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Ich denke, also fühle ich

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Manchmal wird so getan, als seien Gedanken schlecht (»Das ist alles nur in deinem Kopf«) und Gefühle gut (»Hör lieber auf dein Bauchgefühl«). Leider muss ich auch diese Illusion zerstören, denn sehr oft werden unsere Gefühle natürlich durch Gedanken ausgelöst. Gedanken, Körperempfindungen, Gefühle und Handlungen sind untrennbar miteinander verwoben. Die Zitronenübung hat uns gezeigt, wie durch Kognitionen und Vorstellungsbilder unmittelbar und ohne unsere Entscheidung autonome Körperreaktionen ausgelöst werden. Damit gehen dann natürlich auch Gefühle wie Freude oder Ärger einher. Im Alltag ist es sehr schwer, bewusst wahrzunehmen, wie Gedanken unsere Gefühle anstoßen, weil diese Prozesse sehr schnell und automatisch ablaufen.

Nehmen wir einmal an, du hast dich nach langer Zeit endlich wieder mit einem Freund fürs Kino verabredet und freust dich auf den Abend. Du hast die Tickets schon in der Tasche und wartest jetzt vor dem Kino auf ihn. Als er nach zehn Minuten immer noch nicht da ist, wirst du langsam ungeduldig und versuchst, ihn auf dem Handy zu erreichen, aber er geht nicht dran. Vermutlich ist er nicht rechtzeitig aus dem Büro weggekommen. Deine Ungeduld nimmt zu: »Sicher laufen die Trailer/läuft die Filmvorschau schon. … Jetzt hock ich hier alleine mit den Tickets. Wo bleibt dieser Blödmann nur? … Ich bin ja schließlich auch pünktlich. …« Es steigt langsam Ärger in dir auf und fünf Minuten später bist du schließlich richtig sauer: »Eigentlich hab ich es ja schon länger gewusst, der denkt nur an sich, mit so einem verabredest du dich auch noch? …« Plötzlich siehst du, wie er ganz langsam in Richtung Kino kommt und sein Fahrrad schiebt. Die Lust aufs Kino ist dir längst vergangen: »Das lass ich mir nicht bieten …«

Dann fallen dir plötzlich sein verbeultes Fahrrad und seine verdreckte Hose auf. Du läufst ihm entgegen und siehst schon aus der Distanz, dass es ihm gar nicht gut geht. Er erzählt, er hatte gerade einen ziemlich gefährlichen Fahrradunfall, ein Auto hatte ihm die Vorfahrt genommen und er war nach einer Vollbremsung vornüber gestürzt. Der Autofahrer sei einfach davongefahren. Als du das hörst, nimmst du deinen Freund in die Arme und bist heilfroh, dass es ihm halbwegs gut geht. Du schämst dich für die Gefühle von eben, und deine innere Stimme wendet sich nun gegen dich selbst: »Ein Glück, dass ihm nichts passiert ist. … Wie konntest du nur so schlecht über ihn denken? … Er wäre beinahe im Krankenhaus gelandet, was bist du nur für ein Freund?« Aus Ärger ist blitzschnell Scham geworden, weil sich die inneren Gedanken und Bewertungsprozesse verändert haben.

So weit eine beliebige Alltagssituation, von denen wir tagtäglich ähnliche erleben. Sie zeigt uns: Abhängig davon, wie wir ein Ereignis oder ein Verhalten bewerten, also was wir denken, reagieren wir auf dieselbe Situation mit völlig anderen Gefühlen und Empfindungen. Oft werden unsere Gefühle direkt durch unsere Gedanken ausgelöst, wie in diesem Beispiel. Wenn ich annehme, jemand lässt mich mit Absicht oder aus Unachtsamkeit warten, werde ich sauer. Wenn wir befürchten, dass uns Gefahr droht, bekommen wir Angst. Wenn wir uns zurückgewiesen fühlen, werden wir traurig. Weil der zeitliche Abstand zwischen unseren Gedanken und Gefühlen vielfach sehr kurz ist, haben wir subjektiv den Eindruck, unser Gefühl sei eine unmittelbare Reaktion auf die äußere Situation. Doch eigentlich aktiviert eine äußere Situation in uns einen Bewertungs- und Einordnungsprozess, und je nachdem, wie wir das Ereignis beurteilen, reagieren wir mit unterschiedlichen Gefühlen.

Vielleicht willst du jetzt einwenden, dass Gefühle manchmal aber auch unglaublich schnell entstehen und dabei kein kognitiver Verarbeitungsprozess stattfinden kann – und das stimmt. Wenn es jetzt plötzlich in deiner Umgebung einen lauten Knall gibt, dann schießt sofort Adrenalin in deinen Blutkreislauf und du drehst dich blitzschnell in jene Richtung, aus der der Knall kommt. Für Angstgedanken ist bis dahin noch gar keine Zeit, denn dein Körper reagiert autonom, also ohne dein bewusstes Zutun. In deinem Gehirn übernehmen, ähnlich wie bei Tieren, die in der Evolution früh entstandenen Hirnareale die Kontrolle über deine Handlungen und Entscheidungen, denn ein kognitiver Bewertungsprozess würde in einer akuten Gefahrensituation viel zu lange dauern. Doch direkt nach der unmittelbaren Reaktion setzt wieder ein Bewertungsprozess ein, und je nachdem, wie der ausfällt, entwickelt sich die emotionale Reaktion. Wenn du zu dem Ergebnis kommst: »Der Lärm kommt von der Baustelle nebenan, kein Grund zur Sorge!«, dann wird die körperliche Alarmreaktion wieder abgeblasen und du sagst dir erleichtert: »Hab ich mich erschreckt!« Die erste Reaktion ist jedoch kein Gefühl, sondern eine autonom ablaufende Körperreaktion, die wir für ein Gefühl halten.

In der achtsamkeitsbasierten Psychotherapie gibt es den Ausspruch: »Du bist nicht dein Gefühl, sondern du hast ein Gefühl.« Gemeint ist damit, dass wir im Alltag oft vollkommen mit unseren Gefühlen identifiziert sind, ähnlich wie mit unseren Gedanken. Wir haben normalerweise weder Abstand zu unseren Gedanken noch zu unseren Gefühlen. Wir lösen uns dann quasi in einem Gefühl auf und bestehen nur noch aus Angst, Ärger, Traurigkeit oder was auch immer. Eindrücklich erleben wir das, wenn wir frisch verliebt sind: Wir sind Feuer und Flamme für den anderen, denken Tag und Nacht an ihn oder sie, halten ihn für den schönsten Menschen auf der Welt und glauben, dass wir mit ihm oder ihr endlich das ewige Glück gefunden haben. Ewig in den Armen des anderen liegen, was könnte es Schöneres geben? Wir haben kein Gefühl des Verliebtseins, sondern wir gehen vollkommen darin auf.

Natürlich dürfen wir dieses schöne Gefühl ruhig in vollen Zügen auskosten. Wenn wir aber in unserem Alltag zu oft mit unseren Gefühlen völlig identifiziert sind, dann wird unser Leben anstrengend und leidvoll. Auch das kennen wir alle, wenn wir nämlich zu unseren unangenehmen Gefühlen keinerlei Abstand mehr haben. Wer ganz und gar in seine Traurigkeit versinkt, wird sich womöglich im Bett verstecken und keinen Sinn mehr im Leben sehen. Im Extremfall wird er sogar darüber nachdenken, sich das Leben zu nehmen, denn es ist für ihn nicht vorstellbar, dass sich das Gefühl jemals wieder auflösen könnte. Es ist, als hätten wir mitten im Winter vergessen, dass bald wieder der Frühling kommt. Wer nur noch Wut ist, kann bei sich selbst und bei anderen viel Schaden anrichten. Wer nur noch Angst ist, traut sich nichts mehr zu. Es geht darum, uns nicht in einem Gefühl zu verlieren, sondern unser Gefühl als das zu erleben, was es ist: eine tiefe Empfindung, die wieder vergeht und der ein anderes Gefühl folgen wird.

Ganz ähnlich, wie wir Lieblingsgedanken haben, haben wir übrigens auch Lieblingsgefühle. Die meisten unserer Gefühle sind nicht einfach eine Reaktion auf die äußere Situation, sondern wir haben sie gelernt, sie sind konditioniert und seit der Kindheit immer wieder verfestigt worden. Meistens waren es unsere Eltern oder andere enge Bezugspersonen, von denen wir unsere typischen Gefühlsreaktionen übernommen haben. Wer eine ängstliche Mutter hatte, reagiert im späteren Leben selbst schnell mit Angst. Wer einen jähzornigen Vater hatte, hat sich vielleicht selbst schon bei einem plötzlichen Wutausbruch ertappt. Dies ist noch ein Grund mehr, auch Gefühle beobachten zu lernen und sich nicht von ihnen überrollen zu lassen. Wem nützt es, wenn wir in Gefühlen gefangen sind, die eigentlich gar nicht uns »gehören«, sondern die von anderen Personen kopiert sind?

Ruhe da oben!

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