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»Im letzten Jahr war der Till aber besser.« Posthalters Sigrun schenkte sich schwungvoll den letzten Rest Secco in ihr noch nicht vollständig geleertes Glas und stellte die Flasche dann ganz beiläufig zurück zwischen die vielen anderen. Ihre beiden Freundinnen schienen zum Glück nicht bemerkt zu haben, dass sie sie leer gemacht hatte.

Die Käfergässer Gerda nickte mit dem für sie typischen Gesichtsausdruck, der deutlich machte, dass sie kein Wort verstanden hatte. Ihr Hörgerät musste schleunigst neu eingestellt werden. So machte das doch keinen Sinn. Eine Fassenachtssitzung von weit mehr als fünf Stunden, ohne etwas mitzubekommen? Wobei, wenn sie ernsthaft darüber nachdachte, wäre es bei manch einem Beitrag des heutigen Abends gar nicht so schlimm gewesen, wenn sie nur die Hälfte oder gar nichts verstanden hätte. Bei dem aus Finthen eingekauften Profiredner zum Beispiel, dessen Namen sie vergessen hatte, der aber schon zum zweiten Mal hier bei ihnen im Ort aufgetreten war und aus diesem Grund wohl meinte, einfach den Vortrag vom Vorjahr wiederholen zu können. Sie war vierundachtzig, aber noch gut beieinander und hatte es daher schon nach dem zweiten Satz gemerkt. Seine Witze waren zudem schlecht und wurden durch die Wiederholung auch nicht knackiger.

»Viel besser war er im letzten Jahr! Und er hat streng gerochen diesmal.« Die Chaussee-Helga reckte sich in ihrem viel zu engen Blumenkostüm in die Höhe und langte ebenfalls nach der Seccoflasche. Sigrun drehte sich schnell zur Seite, aber da saß niemand mehr, mit dem sie ein Gespräch hätte anfangen können, um dem Zwangsläufigen zu entkommen. Sie waren mit wenigen anderen Alten die Letzten im großen Saal. Die übrigen Gäste waren mit dem letzten Takt des großen Finales nach oben ins Foyer gestürmt, um sich nach den vielen Stunden im Sitzen endlich bewegen zu können. Dumpf hallten die Bässe der modernen Musik zu ihnen herunter. Dafür war es in der großen Halle endlich so ruhig, dass man sich ungestört und ohne Schreierei über die Höhe- und Tiefpunkte dieses Abends unterhalten konnte. Ihre gemeinsame Sitzungsbilanz war fester Bestandteil der Fassenacht, vorher ging sie nicht nach Hause. Obwohl sie arg mit der Müdigkeit zu kämpfen hatte. Normalerweise lag sie um Mitternacht schon seit einigen Stunden im Bett oder schlief im Wohnzimmer auf dem Sofa, weil ihr während einer der Volksmusiksendungen die Augen zugefallen waren. Die Nachsitzung, in der man als erfahrener Zuschauer sämtliche Beiträge einer wohlwollenden Kritik unterzog, gehörte einfach dazu. Von der schwerhörigen Gerda war in dieser Hinsicht heute nur wenig zu erwarten. Aber auf Helgas spöttische Bemerkungen zu den einzelnen Beiträgen des Programms freute sie sich. Fragend blickte sie nun in ihre Richtung, allerdings aus einem ganz anderen Grund.

Helga hielt die Flasche, aus der nur noch vereinzelte Tropfen herausfielen, senkrecht über ihr Glas. »Leer. Dann bist du jetzt dran!«

»Von mir war die erste.« Sigrun nahm Abwehrhaltung ein und bemühte sich um einen empörten Gesichtsausdruck. Weil sie den feinen schwarzen Velourshut ihrer Mutter mit dem dunklen Netzschleier trug, wusste sie allerdings nicht sicher zu sagen, ob Helga das überhaupt erkennen konnte.

»Von wegen!« Helgas lautes Organ zog die Aufmerksamkeit des Nachbartischs auf sich. Sie fuchtelte mit dem Zeigefinger in der Luft herum. Wenn sie so weitermachte, würde die Naht unter ihrem Arm endgültig kapitulieren. Dort klaffte jetzt schon eine fast zehn Zentimeter lange Lücke, durch die ihre hautfarbene Korsage quoll. Das kam davon, wenn man jedes Jahr ein neues Kleid kaufte, um auf den Putz hauen zu können, dabei aber eisern die Konfektionsgröße beibehielt, die man vielleicht vor dreißig Jahren gehabt hatte, und zudem nicht auf eine gute Verarbeitung achtete, damit das Kleid wenigstens einen ganzen Abend überstand. Da hatten die alten Stoffe doch eine ganz andere Qualität.

Sie genoss die Genugtuung, die in ihr keimte. Hatten nicht beide Freundinnen, als sie sich am heutigen Nachmittag zur Einstimmung auf ein Glas Weinbergpfirsichlikör bei Gerda eingefunden hatten, über ihre Verkleidung gelästert? Schon wieder dasselbe! Du siehst ja aus, als ob du den Altkleidercontainer der Johanniter geplündert hättest. Das Konfirmationskleid der Großmutter, den halb zerfressenen Fuchs von anno dazumal um den Hals und die Schleierkappe. Ein wenig mehr Mühe hättest du dir schon geben können.

Den platten Schwarzfuchs, dessen Schnauze sich über dem Dekolleté mittels eines Druckknopfs mit dem Schwanz verbinden ließ, hatte sie wegen der Hitze im Saal gleich nach dem stimmungsvollen Einmarsch der Garden in ihrer Tasche verschwinden lassen. Den Hut aber würde sie bis zum bitteren Ende auf dem Kopf behalten. Helga sollte sich bloß nicht einbilden, dass sie die Kleiderordnung zu bestimmen hatte.

»Die erste Flasche Secco war von Gerda, die zweite von mir. Ich habe außerdem die Flasche Wasser und den Spundekäs bezahlt.« Helga war immer noch mit dem Zeigefinger in der Luft zugange und deutete dann auf sie. »Jetzt bist du dran.« Sie reckte das Kinn. »Du kannst nicht den ganzen Abend mittrinken und dich dann billig aus der Affäre ziehen!«

»Mir reicht es eigentlich.« Demonstrativ schob Sigrun ihr Sektglas, das noch gut gefüllt war, ein Stück von sich weg. »Ich bin noch gut versorgt.«

»Das könnte dir so passen.« Helga ließ endlich den Arm sinken. Das war ja regelrecht peinlich, wie die sich aufführte. »Jetzt wird es doch erst lustig. Also wir trinken noch einen.« Mit dem Ellbogen stieß sie Gerda an, die daraufhin hektisch den Kopf auf und ab bewegte. Helga winkte bereits dem Mädchen mit dem Servicewagen, diesmal mit der Linken. Die Naht dort hielt. »Zum Abschluss nehmen wir eine Flasche richtigen Sekt. Ich glaube, das haben wir uns verdient.«

»Unser Till war trotzdem wieder der Beste!«

Helga und Sigrun blickten Gerda erstaunt an. Die wollte gar nicht aufhören mit ihrem zustimmenden Nicken. »Nicht so gut wie letztes Jahr«, fuhr sie fort. »Aber trotzdem besser als die Profis aus Finthen, Gonsenheim und Mombach, für die sie angeblich sogar Geld bezahlen. Für Weck, Worscht und Woi allein kommen die anscheinend nicht mehr. Mein Enkel, der im Elferrat sitzt, hat gemeint, von denen würde jeder einen Umschlag mit ein paar hundert Euro zugesteckt bekommen. Ganz unauffällig, damit es die anderen nicht merken, die das noch aus Liebe zum Brauchtum machen. Aber irgendwann bekommen die es dann doch mit. Das wird die Fassenacht auf Dauer ruinieren.« Sie wiegte traurig den Kopf. »Früher oder später halten sie alle die Hand auf, und keiner macht es mehr aus Freude. Wenn wir hier im Dorf noch zwei oder drei wie den Georg Winternheimer hätten, bräuchten wir die auswärtigen Büttenredner gar nicht.« Gerda schaute versonnen und begann zu kichern. Dann sah sie sich verstohlen um, schob ihren Kopf nach vorne und flüsterte fast. »Wie der den Kurt-Otto Hattemer durch den Kakao gezogen hat.« Sie lachte auf, presste sich aber sogleich erschrocken die Hand auf den Mund. »Unsere Miss Marple, zwar männlich, aber genauso neugierig.« Sie winkte ab. »Und wie er dann die Kühltasche hinter dem Vorhang hervorgeholt hat, mit der Aufschrift ›Renates Liebling‹. Da wusste schon jeder, was kommt: ein halbes Dutzend Bratwurstdosen.« Gerda gluckste zufrieden vor sich hin.

Sigrun schüttelte den Kopf. Eigentlich mehr aus Verwunderung darüber, was Gerda alles verstanden hatte. Ganz unwidersprochen konnte sie das Gesagte aber nicht stehen lassen. »Trotzdem war er letztes Jahr besser.« Sie hielt kurz inne, weil sie nach einer Begründung suchte. »Irgendwie wirkte er heute so fahrig. Zweimal hat er regelrecht den Faden verloren. Da hat man gemerkt, dass er überlegt, wie es weitergeht. Das ist ihm sonst nie passiert.«

»Du hast recht, das ist mir auch aufgefallen«, sagte Helga. »Aber der Winternheimer wird eben auch nicht jünger. Obwohl er im Gegensatz zu uns alten Schachteln mit seinen dreiundfünfzig Jahren noch als junger Hüpfer durchgeht.« Sie lächelte vielsagend. »Adrett hat er ausgesehen in seinem modischen Anzug. Und ihr habt das wirklich nicht gerochen?« Sie blickte fragend um sich, erhielt aber keine Antwort.

Zu ihnen an den Tisch hatte sich mittlerweile eine junge Dame gesellt, der man die vielen Stunden hinter dem Servicewagen deutlich ansehen konnte. Ihre schwarze Perücke, die an Mireille Mathieu erinnerte, war leicht verrutscht. Das dick aufgetragene Make-up vermochte die dunklen Ringe unter ihren Augen nicht mehr zu kaschieren. Sie schien froh zu sein, dass im Saal endlich Ruhe eingekehrt war und sich der Trubel nach oben verlagert hatte. Sie gähnte ungeniert und riss den Mund dabei weit auf.

Sigrun versuchte, die Bedienung zu ignorieren. Die Preise, die sie verlangte, waren so unangemessen wie ihr Benehmen. Der Sekt kostete ein Vermögen. Dass die hier aber auch so zulangen mussten. Wenn sie den süßen Morio-Muskat-Sekt beim Werum im Weingut holte, bezahlte sie nicht einmal die Hälfte. Das gehörte sich nicht, so einen Aufschlag zu nehmen, wo schon der Eintritt für die Sitzung kein Pappenstiel gewesen war. Es war so schon ein recht kostspieliger Abend. Und jetzt noch der Sekt zur Krönung. Das war wirklich zu viel. Sie ließ ihren Blick schweifen und wusste auf einmal, wie sie aus der Sache herauskam. Ächzend stemmte sie sich in die Höhe. Ihre Knie schmerzten vom langen Sitzen. Sie seufzte, dann ging sie zum verlassenen Nachbartisch, der noch nicht abgeräumt war.

Helga beachtete sie nicht und fuhr unbeeindruckt fort in ihrem Monolog. »Der Winternheimer ist auf dem Weg zur Bühne doch direkt an uns vorbeimarschiert. Gesehen hat man ihn kaum, so dunkel war es, aber riechen konnte ich ihn schon, bevor er hier bei uns ankam.« Sie verzog angewidert das Gesicht. »Du hast vermutlich wegen der vielen Mottenkugeln und dem muffigen, vermoderten Fuchsschwanz, den du da noch um den Hals hattest, nichts mitbekommen«, sagte sie zu Sigrun. Die schnaufte verächtlich. Das ging ja nun wirklich zu weit. »Aber du.« Helga wandte sich Gerda zu. »Du musst das doch auch gemerkt haben. Der hat gestunken wie ein Güllefass. Bestimmt ist der draußen in einen Hundehaufen getreten.«

Helga war jetzt ganz auf Gerda fixiert, von der sie sich Zustimmung für ihre Theorie erhoffte. Sigrun nutzte die Gunst des unbeobachteten Moments und nahm die Sektflasche vom Nachbartisch. Das Gewicht gab ihr recht. Sie war noch fast voll. Sie lächelte zufrieden. Eine Schande wäre das. Gut versteckt hinter ihrem Rücken beförderte sie die herrenlose Sektflasche zu ihrem Tisch und platzierte sie ganz beiläufig zwischen den anderen, während Helga noch immer auf Gerda einredete und sie keines Blickes würdigte.

Sigrun wandte sich an die junge Frau mit der schwarzen Perücke. »Wir würden dann noch eine Flasche Sprudelwasser nehmen.« Sie hielt ihr einen Fünfer hin und fügte in nicht zu überhörender Lautstärke hinzu: »Sie dürfen gerne aufrunden.«

Zufrieden mit sich ließ sie sich auf ihren Platz sinken und griff nach dem Schaumwein. Eugen Werum, dessen Weingut sich gegenüber dem Zehnthof befand, stand im Ruf, ausgezeichnete Sekte herzustellen. Da war es sicher zu verschmerzen, dass dieser nicht mehr so recht sprudeln wollte und ihr reichlich angewärmt vorkam. Es hatte den ganzen Abend ein ziemlicher Andrang bei den Getränken geherrscht, da waren kleine Qualitätsmängel nur zu verständlich. Man musste auch ein wenig Mitgefühl für Organisation und Personal aufbringen.

Während Sigrun ihren Freundinnen großzügig einschenkte, wurde in der Nachbarreihe zum wiederholten Male »So ein Tag, so wunderschön wie heute« angestimmt.

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