Читать книгу Samson und die STADT des bleichen Teufels - Andreas Dresen - Страница 11
Im Tempel
ОглавлениеFahrat war erstaunt, wie flink Reugel noch war. Auf seinen dünnen Beinen rannte er durch die Gassen, hechtete über Steinbarrikaden und glitt elegant durch engste Lücken, die während des stetigen Verfalls der Stadt zwischen den Ruinen entstanden waren.
Als Fahrat versuchte, ihm zu folgen, blieb er regelmäßig zurück. Sein Rucksack wurde schwer und schlackerte auf seinem Rücken.
„Du hast zu viel dabei“, schalt ihn Reugel.
„Aber das ist doch nur die Schwertler-Standardausrüstung, ergänzt um ein paar Kleinigkeiten, damit ich nicht verhungere!“, wehrte sich Fahrat halbherzig. Als er gepackt hatte, hatte er sich darauf eingestellt, Ava durch die STADT zu begleiten. Es sollte ein unspektakulärer Ausflug werden, er wollte sie irgendwo abliefern und dann vielleicht wieder nach Hause kommen. Ein, zwei Nächte in den Tiefen der STADT. Mehr nicht. Inzwischen aber hatte er so viele Nächte im Dschungel verbracht, dass er aufgehört hatte, sie zu zählen. Darauf war er nicht eingestellt gewesen.
Aber er war immerhin nicht verhungert. Er hatte sich in der Wildnis zurechtgefunden, so wie er es gelernt hatte.
„Ach, diese Ausbildung ist doch für die Katz“, murrte Reugel. „Ich wundere mich, dass nicht noch mehr Schwertler auf der Straße durch vorbeifahrende Fahrräder umkommen, so unvorbereitet, wie die Akademie manche ins Leben entlässt. Hast du denn bisher keine Abenteuer bestanden?“
Fahrat zuckte mit den Schultern. „Naja … Das ist kompliziert“, antwortete er verstockt. „Aber in der STADT komme ich ganz gut zurecht.“
„Dann bist du schon viel weiter, als so mancher alte Schwertler, den ich kenne. Und du hattest keinen Mentor, der dir beibringen konnte, wie es richtig geht?“ Reugel zog an seinem Arm und bedeutete ihm damit, nicht zurückzufallen.
„Nein“, antwortete Fahrat, sein Seitenstechen ignorierend. „Mein Vater hält nicht viel von mir und meinen Großvater habe ich lange nicht gesehen.“ Er warf einen Seitenblick auf Reugel, doch der starrte geradeaus, hielt den Kopf schief und horchte, doch dann sah er Fahrat an.
„Wenn du unter den Umständen so lange überleben konntest, dann hast du zumindest die Anlagen, ein richtiger Abenteurer zu werden. Als ich dich eben auf dem Baum gefunden habe …“
Fahrat wurde rot. „Nicht sehr mutig, ich weiß …“
„Papperlapapp. Es war das einzig Richtige, was du tun konntest. In einer fremden Umgebung muss man sich einen Überblick verschaffen. Es wäre Wahnsinn gewesen, sich einer unbekannten Kreatur, die sich lautstark durch das Gebüsch kämpft, mit dem gezückten Schwert in der Hand entgegenzustellen. Wer sich so verhält, ist bald tot. Du scheinst Köpfchen zu haben. Und darauf kommt es an. Es ist nie verkehrt, vorsichtig zu sein. So wird man alt. Ist dir schon mal aufgefallen, dass es kaum alte Helden gibt?“
Sie liefen weiter durch enge Gassen. In dem Labyrinth aus Straßen und Wegen, die die einstmals glänzende Stadt Tarda Tekbat durchzogen, hörten sie die Schreie der Schnüffler und das Klacken der Hacker, die auf der Suche nach ihnen waren.
Reugel bog in eine Straße, die von zwei glatten Mauern gesäumt war. Fahrat fühlte sich nicht wohl, weil es auf bestimmt hundert Metern keinen Ausweg zu geben schien.
„Hier rein?“, fragte er Reugel. „Ist das nicht gefährlich?“
„Klar. Aber ich weiß, wo ich hin will. Hörst du das?“ Er legte den Kopf wieder schief. Fahrat hörte das Schreien der Schnüffler. Es war jetzt näher und lauter.
„Sie haben uns. Wir sollten uns beeilen. Los.“
Er lief die dunkle Gasse entlang. Fahrat rannte hinterher. Plötzlich hörte er einen Schrei dicht hinter sich. Obwohl er eben noch dachte, dass er am Ende seiner Kräfte wäre, legte er einen Zahn zu. Er überholte Reugel und spurtete die Straße entlang. Bis die Straße unvermittelt zu Ende war.
„Ein Kanal!“, rief er Reugel zu, der neben ihm ankam. „Eine Sackgasse! Sie werden uns zerhacken und unsere Überreste werden auf dem Pflaster der Straße verfaulen …“
„Spring. Ins Wasser, los.“
Reugel wartete nicht auf seinen Enkel, sondern hechtete vom Rand in das dunkle Grün des brackigen Kanals, der scheinbar nur unregelmäßig mit frischem Wasser versorgt wurde. Fahrat drehte sich um. Ein Schnüffler kroch auf alten, rostigen Ketten auf ihn zu. Ich könnte ihn einfach zertreten, dachte Fahrat. Dann wäre das Problem gelöst.
Doch dann sah er durch die Gasse die Silhouette eines Hackers. Und die Maschine zögerte keine Sekunde. Bevor Fahrat realisierte, was er sah, war der Hacker schon die halbe Gasse hinuntergejagt. Fahrat sprang in den Kanal.
Reugel drehte sich zum Hacker, griff in die Tasche und murmelte hastig ein paar Worte. Dann zog er eine glitzernde Kugel aus der Tasche. In der anderen Hand glühte eine kleine Flamme auf, in die er die Kugel legte. Hastig nahm er etwas Erde vom Rand des Kanals und streute es darüber. Schließlich steckte er die Hand mit der Kugel unter Wasser, zog sie wieder heraus und warf sie in die Gasse.
„Tauchen!“, rief er Fahrat zu. „Folge mir einfach.“ Reugels Kopf verschwand plötzlich unter Wasser.
Fahrat war viel zu überrascht, um direkt zu reagieren. Er sah die Kugel durch die Gasse rollen. Kurz vor dem Hacker stoppte sie und entfaltete sich.
Klick. Klickklick. Klickklickklick.
Fahrat traute seinen Augen nicht. Aus der winzigen, silbernen Kugel entwuchs ein gewaltiges, metallisches Spinnenwesen, das scheinbar mit ein paar Beinen zu viel ausgestattet worden war.
Klick. Klickklick. Klickklickklick.
Der Hacker ließ seine scharfen Klingen durch die Luft schwirren und hieb auf das neue Hindernis ein, ungeachtet dessen, dass dieses auch eine Maschine war. Doch die neue Kreatur schwankte, wirkte ungeschickt auf ihren Beinen und unproportioniert, wie eine frisch geborene Giraffe. Immer wenn ein Beil oder eine schwirrende Schneide hernieder sauste, schwankte die spinnenartige Kreatur und der Körper sackte weg, scheinbar ohne erkennbaren Grund, aber immer im richtigen Moment. Der Hacker stoppte nun, schien sein Opfer genau ins Visier zu nehmen und justierte seine Waffen.
Klick. Klickklick. Klickklickklick.
Kaum hatte die angreifende Kreatur ihre endgültige Größe erreicht, knickten plötzlich die vorderen Beine ein und der Körper krachte auf den steinigen Boden der Gasse. Dabei polterte der Rücken der metallenen Spinne in die vorderen Stützen des Hackers. Diese schwankte, wirkte durch den Angriff fast überrascht, als er das Gleichgewicht verlor und scheppernd über dem Polterer zusammenbrach. Fahrat sah noch, wie der spinnenartige Polterer sich mit seinen vielen Beinen unter dem Körper des Hacker herauszog, um sich dann schwankend und immer wieder scheinbar unkoordiniert einknickend am Ende der Gasse den nachfolgenden Maschinen zu stellen.
Jetzt wurde es Zeit zu verschwinden. Fahrat holte tief Luft und hoffte, Reugel in der grünen Finsternis des Wassers nicht zu verlieren. Als er abtauchte, spürte er, wie der glitzernde Stahl des Hackers im Wasser neben ihm eintauchte. Panisch versuchte Fahrat Reugel zu entdecken, als ihn der alte Mann am Handgelenk packte.
Er zog ihn von der Stelle weg und sie schwammen einige Meter. Plötzlich wurde es dunkel. Eine Mauer ragte am Ende des Kanals auf, doch Reugel wurde nicht langsamer. Mit geübten Stößen schwamm er auf die Finsternis zu – und schließlich mitten hinein. Fahrat, der dachte, jetzt schon keine Luft mehr zum Atmen zu haben, folgte ihm. Panik ist der Tod des Abenteurers, dachte er.
„Hier wohne ich“, sagte Reugel. Fahrat nahm den Rucksack vom Rücken und sah sich um, als er erschöpft an der kahlen Wand zu Boden sank. Sie waren tief in den Tempel eingedrungen. Der Kanal hatte sie unter Wasser direkt in einen engen Tunnel geführt. Durch eine kleine Luke in der Decke des überbauten Kanals hatten sie dem brackigen Wasser entkommen können und sich in einer leeren Kammer wiedergefunden. Ein gemauerter Gang führte aus dem leeren Raum heraus in die Dunkelheit des riesigen Tempels, der wie ein Berg über Tarda Tekbat thronte. Der Tunnel führte sie um viele verwinkelte Ecken ohne irgendwelche Abzweigungen immer höher durch die Dunkelheit. Reugel hatte kein Licht gebraucht, um den Weg zu finden, aber Fahrat, der nicht die Hand vor Augen sehen noch sich orientieren konnte, war es nicht geheuer gewesen. Er hatte aus seinem wasserdichten Rucksack das Benzinfeuerzeug herausgeholt und sich damit zumindest ein bisschen Licht verschafft, was Reugel nur zu einem verächtlichen Grunzen verleitet hatte.
Es war dunkel und kalt in dem Gang gewesen, die Wände aber waren staubtrocken, als Fahrat mit den Fingern darübergestrichen hatte. Schließlich führte sie der Gang, durch den Reugel ohne zu zögern vorangeschritten war, zu diesem Raum, in dem sie sich nun befanden. Irgendwann war ihm sein Feuerzeug dann doch zu heiß geworden, er hatte das Feuer erlöschen lassen und war Reugel einfach nur noch gefolgt.
„Hübsch“, sagte Fahrat etwas spöttisch. Er war noch nicht wieder zu Atem gekommen und lauschte immer wieder angestrengt in den Gang hinunter, ob die Maschinen ihnen nicht doch folgten.
„Sie kommen nicht“, sagte Reugel. „Sie können uns durch das Wasser nicht folgen. Darum dürfte diese Grabkammer der einzige sichere Platz in ganz Tarda Tekbat sein. Gib mir mal dein Feuerzeug.“
Reugel nahm es entgegen und ging in eine Ecke der Kammer. Fahrat sah sich um. Es war dunkel in dieser Grabkammer. Die Wände wirkten grau und abweisend. Irgendwo schien ein wenig Licht hereinzukommen, denn er konnte ungenaue Konturen erkennen. Ein Luftzug ließ darauf schließen, dass irgendwo in diesen dicken Quadern, aus denen der Tempel erbaut worden war, ein Luftschacht nach draußen führte. Fahrat hoffte, dass dieser Schacht außerhalb der Reichweite von Hackern, Schnüfflern und sonstigen Kreaturen war. Er brauchte jetzt einfach eine Pause. Und wenn es in dieser unwirtlichen, kalten Steinkammer war. Er hoffte nur, die Nacht nicht mit ein paar Mumien verbringen zu müssen.
Doch als Reugel die erste Fackel entzündete, stockte Fahrat der Atem. Er schloss die Augen, als plötzlich scheinbar die Sonne aufging. Die Wände waren mit purem Gold verkleidet. Rubine und Smaragde waren darin eingelassen und formten Gesichter und Symbole, der Boden war aus winzigkleinen, unglaublich verschachtelten, fraktalen Mosaiken gesetzt, die Fahrat sofort schwindelig werden ließen. Der Sarkophag in der Mitte des Raumes hatte die Form einer menschlichen Gestalt. Doch er war nicht aus Gold, sondern aus glitzerndem Stahl. Und er ruhte nicht auf dem Boden oder auf einem Podest, sondern er schwebte aufrecht in der Luft, ein paar Zentimeter über dem Boden. Das Gesicht der Sarkophagfigur, in das vier Vertiefungen hineingearbeitet worden waren, zwei große als Augenhöhlen und zwei kleinere als Nasenlöcher, war Fahrat zugewandt. Die Augen flackerten.
Der Schwertler wich zurück. „Er schaut mich an!“, flüsterte er. Er fühlte, wie der eiskalte Fluch dieses seit langem vergessenen Herrschers nach ihm griff, ihn in die ewige Verdammnis ziehen wollte, weil er sein Heiligtum betreten und entweiht hatte.
„Ach Quatsch“, sagte Reugel. „Alles Hokuspokus. Eine Mischung aus Lichtreflexen und gut geplanter Architektur. Schau genau hin.“
Und Fahrat erkannte, dass der Sarkophag nicht wirklich schwebte, sondern, dass das Mosaik eine optische Täuschung erzeugt hatte. Die Augen flackerten und erloschen, als Reugel die Fackel in eine andere Position brachte.
Fahrat atmete aus und kam sich albern vor, schreckhaft wie ein altes Weib. Er räusperte sich und ging an dem Sarkophag vorbei. Dahinter, in einer Ecke, war Reugels Lager. Eine schmutzige Matratze aus Dschungelheu lag in der Ecke, daneben schmutziges Geschirr und dreckige Kleider. In einem Regal lag eine weitere Kugel, wie sie Reugel vor wenigen Minuten noch aus der Jacke gezogen hatte. Ein Polterer. Fahrat wurde ganz anders bei dem Gedanken, dieses mechanische Wesen könnte sich in der kleinen Kammer auf seine komplette Größe entfalten, darum ließ er seinen Blick weiterwandern.
Von der Decke baumelten zwei Arme eines Hackers, vor einem Lüftungsschacht hing die blutige Zange eines Reißers. Als der Wind durch die Konstruktion wehte, erzeugte sie ein leises, heulendes Geräusch. Fahrat schauderte bei dem Gedanken, wie Reugel wohl an diese Trophäen gekommen sein mochte.
Auf einem roh gezimmerten Tisch standen Glaskolben und Phiolen, lagen goldene Herzen und Fläschchen mit dunkler Flüssigkeit. Eine mechanische Vorrichtung aus Sphären und Kugeln zeigte den Lauf der Sterne und Planeten. Und ein Teil der goldenen Wand war mit schwarzer Farbe überstrichen worden. Fahrat erkannte darauf Kreidezeichnungen und Berechnungen.
„Du bist ein Alchemist, Reugel!“
Der alte Mann strahlte. „Ja. Ist das nicht fantastisch? Zu Hause, in der STADT hätte ich nie, wirklich nie die Freiheit gehabt, meine Forschungen zu vervollständigen. Du weißt ja, dass Schwertler stets auf ihren Ruf achten müssen, um noch Aufträge zu bekommen. Das hätte meinem Sohn sicher nicht gefallen. Wenn er wüsste, was ich treibe … Und dann die Gilden! Mitgliedsbeiträge für die Alchemisten werden fällig, sobald die Apotheker den Gildenkämmerern melden, dass man sich eine Unze Sternenstaub gekauft hat. Die Schwertler würden einen mit einer Strafanzeige überziehen, weil man einem unangemeldeten Nebenerwerb nachging und so weiter und so weiter. Und dann die Steuer! Jedes Gramm Gold, das man herstellt, muss versteuert werden. Das macht doch keinen Spaß, oder? Darum bin ich hier.“
Fahrat sah sich um. „Na, Gold gibt’s hier genug, das brauchst du nicht erst brauen, oder?“
„Dummkopf. Ich suche doch kein Gold! Mir geht es nicht um Reichtum.“ Er nahm ein Herz aus Gold in die Hand und hielt es Fahrat vor die Nase.
„Weißt du, was das ist?“
„Ein Herz aus Gold? Der Funke, der die Maschinen antreibt?“
„Bist ja doch nicht so dumm, wie du dich gibst, was? Es ist der materialisierte, göttliche Lebenshauch. Alles Leben ist göttlichen Ursprungs. Ich halte hier ein Stückchen göttlichen Willen in der Hand. Hast du im Unterricht der allgemeinen Magie und Beschwörung aufgepasst?“
„Der Unterricht lag meist kurz vor der Mittagspause, da hatte ich Hunger …“
Reugel verdrehte die Augen. „Man kann alles beschwören, wenn man nur ein Teil von ihm hat. Und ich halte hier ein Stückchen eines Gottes in der Hand. Des Gottes von Tarda Tekbat. Ein Stückchen ewiges Leben. Und davon werde ich mir meinen Anteil sichern, Jungchen. Nach jahrelangen Forschungen bin ich endlich am Ziel. Ich werde den Gott zwingen, mir mein ewiges Leben zu verschaffen. Und du wirst mir dabei helfen.“