Читать книгу Samson und die STADT des bleichen Teufels - Andreas Dresen - Страница 15

Flucht aus Tarda Tekbat

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„Fahrat!“ Der Schwertler seufzte.

„Jetzt kriege ich auch noch Halluzinationen …“ stöhnte er leise, drehte sich aber dennoch schwerfällig in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war, die seinen Namen gerufen hatte. Irgendetwas war ihm seltsam bekannt vorgekommen, aber er hatte keine Lust, weiter darüber nachzudenken. Er spähte über das weite Feld, das sich hier inmitten der Ruinenstadt erstreckte und nur an den Rändern von Büschen und kleinen Bäumen bewachsen war. Es musste einst so etwas wie eine Arena oder ein Sportplatz gewesen sein, eine andere Erklärung kam Fahrat für eine derart gewaltige Freifläche mitten in der Bebauung zumindest nicht in den Sinn – und ihr Boden war noch nicht einmal geteert, sondern bestand aus weicher, bröseliger Erde, aus der seltsam verdorrte Grashalme emporragten. Irgendetwas mussten die ehemaligen Bewohner von Tarda Tekbat hier veranstaltet haben, das auch heute noch den Pflanzenbewuchs verhinderte. Vielleicht war es auch eine Art Opferplatz gewesen, auf dem die Anwohner kruden Ritualen gefrönt hatten. Aus irgendeinem Grund musste die Stadt ja untergegangen sein.

Aber es war Fahrat egal. Er hatte diesen Ort genau wegen seines lockeren, unversiegelten Bodens gewählt – und weil er sich auf der überschaubaren Ebene sicherer fühlte als in den engen Gassen.

Er blinzelte gegen die untergehende Sonne.

Kam dort hinten wirklich jemand auf ihn zugelaufen? Oder war das eine sprechende Fata Morgana? Er hielt mittlerweile nichts mehr für unmöglich an diesem verrückten Ort.

Fahrat wägte ab, ob es sich lohnte abzuhauen. Einige Meter weiter gab es ein schweres, verrostetes Tor, das er eben unter Aufbringung seiner letzten Kräfte hinter sich geschlossen hatte, damit ihn niemand – oder eher nichts – bei dem, was er vorhatte, würde stören können, indem er ihn von hinten angriff.

Aber er war mittlerweile fertig und eigentlich war es ihm nun egal, was mit ihm geschah. Also blieb er stumm dort stehen, wo er eben stand und wandte den Kopf von der Gestalt ab, die immer näherkam.

Gedankenverloren starrte er auf das frisch ausgehobene Grab. Als er meinte, eine Bewegung in der Luft zu spüren, sah Fahrat auf und schien gar nicht verwundert, ein grünhäutiges Mädchen neben sich zu erblicken.

„Meera …“, sagte er fast tonlos. Fahrat konnte kaum glauben, dass das grüne Mädchen hier vor ihm stand. Vor wenigen Tagen erst hatte er sie bei den Verschwörungstheoretikern in der Kanalisation unter der STADT kennengelernt – und sie hatte ihm gefallen, auch wenn er das damals niemals zugegeben hätte. Sie konnte unmöglich hier sein. Sie war eine Halluzination. Da konnte es auch nicht schaden, mit ihr zu reden – seinem Herzen Luft zu machen. „Er hat ihn einfach umgebracht! Und ich konnte ihm noch nicht einmal sagen, wer ich bin!“, murmelte er und beugte sich hinunter, um den Erdhügel mit den bloßen Händen zu glätten.

Meera kniete sich neben den Schwertler. „Was ist passiert?“

„Er hat einen Baal beschworen! Er hat es wirklich geschafft. Hiermit!“ Er hielt einen kleinen Goldklumpen in der Hand. „Aber dann muss etwas schiefgelaufen sein.“ Fahrat dachte nach. „Obwohl … oder der Baal hat ihn einfach nur zu wörtlich genommen …“

„Warum um alles in der Welt hat Reugel einen Baal beschworen?“

Fahrat stand auf und versuchte zu demonstrieren, wie sein Großvater die Beschwörung vollbracht hatte. „Er war auf der Suche nach dem ewigen Leben! Die ganze Zeit hat er davon gefaselt, dass er dem Tod ein Schnippchen schlagen wird. Dass er hier endlich den Weg gefunden hätte. Ich glaube, er hat irgendwelche Inschriften im Tempel entziffert. Offensichtlich hat er einen Fehler beim Übersetzen gemacht.“ Fahrat schniefte und schien in Gedanken zu versinken.

„Und was ist dann passiert?“, fragte Meera zärtlich.

Fahrat schob seine Brust nach vorn. „Er hatte diesen Goldklumpen in der Hand. Darauf hat er etwas Wasser geträufelt, das wir vorher aus einem Becken im Keller des Tempels geholt haben – unter Lebensgefahr, kann ich dir sagen. Dann hat er etwas heilige Erde aus seinem Beutel geholt und es über das nasse Goldstück rieseln lassen. In seinem Zimmer hatte er sich eine Konstruktion gebaut. Reugel schien da schon länger zu … wohnen“, Fahrat zögerte bei dem Ausdruck, denn Reugels Unterkunft war nur schwerlich als Wohnung zu bezeichnen, „weißt du, in diesem Tempel. Die Gänge sind zu klein für die großen Maschinen und jedes Zimmer hat viele Ausgänge. Naja, so habe ich mir auf jeden Fall immer eine Alchemistenküche vorgestellt. Er hatte viele kleine Töpfe zusammengetragen, Essenzen und Kräuter auf improvisierten Regalen angerichtet. Reste der lebenden Maschinen hingen wie Trophäen von den Wänden. Messerscharfe Hacker-Arme, die nun tot und nutzlos waren. Gewaltige Reißer-Klauen, die leise im Wind hin und her schwangen, um zarte Töne zu erzeugen, wenn sie aneinander schlugen.

Doch auf einem Arbeitsplatz hatte er ein blaues Feuer brennen. Nur Reugel und der Gott der STADT mögen wissen, wie er das gemacht hat! Er war doch nur ein Schwertler! Offensichtlich hat er die Grenzen unserer kleinen Welt gesprengt und sich Wissen angeeignet, das für ein Mitglied unseres Ordens nicht statthaft ist.

Ein kleine heiße Flamme, wer weiß, wie er sich die zusammengehext hat, züngelte unter einem winzigen kupfernen Kessel. In diesen Topf hat er dann das feuchte und dreckige Goldstückchen gelegt. Es dauerte keine zehn Sekunden, da verfinsterte sich der Raum und der rote Baal erschien! Ich habe mich zu Tode erschrocken, kann ich dir sagen, und habe mich in eine Ecke verzogen.“ Als Fahrat auffiel, wie feige er auf Meera wirken musste, setzte er nach: „Natürlich nur, um im Fall der Fälle einen Überraschungsangriff starten zu können!“

Meera nickte schnell.

„Reugel hatte aber keine Angst“, fuhr Fahrat fort. Er breitete die Arme aus und imitierte seinen Großvater. „So stellte er sich hin! Er fixierte den Baal, der riesengroß in diesem kleinen Zimmer erschienen war.“ Fahrat schien sich in seinen Gedanken zu verlieren.

„Fahrat?“, fragte Meera sanft.

„Ach ja.“ Er streckte die Brust raus. „Baal, höre meine Worte, hat er gesagt. Du unterstehst meinem Willen. Es war gruselig.“ Der Schwertler schüttelte bei der Erinnerung abwehrend den Kopf. „Der Baal hat ihn angestarrt, seine Augen wie Feuer, man spürte seine göttliche Kraft. Am liebsten hätte er uns wohl an der Wand zerschmettert, aber er konnte nicht. Er konnte es einfach nicht! Reugel hielt ihn in Schach. Dann sagte mein Großvater: Höre meinen Wunsch. Ich will nicht mehr alt sein, ich will keine Schmerzen mehr haben! Ich möchte aufbrechen zu neuen Abenteuern und mein altes Leben einfach zurücklassen.“

Meera hörte Fahrat gebannt zu. „Und was geschah dann?“

„Der Baal sagte nur zwei Worte: Es sei.“

Fahrat sah sie traurig an.

„Und dann brach Reugel tot zusammen. Der Baal verschwand auf der Stelle, denn er hatte sein Werk vollbracht und war wieder frei. Er hatte Reugel seinen Wunsch erfüllt, irgendwie. Das entließ ihn aus der Bannung des Zaubers. Nur anders, als mein Großvater sich das gedacht hatte. Keine Schmerzen mehr. Das alte Leben zurücklassen. Reugel hatte sich sicherlich etwas anderes vorgestellt, als dieses neue Leben im Tod zu suchen. Aber es stimmt! Schmerzen dürfte er jetzt nicht mehr haben und er ist zum letzten, größten Abenteuer aufgebrochen.“ Fahrat schniefte erneut und hing ein wenig diesem Gedanken nach. „Mir blieb nur, ihn zu beerdigen. Ich konnte noch nicht mal richtig mit ihm reden. Er hat bis zum Schluss nicht gewusst, dass ich sein Enkel bin. Vielleicht ist das auch besser so.“

Meera nahm den Schwertler in den Arm. „Wieso sollte das besser sein?“

„Weil ich feige bin. Ich wäre eine Schande für ihn gewesen. Er hat es selbst gesagt. Mein Vater hatte recht. Ich bin kein Abenteurer. Ich bin noch nicht mal ein guter Schwertler. Ich bin eine Schande für eine solche Familie.“

Fahrat dachte nach. Vielleicht, dachte er, vielleicht hätte Reugel dann aber auch den Baal nicht beschworen. Vielleicht hätte er damit noch gewartet, um sich mit ihm zu unterhalten? Um ihn kennenzulernen? Doch das war nun vorbei, und damit musste Fahrat leben.

Er steckte die Hand in seinen Rucksack und holte eine kleine metallene Kugel hervor. Das Licht des Dschungels schimmerte grünlich auf der silbernen Oberfläche. Sie schien leicht zu sein und war etwas größer als eine Orange. Sie wirkte auf unnatürliche Weise lebendig. „Das und sein Degen ist alles was ich von ihm habe“, sagt Fahrat.

„Was ist das?“, fragte Meera.

„Das hat Reugel entwickelt. Ich weiß es nicht genau, aber er hat mir gesagt, wie ich es aktivieren kann. Es soll so ähnlich wirken wie der Baal und hat ihm wohl schon mehr als einmal aus der Patsche geholfen. Nur diesmal nicht.“ Er steckte es in die Jackentasche und blickte in die Ferne.

„Fahrat?“, holte Meera ihn aus seinen Gedanken. „Hörst du mich?“

Der Schwertler nickte.

„Ich bin hier, um dich zu holen!“

Fahrat schaute auf, schien nicht zu verstehen.

„Holen? Wohin?“

„Nach Hause. In die STADT. Dein Vater schickt nach dir. Er braucht deine Hilfe!“

Fahrat starrte sie ungläubig an. „Was? Mein … was? Wieso?“

Was sollte er, Fahrat, mit dem STADTrat zu tun haben? Er war nur ein kleiner, dicker Schwertler, der vor jedem Abenteuer flüchtete. Er kannte noch nicht mal jemanden im STADTrat. Außer Morton und … seinen Vater. Er schluckte.

Er blickte irritiert an Meera auf und ab.

„Und du … bist du etwa wirklich hier?“

„Die STADT versinkt im Chaos. Dein Vater hat mich geschickt, um dich zu suchen. Du bist dort jetzt ein Held! Sie wollen, dass du ihnen hilfst!“

Fahrat sah sich um. Nichts deutete auf weitere Halluzinationen oder Fata Morganen hin. Alles sah so aus wie schon seit Stunden. Nur die Sonne ging langsam unter und tauchte alles in ein rötliches Licht. Viel sprach für eine Halluzination. Die Hitze, der Tod des Großvaters. Er solle ein Held sein? Lächerlich.

War Meera wirklich hier? Die letzten Stunden waren so unwirklich gewesen. Wie sollte sie einfach so hier auftauchen können? Aber wenn sie wirklich hier war …

Fahrat zögerte. Wenn sie wirklich hier war, dann würde sie gerade einen schlechten Eindruck von ihm bekommen. Er hatte plötzlich Angst, sie könnte ihn für verrückt halten, wenn er sich nicht schnell wieder normal verhielte. Die Scham regte seine Lebensgeister wieder an und sein Gehirn begann, wieder schneller zu arbeiten. Was hatte sie gesagt, sein Vater schickte sie?

Fahrats Magen zog sich zusammen. Sein Vater! Wie oft hatte Fahrat versucht, es ihm recht zu machen. Jedes Mal, jedes einzelne Mal war er gescheitert. Wie lange hatte er schon keinen Kontakt mehr zu ihm, weil Fahrat es nicht aushielt, wenn Heinrich deReemer, der große und berühmte Abenteurer, ihn so verachtend ansah. Und nun rief er nach ihm? Er solle ihm helfen? Fahrat wusste gar nicht, ob er sich freuen oder wütend werden sollte.

Doch, was hatte er zu verlieren? Tarda Tekbat hatte ohnehin den Reiz für ihn verloren. Die Schwüle ging ihm auf die Nerven, die Kleider klebten an seiner Haut. Was sollte er noch hier? Hier hatte er versagt, schon wieder. Er sah Meera an. Vielleicht konnte er zu Hause noch etwas gut machen. Vielleicht, dachte er, vielleicht schaffe ich es, und mein Vater ist doch irgendwann stolz auf mich. Es ist eine neue Chance. Fahrat würde zurückkehren und diesmal, dieses Mal würde er es nicht wieder versauen. Doch ganz konnte er es noch nicht glauben.

„Mein Vater? Ich soll ihm helfen? Wobei?“, fragte er skeptisch. Sie konnte unmöglich hierhergekommen sein, um ihm einen Streich zu spielen. Oder doch?

„Man hat mich ausdrücklich nach dir ausgesandt. Ich weiß nicht, was dein Vater von dir will. Aber es ist dringend, er will so schnell wie möglich mit dir reden. Du sollst irgendeine Aufgabe übernehmen. Vielleicht hat es mit den Gerüchten zu tun.“

„Gerüchte? Was ist denn passiert?“ Fahrat war nur ein paar Tage fort aus der STADT und hatte schon das Gefühl komplett den Faden verloren zu haben.

„Es geht das Gerücht um, dass Morton zurückkehren könnte.“

„Zurückkehren? Ist Morton denn weg? Besiegt? Hat Ava es geschafft?“ Er stand auf. Alle Qual war plötzlich vergessen. Er spürte, wie Freude in ihm aufstieg, sein Mund verzog sich zu einem Grinsen. Wenn er sich so freute, sah er manchmal aus wie ein kleiner Junge, der vor dem Weihnachtsbaum steht, hatte Baddha ihm immer gesagt. Ein kleiner Stich im Herzen zeigte Fahrat, dass er die Trennung von ihr noch nicht ganz überwunden hatte. Irgendwie tat es immer noch ein bisschen weh, an sie zu denken. Obwohl er wegen ihres Verrats sauer auf sie war, hoffte er inständig, dass auch sie das Abenteuer unbeschadet überstanden hatte.

„Ja, Ava hat ihn besiegt, zusammen mit Baddha, und es geht ihr gut, Fahrat! Und ihren Kindern auch.“

Fahrat nahm Meera bei den Händen und strahlte nun über das ganze Gesicht. Eine felssteingroße Last, die er durch den ganzen Dschungel mitgeschleppt hatte, fiel von seinen Schultern. Ava hatte es geschafft. Sie lebte. Sie hatte ihre Kinder zurück.

„Morton ist fort? Unglaublich! Du musst mir alles erzählen!“

Ein lautes Hupen zerschnitt die geräuschlose Stille der toten Ruinenstadt.

„Später ... Sie haben uns gefunden“, sagte Fahrat, der jetzt wieder sehr müde aussah. „Schon wieder.“

Samson und die STADT des bleichen Teufels

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