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18. März 1944

Das Schreien holte ihn aus dem Schlaf. Als zartes Wimmern hatte es begonnen, kaum wahrnehmbar zuerst. Unterbewusst hatte er es in seinen Traum eingeflochten und der alten Wilhelmine Eifinger auf die Lippen gelegt. Wieder lag er dicht neben ihr im Graben im Hähnerklauer, tief in die kleine Senke zwischen den Weinbergen gepresst. Reglos hatten sie ausgeharrt, bis der dröhnende Jäger im Tiefflug über sie hinweggesaust war. Die Motoren ließen den Boden unter ihnen vibrieren.

Der Traum hatte ihn alles noch einmal erleben lassen, das Wimmern der Eifinger, ihren strengen Geruch nach Kohl, Zwiebeln und Rauch, den er auch jetzt noch in der Nase hatte, obwohl das Erlebnis schon Wochen zurücklag. Es war ihnen nichts passiert. Er hatte die unbeholfene Alte später aus dem Graben gezogen und sie noch einen Moment gestützt, weil ihr schwindlig gewesen war. Dabei verharrte sein Blick auf ihrer eingefallenen und zitternden Oberlippe und dem dünnen Flaum, der sie zierte.

Das Knattern des Bordmaschinengewehrs war noch deutlich zu hören. Es schien woanders seiner todbringenden Beschäftigung nachzugehen. In Ober-Olm oder Klein-Winternheim vielleicht. Er hatte tief durchgeatmet und sie dann gefragt, ob sie allein nach Hause käme.

»Du hast es schwer genug.« Er hatte das Mitleid in ihrem Blick deutlich erkennen können. Schnell war sie gleich darauf davongeeilt.

Er war geblieben und hatte sich umgehend darangemacht, seinen letzten Silvaner zu schneiden, damit die Frauen morgen das Rebholz einsammeln und es in fest verschnürten Bündeln am Ende des Weinbergs aufhäufen konnten. Er würde dann mit Ivan, ihrem russischen Kriegsgefangenen, und dem Pferdefuhrwerk die einzelnen Haufen anfahren und die Rebbündel aufladen. Egal, was das Kriegsjahr 1944 brachte, es war dringend notwendig, sich auf den nächsten Winter vorzubereiten. Das Durcheinander nahm zu, die Angst und die Unsicherheit auch. Selbst die, die zu feige oder zu verbohrt waren, um ihr Ohr am Sender zu haben, beschlich das Gefühl, dass die Entscheidung unablässig näher rückte. Und draußen im Weinberg oder auf dem Feld merkte man es sowieso. Die Engländer flogen nicht mehr nur nachts, und die Besatzungen ihrer die Bomber zum Schutz begleitenden Jagdflugzeuge hatten so wenig zu tun, dass sie sich die Zeit häufig damit vertrieben, auf alles und jeden anzulegen, den sie ins Visier bekamen. Dem Weisrock in Nieder-Olm hatten sie vor zwei Wochen den Ochsen vor dem Karren niedergemacht. Er selbst konnte sich trotz seines fehlenden linken Arms gerade noch rechtzeitig in Sicherheit bringen. Viel hatte nicht gefehlt, und er wäre mit zerfetzt worden.

Das Schreien wollte und wollte nicht enden. Seine Frau neben ihm regte sich nicht. An ihrem Atemgeräusch meinte er, erkennen zu können, dass sie wach war. Wie sollte sie es auch nicht sein? Gegen das Geräusch kam selbst der tiefste Schlaf nicht an. Die Wand war nur dünn. Wenn man auf die farbige Bemalung klopfte, konnte man hören, dass sie zudem hohl war. Dies war einmal ein größerer Raum gewesen, ehe man das dunkle Zimmer ohne Fenster, das man auf dem Weg zur Räucherkammer durchqueren musste, abgetrennt hatte. Der Rauchgeruch hing dort in jeder Ritze und jedem Stück Stoff fest. Noch das leiseste Geräusch von der anderen Seite fand gut hörbar zu ihnen.

Wilhelm Schultheis hustete und schluckte. Seine Frau würde ganz bestimmt nicht aufstehen, um nachzusehen. Warum bloß nahm seine Schwester das Kind nicht endlich aus der Wiege und gab ihm die Brust, damit wieder Ruhe einkehrte? Der fahle Lichtschein, der durch die Vorhänge drang, deutete schon an, dass von der Nacht sowieso nicht mehr viel übrig war. Bald schon würde sich Frieda unruhig neben ihm von einer Seite auf die andere wälzen, weil sie wusste, dass die Zeit zum Aufstehen nahte. Seine Frau brauchte keinen Wecker. Ihre innere Uhr reichte aus. Versagte sie doch einmal, würde sie spätestens das Brüllen der ungeduldigen Kühe, die gemolken werden wollten, aus dem Schlaf reißen.

Vorsichtig tastete er nach ihr, nach der Wärme ihres Körpers. Der feine Stoff ihres Nachthemds mit der aufgesetzten Spitze, das zu ihrer Aussteuer gehörte und das sie ihm in ihrer Hochzeitsnacht zum ersten Mal vorgeführt hatte. So viel war passiert seither, obwohl doch nur sechs Jahre vergangen waren. Er seufzte und bereute sogleich, dass er es laut getan hatte.

Ihre Hochzeit war das letzte Fest im Dorf vor dem Einmarsch in Polen gewesen. Der 12. August 1939. Wie die meisten Burschen aus dem Dorf war er gleich darauf eingezogen worden. Ein kurzer Einsatz nur, den der fingernagelgroße Splitter einer Granate vor Warschau beendete. Sie hatten sein linkes Bein mit Mühe retten können, dafür war es jetzt steif. Seither musste er sich die zuerst hämischen und dann mit dem nachlassenden Kriegsglück neidischen Bemerkungen seiner Altersgenossen auf Heimaturlaub gefallen lassen: »Die Alten, die Frauen, die Verrückten und der Wilhelm erringen den Endsieg an der Heimatfront.« Im Unterschied zu denen, die heil nach Hause kamen, wenn der Krieg vorbei war, würde er bis an sein Lebensende ein humpelnder Bauer bleiben.

Die getuschelten Berichte der wenigen, die zuletzt überhaupt noch für ein paar Tage heimdurften, offenbarten, dass er froh sein konnte, nicht mehr im Feld zu stehen. Dabei vergaßen alle, dass es auch hier kein Zuckerschlecken war. Wer wusste denn, was ihnen noch bevorstand? Sie lebten in der ständigen Angst vor den Bombern und den anscheinend unaufhaltsam näher kommenden Amerikanern und Russen, die sie kaum verschonen würden, berücksichtigte man, wie sie sich selbst beim Vormarsch aufgeführt hatten. Er hatte es nur kurz in Polen erlebt. Von seinem Freund Erwin wusste er aber, dass das, was weiter im Osten alles passiert war, ausreichte, um die Rache des Russen zu fürchten.

Seine Fingerspitzen suchten eine Lücke in ihrem Nachthemd am Halsansatz, fanden sie und drängten weiter. Der Säugling schrie noch immer.

»Sag der Irren, dass sie sich um ihr Kind kümmern soll. Man kriegt ja kein Auge zu.« Sie stieß seine Hand weg und drehte sich zur Seite. »So geht das nicht weiter. Meine Mutter hat mich gewarnt. Ich habe es nicht glauben wollen, aber sie hat recht behalten. Es ist alles noch viel schlimmer geworden, seit das Kind da ist. Die Verrückte bringt auch mich bald um den Verstand.«

Er konnte sie schluchzen hören, obwohl er wusste, dass das nur gespielt war. Sie weinte nie, wenn es um seine Schwester ging. Eleonore trieb ihr den Zorn ins Gesicht, nicht die Tränen. Er wusste, dass sie Abscheu empfand. Frieda war es am liebsten, wenn Eleonore aus dem Haus war oder in ihrem dunklen Zimmer saß. Den Ekel in ihrem Gesicht, wenn Eleonore näher an sie herankam, verbarg sie schon lange nicht mehr. Seine Schwester spürte das und ging ihr aus dem Weg, auch dann, wenn sie ganz ruhig war. Wenn sie nichts umtrieb und sie so leise in ihrem Winkel der Eckbank saß, dass keiner annehmen würde, irgendetwas wäre mit ihr nicht in Ordnung. Und eigentlich war dann ja auch alles in Ordnung mit ihr.

Heiser schrie das Kind unentwegt weiter. Wilhelm schob sein steifes linkes Bein aus dem Bett und setzte sich mühsam auf. Einen Moment lang verharrte er, weil sein Kreislauf Zeit brauchte, um in die Gänge zu kommen. Dann drückte er sich nach oben und setzte sich in Bewegung. Knarrend zog er die Tür zum nachtkalten Flur auf und schob gleich darauf den dicken Vorhang beiseite, der ihren Raum begrenzte. Für einen winzigen Augenblick hörte das Schreien auf, um sogleich von Neuem aufzubranden. Mit wenigen Schritten hatte er ihr Bett erreicht.

»Elli!« Es klang wie ein Befehl. Er tastete nach der Bettdecke und zog sie weg. Keine Reaktion. Die Schreie aus der Wiege, die direkt neben dem Bett stand, gingen in ein stilles Wimmern über. Seine Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit, die hier drinnen herrschte. Ihr Bett war leer.

Es fing also wieder an. Er rieb sich die brennenden Augen. Sie irrte draußen umher. Im Nachthemd, irgendwo auf der Straße. Beim letzten Mal hatte er sie auf der großen Freitreppe, die zur Kirche hinaufführte, gefunden. Vollkommen durchgefroren hatte sie den Mond und die Sterne beobachten wollen. »Dort oben sitzt er, mein Willy, und schaut herunter auf mich. Ich muss ihm doch zeigen, dass ich ihn nicht vergessen habe. Wie soll er mich im dunklen Zimmer unter der Bettdecke sonst sehen?«

Sie hatte schon in ihrer Kindheit Stimmen gehört und mit Freunden gespielt, die nur in ihrem Kopf existierten. Sie halfen ihr darüber hinweg, dass sonst keiner etwas mit ihr zu tun haben wollte. Als älterer Bruder hatte er sie oft verteidigen müssen, wenn die Mitschüler ihr auflauerten.

»Unsere Elli ist still, unsere Elli ist leise. Sie erzählt keinem mehr etwas von ihren Freunden.« Die Worte seiner Mutter, gebetsmühlenartig von ihr wiederholt. Eleonore hatte dazu genickt und das Schweigen entdeckt. Sie flüsterte das Mantra leise vor sich hin. Manchmal wippte ihr Oberkörper im Rhythmus mit. »Unsere Elli ist still, unsere Elli ist leise.« Wenn man es wusste, konnte man die Worte heraushören. Eigentlich war es mehr die Melodie, die er wiedererkannte. In den langen Phasen der Ruhe konnte man ihr nicht ansehen, dass irgendetwas nicht stimmte. Sie war dann ein ganz normales Mädchen und später eine ganz normale junge Frau, die still und in sich gekehrt schien. Im Weinberg bei der Traubenlese konnte sie sogar mitsingen, wenn die Sonne durch die Wolken brach und Volkslieder angestimmt wurden. An eine Heirat war unter diesen Umständen nicht zu denken, obwohl seine Schwester mit ihren langen blonden Haaren schön anzusehen war.

Die Erzählungen von Willy hatten sie erst richtig deuten können, als es schon zu spät gewesen war. Sie schien ihm ein paarmal bei ihren ziellosen Wanderungen durch Felder und Weinberge begegnet zu sein. Wilfried Lemp lebte noch nicht lange im Nachbardorf Elsheim. Er war ein Sonderling, von dem erzählt wurde, dass er sogar ein paar Jahre im Gefängnis gesessen habe. Im Sommer 1943 war er abgeholt worden, weil man auch noch den letzten Mann für die Wehrmacht brauchte. Bald danach verbreitete sich das Gerücht, dass er es nicht einmal mehr bis an die Front geschafft habe, sondern nach seiner Flucht aus der Kaserne standrechtlich als Deserteur erschossen worden sei. Dass Eleonore von ihm schwanger war, hatte man da noch nicht wirklich sehen können.

Es war ihnen gelungen, sie von dem Zeitpunkt an, da es nicht mehr zu verheimlichen gewesen wäre, im Haus zu halten. Die Veränderungen, die in und an ihrem Körper vonstattengingen, nahmen ihr die sonst quälende Rastlosigkeit. Es fiel ihr nicht schwer, still in ihrer Ecke zu sitzen.

Vorsichtig hob er das wimmernde kleine Bündel aus der Wiege. Es strahlte wohltuende Wärme aus. Kaum hörbar schmatzte der Kleine, weil er sich auf die Brust und die warme Milch vorbereitete.

Frieda hatte recht. Eleonore musste weg. Raus aus dem Haus. Das war nicht mehr zu schaffen. Der Junge blieb hier. Er konnte doch nichts dafür, dass seine Mutter nie richtig für ihn würde sorgen können.

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