Читать книгу Ruhe da oben! - Andreas Knuf - Страница 7
»Die nächste Minute bitte nicht denken!«
ОглавлениеIch möchte dir eine kurze und vollkommen unproblematische Übung vorschlagen. Du sollst etwas ganz Einfaches tun, oder besser gesagt: nicht tun. Du sollst nämlich eine Minute nicht denken. Das müsste doch eigentlich zu schaffen sein, oder? Setz dich entspannt, aber konzentriert auf einen Stuhl oder bleib da, wo du dich gerade befindest. Schließ deine Augen und nimm dir vor, etwa eine Minute lang nicht mehr zu denken. Du kannst die Übung gerne auch ausdehnen, es sollte nur mindestens eine Minute sein. Wichtig ist, dass du wach und aufmerksam bist, sonst kannst du aufkommende Gedanken nicht wahrnehmen.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass dir diese Übung nicht ganz gelungen ist. So sicher, dass ich mein Buchhonorar darauf verwetten würde. Jedenfalls habe ich schon viele Menschen gebeten, diese Übung zu machen, und bisher ist es niemandem auf Anhieb gelungen. Die meisten berichten, am Anfang wäre es tatsächlich still in ihnen gewesen, aber schon nach kurzer Zeit seien ihnen entweder irgendwelche Gedankenblitze durch den Kopf geschossen oder sie hätten sich sogar in längeren Gedankenketten verloren. Aber wie kann das sein? Wir Menschen schicken Rover zum Mars, bauen selbstfahrende Autos oder schicken Nachrichten in Sekunden um die Welt, aber wir können nicht eine Minute unseren ewigen Gedankenstrom unterbrechen?
Ich erinnere mich noch sehr genau an den Moment, als ich in den 1990er-Jahren das erste Mal meinen Geist ganz bewusst beobachtete. Ich saß gemeinsam mit einer Gruppe neugieriger Europäer in einem indischen Kloster in einer Meditationshalle. Wir nahmen an einem Seminar teil, in dem wir in verschiedene Meditationstechniken eingeführt wurden. Es war ein heißer Monsuntag im Juni und ich hatte eine anstrengende Fahrt zum Kloster hinter mir. Ich freute mich schon darauf, dass es in mir nun endlich still werden würde.
Wir versuchten uns an einer Vipassanā-Meditation. Man sitzt mit geschlossenen Augen still und unbeweglich auf einem Kissen und tut nichts anderes, als wahrzunehmen, was sich im gegenwärtigen Moment ereignet, welche äußeren Reize man wahrnimmt und welche Gedanken und Empfindungen aufkommen. Ich saß also auf meinem Kissen und versuchte, mich darauf zu konzentrieren, wie mein Geist langsam immer ruhiger werden würde und ein tiefer innerer Frieden von mir Besitz ergreifen sollte …
Doch es passierte genau das Gegenteil: In meinem Kopf wurde es immer turbulenter und lauter, ein Gedanke jagte den nächsten. Der Taxifahrer vorhin hatte mir bestimmt zu viel Geld abgenommen: »30 Rupien? Das kann doch nicht sein, die Fahrt darf höchstens 15 kosten! Warum hast du dem nicht bloß 15 gegeben? Das Sitzkissen ist so hart. … Du musst dir morgen unbedingt ein besseres kaufen, so eins wie daheim. … Wie spät ist es da eigentlich gerade? 3,5 Stunden Zeitverschiebung, das macht dann 14 Uhr, nein, verdammt, 3,5 Stunden in die andere Richtung. … Bist du eigentlich sicher, dass es eine gute Idee war, nach Indien zu fahren? Jetzt hockst du hier und willst meditieren und kannst nicht mal fünf Minuten still sein. …« So in etwa ging es endlos weiter. Je länger ich auf meinem Kissen saß und mein Denken beobachtete, desto mehr Gedanken überfielen mich. Zwischendurch hatte ich regelrecht Angst, verrückt zu werden. Sie waren schlimmer als die quälenden Mosquitos, die sich jede Nacht auf mich stürzten. Ein dünnes Moskitonetz genügte und ich hatte meine Ruhe vor ihnen. Doch was konnte ich nur tun, um meine Gedanken zu beruhigen?
Später hatte ich Gelegenheit, mit einer erfahrenen Meditationslehrerin über meinen gründlich fehlgeschlagenen Entspannungsversuch zu sprechen. Ruhig lauschte sie meinen entsetzten Schilderungen und nickte nur verständnisvoll und wissend: »Du hast nicht mehr Gedanken als sonst, sondern du merkst zum ersten Mal, was eigentlich in deinem Kopf los ist!«, sagte sie. Das also war sie, die »Affenhorde«, von der ich in verschiedenen Büchern immer wieder gelesen hatte und von der ich bis dahin dachte, andere Menschen hätten damit zu kämpfen, aber doch nicht ich. Mit »Affenhorde« ist unser unbändiger Geist gemeint, der vom einen zum anderen springt, es nirgends lange aushält, wild herumassoziiert und Gedanken und Bilder oft sinnlos aneinanderreiht. Dieser Affenhorde sind wir alle, wohl ausnahmslos, immer wieder ausgeliefert. Das anzuerkennen ist der erste Schritt für eine Veränderung, denn wie soll uns Entspannung gelingen, wenn es in uns unentwegt tobt?
In der folgenden Nacht träumte ich von einer Horde Affen, die ständig hinter mir herrannte. Am Abend hockten sie sogar alle in meinem Schlafzimmer. Kaum hatte ich einige von ihnen aus meinem Zimmer verjagt, kamen andere durch die offenen Fenster wieder herein und grinsten mich hämisch an. Schweißgebadet wachte ich am nächsten Morgen auf. Offensichtlich hatte ich mich in diesem Meditationsseminar auf ein besonderes Experiment eingelassen. Wenn wir wirklich ehrlich mit uns sind, müssen wir uns eingestehen: Wir können nicht selbst entscheiden, ob wir denken oder nicht. Das wäre ja nicht weiter schlimm, sofern unser Geist nur dann anspringen würde, wenn er tatsächlich gebraucht wird. Doch genau das macht er nicht. Er denkt vielmehr unentwegt, wann er will und was er will. Er ist in den unmöglichsten Augenblicken aktiv, selbst dann, wenn wir ihn gerade ganz und gar nicht brauchen können. In spirituellen Texten heißt es daher manchmal, der Diener sei zum Hausherrn geworden und der Hausherr zum Diener. Eigentlich sollten wir es sein, die entscheiden, wann wir unseren Geist nutzen und wann eben nicht. Doch in Wirklichkeit ist es umgekehrt: Nicht wir denken, sondern »es« denkt in uns. Und die Verdrehung geht noch weiter: Wir haben nämlich sogar vergessen, dass wir der Hausherr sind bzw. sein könnten. Wir halten es für vollkommen normal, nicht einmal für eine Minute unser Denken abschalten zu können.
Unsere Denkaktivität ist ähnlich wie das Geräusch eines neuen Weckers: Am Anfang nehmen wir das gleichmäßige Ticken noch wahr, doch es dauert nicht lange, bis wir es gar nicht mehr hören. Unsere geistigen Prozesse sind für uns so selbstverständlich geworden wie der Strom, der aus der Steckdose kommt und den wir erst »bemerken«, wenn es einen Stromausfall gibt. Wir denken nicht jeden Morgen: »Ah, da kommt ja Strom aus der Steckdose, toll, dass ich mir damit einen Kaffee kochen kann«, sondern der Strom kommt eben einfach. Auch unsere Gedanken sind einfach da, wir begrüßen nicht jeden unserer Gedanken mit einem freundlichen »Ah, ein neuer Gedanke, was denke ich denn gerade?« Wir nehmen nicht wahr, dass wir denken, und wir haben meistens auch wenig Gespür für die Augenblicke, in denen unser Geist zur Ruhe kommt. Viele Menschen wissen daher nicht einmal vom Hintergrundrauschen in ihrem Kopf. Sie haben längst vergessen, wie es sich anfühlt, wenn es in ihnen still ist. Vielleicht glauben sie sogar, es sei still in ihnen, dabei tobt in ihrem Kopf eigentlich der Bär, oder besser: die Affenhorde. Erst wenn unser Denken wirklich durcheinandergerät und wir krank werden, nehmen wir wahr, dass da oben etwas nicht stimmt. Chima hat es in seinem Lied »100 Elefanten« ganz treffend beschrieben: »Diese Gedanken trampeln in meinem Kopf wie hundert Elefanten, diese Gedanken kommen aus dem Off und türmen sich zu Giganten.« Wer sich von allen Geheimdiensten der Welt verfolgt fühlt oder eine panische Angst vor Marienkäfern entwickelt, der scheint ganz offensichtlich »krank« zu sein.
In diesem Buch beschäftigen wir uns jedoch nicht mit psychischen Erkrankungen, sondern mit dem ganz »normalen Wahnsinn«. Jeder von uns kennt ihn und den meisten von uns fällt er nicht einmal auf.