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Entschlossen betätigte Lukas Horn den Taster der Elektroschere. Ein kaum vernehmbares Summen drang an seine Ohren. Sein Schnaufen überlagerte das Geräusch, als die Messer tief in das harte Holz des Rebstocks schnitten und es durchtrennten. Wenn er sich ganz auf seine Tätigkeit konzentrierte, ließen ihn die Erinnerungen für einen Moment in Ruhe. Dann spürte er die Narbe an seinem linken Zeigefinger; Fluch und Segen des technischen Fortschritts. Früher waren alle Weinberge mit Scheren und reiner Muskelkraft geschnitten worden. Für die dickeren, verwachsenen Teile der Rebe führte man einen kleinen Fuchsschwanz am Gürtel mit sich. Die Säge wurde vor allem bei den am Stamm sehr wüchsigen Sorten wie dem Portugieser benötigt. Mit der kleinen Rebschere kam man da nicht weiter, zudem sorgte sie für unnötige Verletzungen an der Pflanze, die Krankheiten Vorschub leisteten. Damals waren ein schmerzender Unterarm und eine Sehnenscheidenentzündung die ständigen Begleiter eines jeden Winzers während der ersten Monate des neuen Jahres.

Später ersetzte die Astschere mit ihrer größeren Hebelwirkung die gebogene kleine Säge, dann hielt die Motorisierung Einzug in die Weinbergsarbeit. Im Januar und Februar hallte das Knattern der kleinen Kompressormotoren durch den Teufelspfad. Sie sorgten für den nötigen Luftdruck, um die Scheren ohne großen Krafteinsatz betreiben zu können. Er selbst hatte auch noch damit geschnitten. Sein erster Ausbildungsbetrieb verfügte über zwei Elektroscheren, eine für den Chef und die andere für den angestellten Winzermeister. Ihm als Auszubildenden war dieser Luxus nicht vergönnt gewesen, er hatte am Schlauch gehangen, der vom Kompressor Hunderte Meter weit bis in den Schaft der Schere führte. Bei jedem Schnitt zischte es. Das Geräusch hatte ihn abends in den Schlaf begleitet und morgens beim Aufwachen wieder begrüßt. Nach drei Wochen hatte er das Gefühl gehabt, seine Hüfte stünde unter Dauerzug, weil er sich ständig gegen die Spindel stemmen musste, die den Druckluftschlauch unter Spannung hielt.

Seine erste Investition nach dem Einstieg in den Betrieb war daher die Anschaffung einer Elektroschere gewesen, deren Akku platzsparend in einen Rucksack eingearbeitet war, den man ohne Folgeschäden wochenlang auf dem Rücken mit sich herumschleppen und mit dem man den ganzen Tag bequem schneiden konnte. Voraussetzung war, dass man nicht vergaß, den Rucksack abends an den Strom zu hängen. Nur einmal war ihm das passiert, mit unangenehmen Folgen. Daher stammte die Narbe, die er bis heute spürte.

Es gab eben diese Scheißtage, an denen alles zusammenkam. Am Kaffeetisch hatte sein Großvater ihm schonend beizubringen versucht, dass sie ihren größten Weinberg nach dem nächsten Herbst zurückgeben müssten. Der Pachtvertrag lief aus. Das wusste er selbst. Der Weinberg gehörte Helga Schöneberger, die im Dorf von allen nur die Chaussee-Helga genannt wurde, weil sie im letzten Haus am Ortsausgang in Richtung Mainz lebte. Helgas Kinder waren weggezogen. Sie hatten kein Interesse am Weinbau, daher hatte die Chaussee-Helga die Fläche an seinen Großvater verpachtet, vor zwanzig Jahren schon. Nach so langer Zeit hatte er es für eine Selbstverständlichkeit gehalten, dass er den knappen Hektar im Kalksteingeröll der Abbruchkante des Teufelspfads weiter würde bewirtschaften können, zumal sich die Verträge nach dem Auslaufen automatisch um ein weiteres Jahr verlängerten, bis man sich bei Gelegenheit zusammensetzte, um einen neuen Pachtvertrag abzuschließen.

Doch die Rechnung hatte er ohne den Dörrhof gemacht, und er hätte es wissen müssen. Den Ruf, sich in bestehende und auslaufende Verträge hineinzudrängen, hatte er nicht umsonst. Das gehörte sich nicht! Anscheinend wusste er aber genau, wann und wie er ansetzen musste, um zu seinem Ziel zu kommen. Er hatte die Chaussee-Helga so lange bequatscht, bis sie ihm den schönen Weinberg zusicherte. Reichlich zerknirscht hatte sie das seinem Großvater an jenem Morgen gebeichtet.

Der Zorn war kein guter Begleiter bei der Arbeit mit Maschinen. Da er den Akku der Elektroschere am Abend zuvor nicht aufgeladen hatte, war er mit der alten Druckluftschere losgezogen, rasend vor Wut, hatte aber auf den Gürtel verzichtet. Zum Schneiden brauchte man den Gürtel nicht unbedingt. Den Schlauch bekam man zur Not auch irgendwo an der Jacke befestigt. Allerdings verfügte der Gürtel zusätzlich über eine Schlaufe, in die man die freie linke Hand einhängen konnte, um damit nicht in den Schnittbereich der Schere zu geraten.

Der Heftdraht hatte ihm im Weg gehangen. Er befürchtete, ihn aus Versehen zu durchtrennen, und reagierte mit einer knappen Bewegung zum Draht hin. Ein Moment der Unaufmerksamkeit, dann das Zischen der Luftdruckschere und der Schmerz, der ihn aufschreien ließ. Das Blut war aus dem Handschuh geschossen, den die Klingen sauber mit durchtrennt hatten. Seither fehlte ihm das letzte Glied des Zeigefingers. Die Narbe war einigermaßen vorzeigbar, schnell und gut verheilt, aber im Frühjahr beim Rebschnitt juckte sie ständig und erinnerte ihn daran, dass es besser war, die bei dieser Arbeit unnütze Linke am Gürtel einzuhängen oder sie in der warmen Jackentasche zu belassen.

Es tat gut, sich mit etwas anderem zu beschäftigen als den Ereignissen von gestern. Der alte Winternheimer hatte die Strafe verdient. Er hätte ihn anhören und nicht wie eine lästige Fliege verscheuchen sollen. So hatte das nämlich für ihn ausgesehen. Er war ein ganz Kleiner im Vergleich zu Winternheimer, das wusste er. Aber das, was sie an Schuld auf sich geladen hatten, wog schwer.

Winzerschuld

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