zigarette aus, die ihm noch an den Lippen klebte. So ein Unsinn, musste er sich eingestehen. Ich habe keine Familie. Nie gehabt. Er war das Kind einer Säuferin. Punkt. Wenn diese Emily seine Mutter gekannt hatte, dann warf das kein gutes Licht auf diese Frau. Vielleicht war sie auch ein Junkie. Komisch genug benahm sie sich ja. Er sank zurück auf sein Kissen. Er würde nicht weiter nachfragen. Er würde ihr nicht nachlaufen, wie ein kleiner, ausgesetzter Hund. Dazu war er zu stolz, dachte er. Sofort fühlte Samson sich wieder allein. Der Kontakt mit Emily hatte eine Tür aufgestoßen, die er nicht gekannt hatte. Und nun schloss er diese wieder. Samson fragte sich, ob er jemals aus dieser tristen Welt würde ausbrechen können. Am liebsten würde er die Stadt verlassen. Doch so vieles hielt ihn hier. Die Erinnerung, die Fotos, sein ganzes Leben steckte in diesen vier Wänden. Und doch – so wichtig ihm das alles war – hatte er das Gefühl daran zu ersticken. Vielleicht war das ja einfach das Leben. Und alle Träume, die er hatte, waren wirklich nur Träume und er musste sich damit abfinden, dass sein Leben vorbei war, bevor es richtig angefangen hatte. Er stand nun mal nicht auf der Seite der Gewinner. Er war kein Macher. Er bewegte nichts in seiner Umgebung, er gehörte zu den Leuten, die bewegt wurden. Und Tanja war auch nicht gekommen.

Als die Taube wieder anfing zu gurren, ließ er sich treiben, bis der Gesang des Vogels auch den letzten Gedanken aus seinem Kopf vertrieben hatte. Dann träumte er, er wäre die Taube, hörte ihre Flügel schlagen und flog mit ihr mit. Flog über das Dach des Hinterhauses, in dem er schlief, flog über den Häuserblock und flog immer höher Unter sich konnte er die ganze Stadt sehen, am Rand den Wald, der sie fast ganz umschloss. Er flog höher, bis hinauf auf die Hügel. Dort landete er auf einer Parkbank. Ein alter Mann, der sich auf seinen Spazierstock stützte, saß neben ihm und begann den Kopf der Taube langsam und vorsichtig zu streicheln. Dann schlief Samson ein.

Samson und die STADT des bleichen Teufels

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