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Kurt-Otto hatte bis nach dem Mittagessen gewartet und war dann aufgebrochen. Renate hatte ihm davor eine kräftigende »Katerbrühe« zubereitet und war dann zu ihren Kolleginnen gestoßen. Die Damen hatten noch reichlich zu tun, wollten sie ihre gemeinsame Kostümierung für den Altweiberdonnerstag rechtzeitig fertig bekommen. Vor einigen Jahren hatten sie sich mit einem Gewirr von Spielzeug-Gummischlangen auf dem Kopf so originell als Medusen aus dem Rhein hergerichtet, dass die Kameras des Südwestfunks gar nicht von ihnen ablassen wollten. Dadurch angespornt, investierten sie seither noch mehr Zeit in die Herstellung ihrer aufwendigen Verkleidung.

Dass es ihm wieder recht gut ging, hatte Kurt-Otto daran gemerkt, dass er Lust verspürte, Renates feine Gemüsebrühe mit einer großen Dose Bratwurst gehaltvoll aufzuwerten. Schon der vertraute Duft aus der frisch geöffneten Fünfhundert-Gramm-Büchse hatte einen Teil seiner Lebensgeister zurückgebracht. Der fleischig herzhafte Geruch, der sich in der Hitze der Suppe verstärkte, nachdem er die weichen Bratwurstwürfel hineingeschnitten hatte. Gekrönt vom verheißungsvollen Anblick der zarten Augen, die sich gleich darauf auf der Oberfläche bildeten, weil sich das weiße Fett vom Rand der Dose, welches er zusammen mit dem durchsichtigen Gallert fein säuberlich ausgeschabt hatte, umgehend auflöste. Das herbe Gemüsearoma wurde wohltuend in den Hintergrund gedrängt. Mit geschlossenen Augen hatte er die Nase darübergehalten und mehrere Minuten lang tief eingeatmet. Er konnte spüren, wie seine Kraft langsam, aber kontinuierlich zurückkehrte.

Bei der nächsten lebensbedrohenden Wintergrippe würde er es genauso machen. Im Unterschied zum chinesischen Tigerbalsam, mit dem Renate ihn zwangsweise inhalieren ließ, bescherte ihm das Einatmen von Dosenbratwurstdampf Besserung, ohne die Augen schmerzhaft tränen zu lassen und ihm sämtliche Atemwege zu verätzen. Ob sie für diese Theorie aufnahmebereit sein würde? Er durfte das Ganze nur nicht als Hausrezept seiner Mutter ausgeben. Darauf reagierte Renate stets äußerst allergisch.

Er steuerte seinen alten Fendt noch ein Stück weiter den Betonweg hinauf. Das war Teil seines Plans, den er sich, ausreichend gestärkt, für seine Ausfahrt zurechtgelegt hatte. Der Kollege Dautenborn konnte sich entspannen. Kurt-Otto musste schmunzeln. Harry Dautenborn hatte sich eben kurz in die Höhe geschoben, um über die Rebzeilen hinweg zu kontrollieren, wer da so lautstark im Anmarsch war. Sehr ungeschickt hatte er sich dabei angestellt und sich noch unbeholfener zu verstecken versucht, als er Kurt-Otto erkannte. Durch das kahle Geäst der Rebstöcke war deutlich zu sehen, dass Dautenborn seither gebückt hinter der Rebzeile ausharrte, um nicht entdeckt zu werden.

Dieses Verhalten war Kurt-Otto durchaus bekannt. Nicht wenige seiner Kollegen vermieden es in der einen oder anderen Situation, mit ihm zusammenzutreffen. Manche waren durch ihre stark gewachsenen Weinbaubetriebe ständig unter Strom und in Eile. Denen war selbst der lockere Plausch im Weinberg eine Last. Andere wollten sich nicht bei Handlungen ertappen lassen, die sie gern geheim halten wollten, und betrachteten ihn, der mit Neugier gesegnet war, als unwägbares Risiko.

Dem Harry würde er nachher noch einen kleinen Besuch abstatten, wenn sich der Kollege in Sicherheit wähnte und aus der Thermoskanne Kräutertee einschenkte, den er stets mit reichlich Tresterbrand veredelte. Den Tresterbrand führte er in einer eigens dafür blickdicht dekorierten dunklen Kunststoffflasche auf seinem John Deere mit sich, die er zur Tarnung vor seiner Frau mit der Aufschrift »Getriebeöl« versehen hatte.

Kurt-Otto parkte seinen Fendt dicht an den Ankerdrähten seines Ruländers und schlenderte zu Fuß auf dem Betonweg zurück. Es war nur ein kurzer Gang, den er gerne auf sich nahm, um seinem Ziel unbemerkt näher zu kommen. Leicht gebückt überquerte er gleich darauf mit schnellen Schritten die Landstraße und bewegte sich auf die Rückseite der Sporthalle zu. Eng an die Wand gedrückt, schob er sich Stück für Stück weiter, bis er die breite Treppe hinab zum Sportlereingang erreichte. Dort verharrte er einen Moment, atmete leise durch und schob dann behutsam seinen Kopf nach vorne, um nach rechts um die Ecke zu linsen.

Die Stille um ihn herum war trügerisch, das wusste er. Mindestens ein halbes Dutzend fleißiger Helfer musste in den Hallen und im doppelstöckigen Foyer zugange sein, um alles in den Ursprungszustand zurückzuversetzen. Wenn er richtig informiert war, brauchten sie dazu fast zwei Tage. Da die kleinere der beiden Hallen am Montag wieder für den Sportunterricht der Grundschule zur Verfügung stehen musste, begannen dort, im oberen Stock, die Aufräumarbeiten und dauerten vermutlich noch an, was ihm einen strategischen Vorteil verschaffte. Wenn alles gut lief und sein Plan aufging, würde er ungestört eine schnelle Runde durch den großen Saal im Erdgeschoss drehen können. Lediglich die Annäherung an die Sektbar im unteren Foyer barg Gefahren, weil sie ihn dort sehen konnten. Er hoffte inständig, dass er die peinliche Traubenkappe in dem Bereich fand, der ihm zugänglich war. Wo er sie verloren hatte, wusste er nach dem vielen Schaumwein der gestrigen Nacht nicht mehr mit letzter Sicherheit zu sagen.

Schnell hetzte er die Treppen hinunter und am großen Müllcontainer vorbei zum Hintereingang der Halle. Die Stahltür stand offen. Ein Blick nach rechts bestätigte seine Vermutung, dass er mit seinem Eindringen ein gewisses Risiko auf sich nahm. Fein säuberlich lagen dort bereits die ersten Fundstücke aufgereiht auf einer Bierbank. Elfriede Kappels in stetigem Wachstum befindliche Trophäensammlung der diesjährigen Kampagne, die sie in einer kleinen Ausfahrt am morgigen Sonntag ihren Eigentümern zurückbringen würde. Soweit sich diese ermitteln ließen. Zur Not würde sie jeden, den sie aufsuchte, um Mithilfe bei den Nachforschungen bitten, sodass jeder im Dorf bald über alle verlorenen Kleidungsstücke und Utensilien Bescheid wusste. Da die obere Halle als Garderobe der großen Gruppen diente, verwunderte es ihn nicht, dass bereits mehrere farbige Unterwäscheteile zur Rückgabe bereitlagen.

Kurt-Otto eilte lautlos in die große Halle. Er kontrollierte, ob er wirklich allein war, und lenkte seine Schritte umgehend in Richtung seines Sitzplatzes vom Vorabend. Er spürte den Herzschlag in seiner Brust. Der Hallenboden federte unter seinen Füßen. Es roch nach getrocknetem Alkohol und den süßlichen Ausdünstungen schwitzender Fassenachter. Die Tische schienen von den Bedienungen abgeräumt worden zu sein, doch die fleckigen Papiertischdecken lagen noch auf. Resigniert musste er feststellen, dass weder unter dem Tisch noch auf den Stühlen seine Traubenkappe zu finden war.

Zielstrebig und mit äußerster Vorsicht steuerte er den Ausgang zum unteren Foyer an. Dort hoffte er sie irgendwo in den Ecken oder an der Sektbar zu finden.

Durch die Glastür verschaffte er sich zunächst einen Überblick über das Schlachtfeld. Der große Saal hatte im Vergleich hierzu noch recht zivilisiert ausgesehen. Auf den Fliesen hatten sich Luftschlangen, Konfetti sowie zu kleinsten Splittern zertretene Sekt- und Weingläser mit den flüssigen Resten alkoholischer, zuckriger Erfrischungsgetränke zu einem tragfähigen Bodenbelag verdichtet. Würde der Ordnungstrupp diesen später, um ihn zu entfernen, mit der Trennscheibe in handliche Teile schneiden? Es knirschte unter seinen Zehenspitzen, als er das Foyer betrat. Über ihm war das Klirren von Flaschen zu hören. Ein Staubsauger heulte gedämpft auf. Die Helfer schienen wirklich alle oben in der kleinen Halle zugange zu sein. Gehetzt umrundete Kurt-Otto die Sektbar. Die Palmwedel aus Kunststoff sahen aus, als ob ein tropischer Taifun über sie hinweggegangen sei. Das passte zum Gesamteindruck des Raumes.

Es war kein Hinweis auf seine verschollene Kopfbedeckung zu finden. Nicht einmal eine herrenlose, platt getretene blaue Kunststoffbeere ließ sich ausmachen. Er drehte zur Sicherheit eine zweite Runde um die Sektbar und kontrollierte zusätzlich sämtliche Ecken und Winkel. Ob Elfriede Kappel sie schon sichergestellt hatte? Erschien sie morgen mit der Mütze in der Hand bei ihnen daheim und Renate öffnete die Tür, würde er die leuchtende Kopfbedeckung danach nicht mehr so einfach verschwinden lassen können.

Dann dämmerte ihm, dass es noch eine weitere Möglichkeit gab. Der am Boden festgetretene Unrat hatte ihn auf diese Idee gebracht. Die schmalen Gänge zwischen den Tischreihen nebenan im Saal waren zwar klebrig gewesen, aber weitestgehend frei von Müll. Vielleicht hatte die bedauernswerte Schlussschicht des gestrigen Abends schon notdürftig durchgefegt? Beschäftigungslos, weil die letzten Narren einfach nicht gehen wollten, aber kaum noch Betreuung brauchten? Eilends verließ er die in Trümmern liegende »Narrhalla« und hatte gleich darauf den Müllcontainer erreicht. Der Geruch ließ selbst bei geschlossenem Deckel Ekel in ihm aufsteigen. War er schon bereit dafür? Er schluckte die Erinnerung an den süß sprudelnden Morio-Muskat-Sekt hinunter. Nur ein kurzer Blick, um sicherzugehen, dass die leuchtend grüne Traubenkappe mit den roten Beeren nicht obenauf lag und Elfriede unglücklich ins Auge sprang, wenn sie nachher den ersten Müllsack herunterschleppte.

Kurt-Otto hielt die Luft an und langte nach dem Griff. Er spannte seine Armmuskeln. Sein Kopf schmerzte in Erwartung des Geruchs, der ihm gleich ungebremst entgegenschlagen würde. Donnernd fuhr der schwere Deckel nach hinten. Der Anblick dessen, was er sah, ließ ihn erstarren. Sie lag direkt neben seiner Kappe. Ihre weiße Haut leuchtete fast. Die verdreckte Bluse war aufgerissen, die großen Blüten der Sonnenblumen darauf kaum noch zu erkennen. Aus weit aufgerissenen Augen starrte sie ihn an. Ihre welligen roten Haare verloren sich im Meer aus Unrat, auf dem sie ruhte.

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