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Er hatte ihn mehr als einmal darauf angesprochen. Zwecklos! Zuerst hatte er ihm gar nicht zuhören wollen, beim nächsten Mal hatte er gelacht und sich lustig über ihn gemacht. Das feindselige Blitzen in seinen Augen hätte ihn damals schon stutzig machen sollen, das Bild flimmerte sofort wieder vor ihm auf. Doch seit ihrem dritten Zusammentreffen wusste er, dass er richtig lag. Es war keine bloße Vermutung mehr, kein Verdacht, den die verblasste Erinnerung nährte. Bruchstücke von Gesprächen, die er nicht verstanden hatte. Dahingeworfene Halbsätze und Bemerkungen, die in seinem Gedächtnis erst lange Zeit später wieder aufgeblitzt waren und sich nun mit dem neuen Wissen verbanden, das er, von unbändigem Eifer getrieben, Schicht für Schicht freigelegt hatte. Wie ein rastloser Schatzsucher spürte er einem verborgenen Ziel nach.

Beim dritten Mal war es ganz anders gewesen. Es war Monate her, doch er konnte sich noch genau daran erinnern. Selbst der Geruch dieses brennend heißen Sommertages im August hatte sich ihm eingeprägt. Draußen im Weinberg waren sie beide in der gleichen Sache unterwegs gewesen. Die Arbeiten an den Reben waren längst getan, doch in den Tagen zuvor war die Hitze unerträglich gewesen. Die Temperaturen hatten neue Rekordwerte erreicht, und die Weinbauschule verschickte Warnhinweise, dass vor allem bei den empfindlichen Sorten wie dem Riesling und dem Weißen Burgunder mit spürbaren Schäden durch Sonnenbrand zu rechnen sei: Die massive Sonneneinstrahlung ließ die Schalen der Beeren verbrennen, wie bei der menschlichen Haut bildeten sich Blasen. Die betroffenen Trauben waren nicht zu retten. Sie trockneten ein und fielen ab. Folgten der Hitze ein paar feuchte Tage, stellten die zerstörten Früchte den Nährboden für schnell um sich greifende Fäulnis dar.

Im Unterschied zu den anderen Kollegen hatte er seine wenigen Parzellen bisher nicht entblättert. Er war einfach noch nicht dazu gekommen, weil er alles allein machen musste, während die anderen ihre Rumänen im Einsatz hatten. Seine Trauben hingen dadurch beschattet und waren weniger gefährdet. Manchmal war es eben gar nicht so schlecht, etwas hinterherzuhinken, auch wenn er sich deswegen oft dumme Bemerkungen der lieben Winzerkollegen anhören musste. Aber das war ihm egal. Sollten sie nur reden. Er würde es ihnen schon zeigen. Entscheidend war, was in die Flasche kam. Und da konnten sie ihm nichts mehr vormachen.

Er hatte gar nicht viel gesagt, nur ein paar Worte, doch die Reaktion verschaffte ihm Gewissheit. Ohne Vorankündigung waren die Hände des Alten nach vorne geschnellt und mit voller Wucht gegen seinen Brustkorb geprallt. Für einige Sekunden war ihm die Luft weggeblieben, er hielt sich nur mit Mühe auf den Beinen. Vor seinen Augen wurde es einen Moment lang schwarz. Kleine Sternchen blitzten auf, auch dann noch, als er sein Gegenüber schon wieder erkennen konnte. Das Blut rauschte in seinen Ohren. Der erste Atemzug nach diesem Hieb hatte wie ein tiefes Seufzen geklungen. Daran konnte er sich noch genau erinnern.

Die große schwielige Hand des Alten war drohend in die Höhe gefahren. Dass sie nach der Brust nicht auch noch sein Gesicht getroffen hatte, wunderte ihn bis heute. Erst danach hatte der Alte begonnen, ihn anzuschreien. Seinen rechten Arm hielt er dabei weiter starr gen Himmel gereckt, die Hand zitterte. Sein fast kahler Schädel war rot angelaufen. Die wenigen dünnen und von der Sonne ausgeblichenen Haarsträhnen, die ihm geblieben waren, hoben sich deutlich davon ab und ließen ihn noch älter aussehen. Eine dicke Ader an seinem Hals pulsierte hektisch. Feine Spucketröpfchen begleiteten seine bösen Worte. Er hörte sie nicht, spürte aber, dass die Feuchtigkeit auf seine glühenden Wangen traf. In seiner Erinnerung glich die Szene einem Stummfilm. Die heiseren Vorwürfe verhallten ungehört.

Er fuhr sich mit dem Handrücken über das Gesicht. Es war nur natürlich, dass ihn diese Gedanken jetzt und hier begleiteten. Ein Geräusch ließ ihn im schmalen Graben neben der Landstraße Deckung suchen. Aufmerksam blickte er sich in alle Richtungen um und lauschte konzentriert. War das das Glucksen der Selz? Der schmale Bach floss gar nicht weit entfernt in seinem tiefergelegten Bett. Er war sich nicht sicher. Nun hörte er auch nichts mehr außer seinem eigenen Körper. Den Atem, das Schlagen seines Herzens, das Blut in den dünnen Äderchen seiner Ohren.

Irgendwo in weiter Ferne schrie ein Tier. Was ihn eben noch in die Hocke gedrückt hatte, löste sich langsam. Entschlossenheit gewann die Oberhand. Er reckte sich energisch in die Höhe und ließ im Laufen seinen Rucksack von der Schulter gleiten. Er bewegte sich sicheren Schrittes, den Weg kannte er auch in der Finsternis. Das Tier brüllte wieder. Es klang wie ein röchelndes Aufbäumen mit letzter Kraft.

Noch einmal sah er sich vorsichtig um. Es bestand keine Notwendigkeit dazu. Heute war der Freitag vor Fassenacht: Sämtliche noch ansatzweise mobilen Dorfbewohner saßen dicht gedrängt, berauscht und schwitzend in der prächtig dekorierten Sporthalle unter den mit Luftballons prall gefüllten Netzen. Die Familie des Alten war wie jedes Jahr vollzählig dabei. Alle mussten sie ihm zusehen, wie er den Till gab und seinen Mitbürgern in spitzen Versen den Spiegel ihrer Verfehlungen vorhielt. Seinem Auftritt fieberte das ganze Dorf entgegen. Schon Wochen zuvor wurde ausgiebig darüber spekuliert, wen er sich in diesem Jahr alles vornehmen würde. Die bange Furcht, zum Gespött zu werden, gefolgt von der Enttäuschung hinterher bei all denen, die sich gewünscht hatten, so wichtig zu sein, dass seine spitze Zunge sich mit ihnen auseinandersetzte.

Nur einmal war er selbst dort gewesen. Er konnte das alles nicht ausstehen. Die gute Stimmung auf Befehl, die Enge der dicht gedrängten Leiber, die dröhnende Lautstärke. Und das selbstzufriedene Grinsen des Alten, wenn er nach seinem Auftritt den Jubel des Publikums entgegennahm und sich auch nach der zweiten und dritten Zugabe, zu denen er sich mit stehenden Ovationen drängen ließ, obwohl er doch fest damit gerechnet und entsprechende Verse verfasst hatte, in ihrer Anerkennung suhlte. Allein der Gedanke daran ließ Übelkeit in ihm aufsteigen. Hätte er noch einen einzigen zarten Zweifel an seinem Plan gehegt, so wäre dieser spätestens jetzt zu Staub zerfallen.

Er spuckte aus und riss den Rucksack auf. Das Rauschen der Spraydose durchschnitt die Stille der Nacht. Gleich war es vollbracht. Keine große Sache, die kam erst noch, falls er nicht endlich einsah, dass sie reden mussten. Ob sich das hiermit schon erreichen ließ, wusste er nicht zu sagen. Es ärgerte ihn, dass er das Gesicht des Alten, wenn der im Morgengrauen nach Hause kam und sein Werk entdeckte, nicht würde sehen können. Ob er sofort verstand, was gemeint war? Falls nicht, war es auch egal. Er würde ihm noch den einen oder anderen zusätzlichen Hinweis geben.

Schon hatte er die Dose zurück in den Rucksack gesteckt. Mit der freien Hand öffnete er seine Gürtelschnalle, schob Hose und Unterhose hinab und ging in die Hocke. Sein Blick wanderte hinauf in den Himmel, während er sich erleichterte. Die Sterne leuchteten hier viel kräftiger als oben im Dorf.

Hinter ihm brach ein Zweig, doch er wollte sich nicht umdrehen. Er war so gebannt vom Anblick des Firmaments, dass er die Lichter auf der Landstraße gar nicht bemerkte.

Winzerschuld

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