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1 Lärm im Kopf
ОглавлениеWenn wir auf die Welt kommen, ist nur Stille in uns. Ein Neugeborenes lebt ausschließlich im gegenwärtigen Augenblick. Es schmeckt, riecht und schaut. Ewigkeiten ist ein Kleinkind von den Bewegungen eines Mobiles fasziniert, spielt mit einer Kastanie oder blickt neugierig und offen in die Augen seiner Mutter. Es ist einfach nur hier. Weil es keine Gedanken gibt, gibt es auch kein Gestern und kein Morgen, kein hier und dort und nichts, was es zu erreichen gilt. Wir Erwachsene sind angezogen und gebannt, uns geht förmlich »das Herz auf«, wenn wir ein Kleinkind in seiner absoluten Präsenz erleben. Maldea, die anderthalbjährige Tochter einer Freundin, sitzt abends in ihrem Bettchen und schaut sich ein Bilderbuch an. Sie zeigt auf die Bilder, brabbelt vor sich hin, strahlt mich immer wieder an und scheint ziemlich glücklich zu sein. Sie denkt nicht: »Oh man, morgen muss ich zum Babyschwimmen. Hoffentlich ist das Wasser nicht wieder so kalt!« Oder: »Wen soll ich zu meinem Geburtstag einladen? Wenn ich Adrian nicht einlade, ist er bestimmt beleidigt und will nichts mehr mit mir zu tun haben.«
Wir alle kommen mit jener unbeschreiblichen inneren Stille und Freude auf die Welt, die Kleinkinder ausstrahlen. Jeder von uns hat diesen Zustand bereits erlebt, auch wenn wir uns nicht bewusst daran erinnern können. In uns war es damals so still, weil wir noch nicht denken konnten. Unser Großhirn, das für unsere Denkprozesse zuständig ist, war noch nicht ausgebildet. Erst im Laufe unserer ersten Lebensjahre erwerben wir die Fähigkeit zum Denken. Wir lernen Worte und Sätze, die wir dazu nutzen, mit anderen Menschen zu sprechen. Wir können unserer Mutter erzählen, was gestern in der Schule passiert ist oder wie lecker dieses neue blaue Eis schmeckt. Gleichzeitig beginnt ein innerer Dialog mit uns selbst. Wir nehmen unsere Umgebung nicht mehr einfach nur wahr, wie es ein Säugling tut, sondern in unserem Kopf findet eine ständige Verarbeitung und Bewertung all unserer Wahrnehmungen statt. Außerdem werden alle bisherigen Erfahrungen fein säuberlich archiviert, denn sie werden uns später noch nützlich sein.
Es wird nicht lange dauern und Maldea blättert nicht mehr einfach nur aufmerksam mit offenen Kinderaugen in ihrem Bilderbuch. Auch in ihrem Kopf werden mehr und mehr Gedanken auftauchen. Sie wird sich irgendwann über das Morgen sorgen, sich vielleicht nicht klug genug finden oder ihre Eltern fragen, warum die Nachbarn so oft in den Urlaub fahren und sie selbst überhaupt nicht.
Aber zunächst wird es noch einige Jahre dauern, bis Maldeas Geist voll ausgebildet ist. Wir alle haben während unserer Kindheit einen leichteren Zugang zu unserer Nicht-Verstandesebene, als wir das im Erwachsenenalter haben. Der Lärm in unserem Kopf hat zwar schon begonnen, aber er ist noch wenig aufdringlich und versiegt auch immer wieder für längere Zeit. Wir können in dieser Zeit noch viel leichter vollkommen im gegenwärtigen Moment sein, gebannt von dem, was gerade ist. Wir sind offener für angenehme Gefühle wie Freude oder Zufriedenheit, aber auch für unsere unangenehmen Empfindungen wie Traurigkeit. Uns fällt es leichter, zu weinen, aber auch freudestrahlend zu lachen. Wir erleben unsere Gefühle unmittelbarer und spontaner.