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Marion war schuld! Georg Winternheimer hieb wütend mit seiner Rechten auf das Lenkrad und trat das Gaspedal durch. Der Motor heulte auf. Er wusste, dass sie seine Sachen durchwühlte. Das tat sie schon lange. Zwar packte sie immer alles fein säuberlich zurück, damit er es nicht mitbekam. Jedoch nie in der richtigen Reihenfolge. Es war also nicht wirklich schwer zu durchschauen. Wahrscheinlich hatte sie in den Taschen seiner neuen Anzugjacke nach den Kondomen gesucht. Vor zwei Jahren hatte sie ihm die schon einmal triumphierend unter die Nase gehalten. Vor Wut schnaubend und verheult zugleich faselte sie etwas von Treue und Enttäuschung, bis er ihr mit der flachen Hand eine verpasst hatte. Sie verstand nicht, was an Fassenacht im Saal und in den Stunden danach abging. Das hatte am nächsten Tag alles keine Bedeutung mehr. Aus und vorbei. Es war einfach nur ein großer Spaß, doch sie machte daraus immer eine Riesensache.

Seinen Zorn würde sie heute Nacht noch zu spüren bekommen. Die Abreibung hatte sie sich verdient. Er schaltete einen Gang hoch und gab wieder Vollgas. Weit war es gottlob nicht.

Wenn er eben nicht noch mal nachgesehen hätte, würde er jetzt dastehen wie der größte Depp aller Zeiten. Seine Verkleidung war eines der bestgehüteten Geheimnisse der gesamten Kampagne. Niemand kannte sie bis zu seinem Auftritt. Er hatte deshalb als einziger Aktiver der großen Sitzung eine Umkleide nur für sich allein. Es war zwar nur die kleine Lehrerumkleide im Eingangsbereich der Sporthalle, aber dafür hatte er dort in den beiden Stunden bis zum Auftritt seine Ruhe. In der Umkleide stand seine Flasche Riesling-Sekt bereit, die er bis zum letzten Tropfen leerte, um sich in Stimmung zu bringen, während er noch einmal vor dem Spiegel seine verschiedenen Posen durchging. Sie waren mindestens genauso wichtig wie die Worte. Den Text brauchte er dazu nicht, er hatte die Szenen alle im Kopf. Erst beim Auspacken seiner Verkleidung hatte er beiläufig nach der Brusttasche des Sakkos getastet und festgestellt, dass sein Text dort nicht mehr zu finden war.

In den Taschen des Anzugs, den er sich im Internet bestellt hatte und zu dem noch eine Hose, eine Weste und ein Schlips im gleichen Dekor gehörten, fand er nur die Kondome, aber nicht den letzten Ausdruck seiner Büttenrede. Die allermeisten Verse hatte er auch so drauf, dennoch brauchte er den Text für die vielen kleinen Veränderungen, die er in den letzten Tagen vor seinem großen Auftritt üblicherweise noch vornahm. Ein anderes Wort hier, eine weitere Zeile dort, um eine kleine zusätzliche Spitze zu setzen, das gelang auf der Bühne nur dann, wenn er den Text zur Sicherheit vor sich liegen hatte.

Dafür, dass er jetzt nach Hause hetzen musste, würde Marion büßen. Er sah zur Uhr. Eigentlich wäre er jetzt schon dran. Er schnaufte genervt, während er den Fuß vom Gas nahm. Das Publikum fieberte seinem Marsch auf die Bühne entgegen. Die absolute Dunkelheit, die dem Auftritt vorausging, unterstrich die gebannte Stille, und aller Augen folgten dem Suchscheinwerfer, dessen kreisrunder Lichtkegel umherirrte, um ihn letztlich zu finden. Danach war das Publikum nicht mehr zu halten.

Seit vielen Jahren schon war sein Auftritt als Till der Höhepunkt des Abends. Die Elsheimer Schnorressänger, die eigentlich nach ihm dran sein sollten, hatten sich zum Glück schon warmgesungen und waren spontan für ihn eingesprungen. Sie waren sogar froh gewesen, weil sie nach ihrem Auftritt hier bei ihnen noch weiter zu einer anderen Sitzung im Nachbardorf mussten, um dort das große Finale mitzubestreiten.

Kurzfristige Programmverschiebungen gehörten zum alltäglichen Geschäft einer jeden Fassenachtssitzung. Da viele gute und bekannte Redner und Gruppierungen an manchen Abenden mehrere Auftritte in verschiedenen Ortschaften hatten, war das nichts Besonderes. Einige der Großmäuler überboten sich gegenseitig in der Anzahl der Sitzungen, die sie an einem Abend mit ihrem Beitrag bereicherten. Nichts als Fassenachter-Latein, wie beim Anglerlatein konnte man getrost die Hälfte davon abziehen und hatte die wahre Größe des aus dem Wasser beförderten Fischs noch immer nicht erreicht.

Ihn brachte es in Rage, dass sein gewohnter Spannungsaufbau jetzt in Trümmern lag. Nach dem letzten Schluck von seinem eigenen Sekt zog er mit geschlossenen Augen ein paarmal an der dicken Zigarre, die er sich extra für die Sitzung kaufte. Sonst rauchte er nicht, nur an diesem einen Tag des Jahres, dann aber immer die gleiche Marke: eine Romeo y Julieta No. 2, wie sie Winston Churchill geraucht hatte. Fünf Minuten dauerte das Zeremoniell für die innere Ruhe. Den Rest der Zigarre genoss er nach seinem Auftritt.

Erst dann zog er sich um. Nachdem er den neuen Anzug fertig ausgepackt und die Hose angezogen hatte, bemerkte er jedoch das Fehlen der Büttenrede und durfte die Hose gleich wieder ausziehen. Der dünne synthetische Stoff spannte an seinen Oberschenkeln. Damit das Sakko an den Schultern und über dem Bauch passte, hatte er bei der Hose einen Kompromiss eingehen müssen. Es waren ja zum Glück keine Kniebeugen auf der Bühne zu vollführen. Ob das Material einer solchen Belastungsprobe gewachsen wäre, bezweifelte er. Dafür war der Aufdruck perfekt. Strahlende Farben. Das gute Stück sah in echt noch besser aus als auf dem Bildschirm seines Computers im Büro. Es machte richtig was her und erweckte dabei den Eindruck, als sei es aus einer riesigen britischen Flagge geschneidert worden.

Das Thema Brexit lag in diesem Jahr auf der Hand. Aber keiner der anderen Redner der Kampagne ging es so an wie er. Auch keiner der ganz Großen der Mainzer Fernsehfassenacht. Die Nachrichten waren lange so voll davon gewesen, dass ihn das Thema selbst schon nervte. Es war zum Schreien, was da abging. Die Briten waren raus, aber immer noch wurde ständig darüber berichtet. Er trauerte ihnen keine Träne nach, wie die sich aufführten und im Nachhinein noch immer Forderungen stellten. Zum Glück besaß er nur eine Handvoll Weinkunden auf der Insel, die sich in den letzten Monaten mit regelrechten Hamsterkäufen zudem gut bevorratet hatten. So viel Wein hatte er noch nie über den Ärmelkanal geschickt.

Der Brexit markierte natürlich nur den Einstieg für seine Büttenrede. Ein treffender Aufhänger für sein diesjähriges Thema, das er in deftigen Reimen zum Besten geben würde. Er hatte bereits das Johlen der vor Begeisterung tobenden Menge in den Ohren, obwohl er noch in seinem Geländewagen saß und wie ein Irrer dem Text nachjagte. Unter dem Kreischen des Publikums würde er den Austritt des Selztals aus der EU und den damit einhergehenden Anschluss an das englische Königreich proklamieren. Der »SEXIT«, wie er diesen Geniestreich nannte, bildete den erzählerischen Hintergrund, vor dem er sie alle aufmarschieren ließ. Jeden aus dem Dorf und der Umgebung, mit seinen kleinen und seinen großen Sünden. Und derer gab es mehr als genug. Er lachte auf.

Einige hassten ihn dafür und kamen daher nicht mehr zur Sitzung. Die anderen liebten und verehrten ihn. Nicht wenige der Frauen im Publikum zeigten ihm das im Laufe der langen Nacht, die sich an die Sitzung anschloss. Carola würde es ihm nur mit einem Augenzwinkern andeuten. Er beabsichtigte, ihr auch in diesem Jahr wieder ein paar Minuten später in die Lehrerumkleide zu folgen. Marion würde zu diesem Zeitpunkt längst daheim sein. Sie ging immer sofort nach dem Finale, weil der Magen, der Kopf, die Füße oder sonst irgendetwas schmerzte. Er war vorbereitet – auf Carola und auf alles andere, was ihn heute Nacht noch erwartete. Nach der halben Stunde im Scheinwerferlicht und den gefeierten Zugaben war sein Körper so mit Adrenalin geflutet, dass er bis in die Morgenstunden Vollgas geben konnte. In seinem Magen pulsierte bereits die Hitze.

Entschlossen trat er auf das Bremspedal und betätigte die Kupplung, um in den zweiten Gang zurückzuschalten. Die Bremswirkung des Motors benötigte er, um vor der Selzbrücke rasant nach links in die parallel zum Fluss verlaufende Allee einzubiegen, die nach ein paar hundert Metern zu seinem Hoftor führte. Auf der kurzen Strecke beschleunigte er nicht mehr, weil er bereits damit beschäftigt war, nach der Fernbedienung für die zweiflügelige schmiedeeiserne Toranlage zu tasten. Genervt drückte er mehrmals auf die kleine rote Taste, doch die Warnleuchte, die signalisierte, dass sich das Tor öffnete, wollte nicht aufflackern. Er donnerte die Fernbedienung kräftig auf das Gummi des Lenkrads und versuchte es dann noch einmal. Na endlich!

Das rote Blinklicht ließ die mächtige Mauer aus grob gehauenen Bruchsteinen, die sich zu beiden Seiten des Tores gut zehn Meter hinzog, für winzige Augenblicke rhythmisch aufleuchten. Die hellen Strahler seines Geländewagens erfassten nach und nach die Auffahrt hinter den sich langsam öffnenden Flügeln.

Jetzt erst fiel sein Blick auf die seitliche Umgrenzung seines Grundstücks. Riesige verwackelte Buchstaben in brauner Farbe zogen sich über die gesamte Breite der rechten Mauer: »SCHULD UND SÜHNE«.

Winternheimer riss die Handbremse in die Höhe, schleuderte die Tür auf und sprang aus dem Wagen. Die rote Warnlampe erlosch im selben Moment. Er spürte, wie der weiche Boden unter seinem rechten Fuß nachgab. Der üble Geruch, der gleichzeitig in seine Nase stieg, bestätigte seine Befürchtung. Ungläubig hetzte sein Blick zwischen dem großen Haufen unter seinem glänzenden schwarzen Lackschuh und den riesigen Lettern hin und her. Dann hieb er so fest mit der rechten Hand auf die Motorhaube, dass ihm der Schmerz bis in die Schulter fuhr. Diesen Abend würde Marion niemals vergessen!

Winzerschuld

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