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»Renate, ich bin hundemüde. Lass uns doch bitte endlich nach Hause gehen.« Kurt-Otto Hattemer gähnte demonstrativ mit weit aufgerissenem Mund und kniff die Augen zusammen. Dem Tonfall seiner Stimme hatte er eine zarte Leidenskomponente beigemischt. Ob es an der Lautstärke lag oder ob seine Frau ihn schlicht ignorierte, wusste er nicht, doch auf ihre Antwort wartete er vergeblich. Schon war sie wieder in das Meer der hüpfenden Leiber eingetaucht und aus seinem Sichtfeld entschwunden.

Vor einer gefühlten Ewigkeit hatte er den Wunsch, endlich ins Bett zu kommen, zum ersten Mal geäußert. Renate hatte ihn daraufhin entgeistert angesehen. Von den vielen Argumenten, die sie vorbrachte, die er aufgrund der lauten Tanzmusik aber nur zum Teil hatte verstehen können, war ihm nur noch der aus Winternheimers Vortrag stammende Schlusssatz im Gedächtnis geblieben. Renate hatte ihn mehrmals eindringlich wiederholt, damit er ihn nicht nur rein akustisch verarbeiten konnte: »Daheim sterbe die Leut!«

Er traute sich nicht, auf seine Armbanduhr zu schauen. Es war bestimmt schon weit nach Mitternacht. Warum bloß mussten Fassenachtssitzungen solch epische Längen annehmen? Hatte ihr alter Lehrer an der Weinbauschule nicht immer gepredigt, was man in fünf Minuten nicht gesagt habe, solle man besser für sich behalten? Zwei oder drei Stunden waren ja noch im Rahmen, aber ein fünf Stunden andauerndes musikalisch-humoristisches Unterhaltungsprogramm, das von Zugabe-Forderungen des kritiklos berauschten Publikums auch noch künstlich in die Länge gezogen wurde, das war einfach zu viel. Vor allem, wenn seine liebe Renate hinterher noch tänzerische Höchstleistungen von ihm erwartete.

Seine Frau konnte in dieser Hinsicht sehr beharrlich sein. Zweimal hatte er sich mitziehen lassen, um sie in engen Drehungen übers Parkett zu schieben und sich dabei von einer kreischenden Dame hinter dem Mikro erklären zu lassen, dass er wie der Name an der Tür zu ihr gehöre. Danach hatte er sich in eine wenig frequentierte Ecke des Foyers verkrümelt und hoffte seither, dass seine Frau endlich ein Einsehen haben würde. Die Musik war nicht sein Problem. Das hatte er Renate versucht zu erklären. Die Enge auf der Tanzfläche war ihm unangenehm – und die Blicke der anderen.

Renate hatte sich gestalterisch mal wieder selbst übertroffen und ihm keine Chance gelassen, sich zu widersetzen. Sie hatte genervt die Augen verdreht, als er im Winzerkittel und mit einem grünen Tuch um den Hals, das stilisierte Traubenmotive zeigte und das er mit einem dekorativen Knoten versehen hatte, vor dem großen Spiegel im Badezimmer aufgetaucht war. Sie war gerade dabei gewesen, den stechenden Farbton ihrer Verkleidung auf den Augenlidern abzubilden. Renate steckte in engen grellgrünen, glänzenden Leggins. Dazu trug sie ein farblich identisches figurbetontes Oberteil. Es fehlten lediglich noch die gestrickten Stulpen und ein Schweißband im Haar, um das Kostüm zu komplettieren. Dachte er jedenfalls. Dann hatte seine Frau ihn daran erinnert, dass sie beide sich doch bei der letztjährigen Fassenachtssitzung zu fortgeschrittener Stunde fest vorgenommen hätten, in diesem Jahr in einem Partnerkostüm am Wettbewerb um die schönste Verkleidung des Abends teilzunehmen.

Das monotone Geräusch der Luftpumpe hatte ihn den gesamten Nachmittag über begleitet. Renate werkelte damit im Wohnzimmer, während er sich im Büro im oberen Stockwerk abmühte, einen Überblick über seine Flaschenweinbestände zu bekommen. Sein Steuerberater hatte die Zahlen eingefordert. Der Jahresabschluss stand an.

Ab und an war das rhythmische Pumpen vom Platzen eines der Luftballons unterbrochen worden. Zu diesem Zeitpunkt hatte er noch keinen blassen Schimmer gehabt, worin der tiefere Sinn dieser Beschäftigung bestand. Jetzt, da seine eigene Kostümidee abgelehnt worden war, schwante ihm Böses.

Mit ihrer Es-ist-unwiderruflich-Stimmlage und dem für sie typischen begleitenden Augenaufschlag hatte Renate ihm verklickert, dass er keine wirkliche Wahl habe. Seine vorausschauende Gattin hatte sie bereits vor Wochen bei der ersten Vorsitzenden des Landfrauenvereins als Ariadne und Bacchus für die Kür der besten Paarkostüme angemeldet. »Wenn du mich dabei hängen lässt, meine liebe Reblaus, dann hast du ein ernsthaftes Problem. Die Fastenzeit geht von Aschermittwoch bis Gründonnerstag, und ich werde dafür sorgen, dass sie eine ganz besondere wird.«

Weiterer Argumente hatte es nicht bedurft. Was würde ihn härter treffen, Renates Zorn oder der Spott des halben Dorfes? Der Umstand, dass die Fastenzeit vierzig Tage dauerte, sprach eindeutig für Ersteres. Bis Ostern wäre er verhungert, während die Dorfbewohner längst ein anderes Thema gefunden hätten, um sich die Schandmäuler zu zerreißen. Ein leidender Gesichtsausdruck begleitete die ungelenken Bewegungen, mit denen er sich aus seiner Verkleidung als Winzer schälte. So weit war er damit vom Bacchus doch gar nicht entfernt. Renate pinselte weiter konzentriert Farbe auf ihre Augen, mit einer knappen Handbewegung wies sie ihm die Richtung. »Und vergiss die Unterwäsche nicht, sonst verwechseln sie dich noch mit Aphrodite.«

Das Kostüm hatte auf der Tagesdecke ihres Doppelbettes gelegen. »Neunundneunzig Luftballons«, das Lied, das die kreischende Dame auf der kleinen Bühne in diesem Moment anstimmte, hätte treffender nicht gewählt sein können. Kurt-Otto drückte sich noch etwas tiefer in die Ecke des Foyers, die er nach den beiden Pflichttänzen mit Renate als seine Rückzugsstellung auserkoren hatte und die er bis zum endgültigen Verlassen der Lokalität garantiert nicht mehr räumen würde. Ein Kirschlorbeer, der die Hälfte seiner Blätter bereits verloren hatte, bot ihm zusätzlichen Schutz. Hoffentlich war das alles bald vorüber, und er durfte endlich nach Hause.

Im ersten Moment hatte er, nur mit Unterhose und Unterhemd bekleidet, im Schlafzimmer nach dem langen weißen Umhang, der Schärpe und der aus farbigem Plastik-Reblaub und Kunststofftrauben geflochtenen Krone Ausschau gehalten. Der Haufen Luftballons auf dem Bett konnte ja nur zu Renates Verkleidung gehören. Er suchte die Utensilien für seine Bacchus-Verkleidung jedoch vergeblich. Stattdessen stellte er fest, dass es zwei separate Luftballonberge gab, die sich farblich voneinander unterschieden. Renate beabsichtigte demnach, ihre Ariadne als grüne Traube darzustellen.

Kurt-Otto hatte schlucken müssen, als er die glänzenden roten Leggins und das dazu passende Top erblickte. Beides in seiner Größe, was keine andere Deutung zuließ, als dass sie für ihn bestimmt waren.

Er hatte sich an die Brust gefasst, während er Renate durch die geöffnete Tür vor dem Spiegel im Badezimmer summen hörte. Etwas zog sich darin zusammen. Das Herz? Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn. Die Fastenzeit erschien ihm auf einmal gar nicht mehr so bedrohlich. Hatte Renate in der Schule bei der Behandlung der griechischen Götter gefehlt? Als liebliche Traube mit fünfzig Luftballonbeeren behängt hätte sie durchaus Bacchus’ Gefährtin darstellen können. Er hingegen würde aussehen wie ein Dornfelder nach drei Tagen Dauerregen. Obwohl sein mächtiger Körper in Leggins und figurbetontem Stretchtop kaum als dünnes Stielgerüst einer Weintraube durchgehen konnte.

Die dumpfen Bässe der Musik holten ihn aus seinen Gedanken. Er sah in diesem Moment prüfend an sich herab. Die rot-blauen Luftballons hingen zwar noch immer prall an seinem Synthetik-Outfit. Sie wiesen aber im Kunstlicht der Sporthalle eine sonderbar gräuliche Patina auf, die den Eindruck vermittelte, Bacchus sei an Mehltau erkrankt. Zweien seiner lieben Winzerkollegen war das vorhin in der Pause auch schon aufgefallen. Eugen Werum hatte sich nicht eingekriegt vor Lachen und dabei sogar einen Gutteil seines roten Colaschoppens verschüttet. Hans Menges hatte ihm fortlaufend auf die Schulter geklopft und ihm sein Beileid ins Ohr gelallt. Seither rief der liebe Kollege jedes Mal, wenn Kurt-Otto in seine Nähe kam, lauthals entweder nach Oidium und Peronospora oder Falschem Mehltau und Äscherich.

Kurt-Otto überlegte, sich im Schutze des Kirschlorbeers gegen die Wand zu drücken, in der Hoffnung, dass das die Luftballons an seinem Hintern zum Platzen bringen würde. Die Musik war so laut, dass es keiner hören würde. Nach fünf Stunden Sitzung konnte dort hinten ohnehin kaum noch ein Luftpolster wirklich intakt sein.

Was, wenn Renate aus der tanzenden Menge gar nicht mehr herauskam? Er hatte Durst. Und sie überließ ihn hier einfach seinem Schicksal. Um selbstständig Abhilfe zu schaffen, müsste er am Rand und an der Wand entlang den Großteil der wogenden Menge umrunden, um dann über die breite Treppe nach unten zur Sektbar zu gelangen. Dorthin und wieder herauf strömten jedoch ständig Menschentrauben. Jeder hier kannte ihn und würde ihm einen freudig amüsierten Kommentar mit auf den Weg geben. Als Trollinger hatten sie ihn wegen der großen Beeren schon mehrfach tituliert. Domina hatte ihn aber zum Glück noch keiner genannt. Trotzdem waren, spätestens seit der Winternheimer ihn sich vorgenommen hatte, alle Anwesenden im Bilde, wie er sich hatte zurechtmachen müssen.

Oh nein, das fehlte jetzt gerade noch. Eugen Werum steuerte schon wieder auf ihn zu, bog dann aber glücklicherweise in die Menge ab. Kurt-Otto wusste, was den armen Kollegen umtrieb. Sein suchender Blick verriet, dass er nach seiner Frau Carola Ausschau hielt. Es war ein Trauerspiel, wie in jedem Jahr.

Kurt-Otto wischte sich den Schweiß von der Stirn. Unter seiner roten Wollmütze juckte es barbarisch. Er behielt sie dennoch und trotz der hohen Temperaturen in dem stickigen, niedrigen Raum eisern auf. Sie passte farblich und gestalterisch zu seiner restlichen Verkleidung. Renate hatte sie mit leuchtenden Augen als das Tüpfelchen auf dem i bezeichnet. Dem konnte er getrost zustimmen. Mit geübten Stichen hatte sie zwei ausladende Kunststofftrauben an der wollenen Winterkappe festgenäht. Der untere Teil der einen Traube hing ihm seit der großen Polonaise, die ihn außerdem ein paar Luftballons an der Seite gekostet hatte, über die Nase und versperrte ihm die Sicht. Gleichzeitig wähnte er sich hinter den Plastikbeeren etwas besser getarnt.

Am hinteren Ende des Raumes konnte er Eugen für einen kurzen Moment erneut im Gewühl ausmachen. Er schien seine Frau nicht gefunden zu haben, obwohl doch jeder Zweite im Saal wusste, wo sie höchstwahrscheinlich anzutreffen war. Nach jeder Sitzung warf sich Carola dem Till an den Hals. Sie war nicht die Einzige, aber meistens die Erste, die sich an ihn hängte, wenn er nach dem Finale von der Bühne stolzierte. Es wurde viel darüber gemunkelt, und der arme Eugen lief nach Aschermittwoch tagelang wie Falschgeld umher. Dann kehrte Ruhe ein, bis es im nächsten Jahr zur Fassenacht wieder genauso ablief. Es gab Traditionen, die musste man nicht verstehen, zumal das alljährliche Techtelmechtel in der anschließenden Diskussion von den Dorfbewohnern reichlich aufgebauscht wurde. Wahrscheinlich stimmte nicht einmal die Hälfte davon.

Vor zwei Jahren hatte die Chaussee-Helga mit weiteren pikanten Details aufwarten können. Sie wollte im Vorbeigehen an Winternheimers Garderobe gesehen haben, wie nicht Carola Werum, sondern Lydia Menges darin verschwunden war. Den Schlüssel im Schloss der Tür habe sie noch hören, das Gesehene aber kaum glauben können. Weitererzählt hatte sie es natürlich trotzdem und sich dadurch bestätigt gefühlt, dass Lydia Menges etliche Wochen lang nicht im Dorf zu sehen gewesen war. Manche behaupteten, ihr Mann habe sie grün und blau geschlagen, und sie traue sich nicht vor die Tür. Andere sprachen davon, dass er sie rausgeschmissen habe. Egal, welche Variante stimmte, nach Ostern war sie gesund und munter wiederaufgetaucht, als ob nichts geschehen wäre. Zur Sitzung hatte sie im darauffolgenden Jahr aber nicht mehr mitgedurft. Auch heute hatte Kurt-Otto sie nicht gesehen. Menges war mit seiner zur Loreley des Selztals herausgeputzten Tochter Johanna da gewesen.

Nicht wenige der Jungs um die zwanzig aus dem Dorf hatten Menges’ Tochter vorhin auf der Tanzfläche umringt. Johanna, die seit Oktober die Geisenheimer Weinbauhochschule besuchte, vereinte auf nahezu perfekte Weise Schönheit und reichen Weinbergsbesitz. Ihr Vater würde heute Nacht alle Hände voll zu tun haben, um sie sicher wieder nach Hause zu bekommen.

Nanu, war das da vorne nicht der Till? Kurt-Otto rieb sich ungläubig die juckende Stirn unter der Wintermütze mit Traubenbesatz und schob sich gleichzeitig ein Stück aus seiner sicheren Deckung hervor, um besser sehen zu können. Am Rand der gut gefüllten Tanzfläche waren sie eben aufeinandergetroffen. Der Bass der Boxen hämmerte dazu. Zischend schoss ein Strahl Kunstnebel vom Saum der Bühne in die Menge und breitete sich wabernd aus. Im schwachen Dunst, der sich darüber ausdehnte, konnte er gerade noch erkennen, wie Winternheimers Faust mit voller Wucht in Eugen Werums Gesicht traf. Alles ging so schnell und scheinbar ohne Vorankündigung vonstatten, dass der Betroffene es nicht einmal schaffte, die Hände schützend in die Höhe zu bringen. Werums Beine knickten ein. Sein Oberkörper sank in den dichten Nebel hinab. Gleich darauf war auch der Rest von ihm verschwunden.

Kurt-Otto stürzte nach vorne, auf die Nebelwand zu. Nicht dass der Till ihm im Rausch noch mehr Schläge verpasste oder die Menge über ihn hinwegtrampelte. Entschlossen schob er die Tänzer, die er im dichten Dunst mehr ertasten als sehen konnte, zur Seite. Einige widersetzten sich seinen Bemühungen und stießen ihn weg. Er ließ sich davon nicht beirren. Luftballons platzten.

Eugen lag am Boden. Um ihn herum stampften die Füße. Niemand schien ihn zu bemerken. Kurt-Otto stieß die letzten Hindernisse aus dem Weg und ließ sich neben seinen Kollegen sinken. Aus einem klaffenden Riss über dessen rechtem Auge quoll Blut. Ein dünner, feiner Strom, der sich den Weg über seine Wange bis hinunter zum Ohr gebahnt hatte. Eugens linkes Augenlid zuckte hektisch.

»Eugen! Aufwachen.« Kurt-Otto schlug ihm mehrmals kräftig mit der flachen Hand auf die Wange und brüllte ihn weiter an, im Versuch, die Musik zu übertönen. Der Nebel lichtete sich. Die um sie herum wild Tanzenden hielten nach und nach in ihren Bewegungen inne und rückten erschrocken ab von dem, was sich da zu ihren Füßen abspielte.

Eugen hustete und spuckte blutig aus. Die Musik erstarb. Durch die plötzliche Stille fuhr ein spitzer Schrei.

»Kurt-Otto, bist du verrückt geworden? Lass ihn doch los!«

Winzerschuld

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