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Freitag, 22. Mai 2009 – Vitt, Insel Rügen

Hört das Getöse an den Klippen

Wie ein nahend Donnergrollen

Seht der Wellen weiße Gischt

Auf den Felsenstrand zurollen

Ein Stein wird überspült vom Wasser

Wie eine Jungfrau so schön und bar

Durch Salz und Wasser er geformt

In mehr als einer Millionen Jahr

Er hatte einmal Ecken, Kanten

Wie jeder Mensch sie haben sollt

Doch gibt es Wellen in jedem Leben

Von ihnen mancher wird überrollt

Frank Cobbler saß vor dem Monitor und konnte nicht begreifen, was er dort sah. Einen Fernseher besaß er nicht. Der würde ihn vom Schreiben abhalten. Trotzdem verfolgte er täglich die Nachrichten, entweder in der Zeitung oder im Internet.

Vor zwei Tagen wurde eine Leiche in Frankfurt gefunden. Das war immer noch das beherrschende Thema. Die Polizei tappte im Dunkeln und ließ nur bruchstückweise ein paar Details an die Öffentlichkeit. Journalisten fanden heraus, dass der Täter dem Opfer eine Art Penisbruch zugeführt haben soll. Aber das hat die Polizei bis jetzt nicht bestätigt. Nur soviel, der Mann war schon über eine Woche tot und es gab die ersten Anzeichen von Verwesung. Laut Polizeiangaben hat man bisher zwei Dinge gefunden. Zum einen ein paar Kunsthaare, die zu einer Perücke gehören könnten, die der Täter vermutlich trug. Sie wurden auf dem Boden vor der Leiche entdeckt.

Und heute ist die Polizei mit der zweiten Fundsache an die Öffentlichkeit gegangen. Auf dem Fernseher des Opfers hatte ein Zettel mit sich reimenden Zeilen gelegen. Man wusste nicht, ob der Zettel dem Toten gehörte oder ob der Täter ihn dort hinterlegte. Die Bevölkerung wurde um Mithilfe gebeten. Wer diese Zeilen kannte oder etwas über deren Herkunft wusste, sollte sich melden.

Und diese Zeilen starrte Frank Cobbler nun schon eine geschlagene Viertelstunde an. Er las sie wieder und wieder. Nichts schien verändert. Genauso musste die erste Strophe des Gedichts lauten, ein Gedicht, das ihm mit etwa zehn Jahren eingefallen war. Es war sein erster Versuch, ein längeres Gedicht zu schreiben.

Schon seitdem er fünf war, reimte er. Ihm fiel auf alles etwas ein. Und seine Großmutter, bei der er aufwuchs, hatte all seine Reime aufgeschrieben. Er wusste nicht, ob sie damals schon sein schriftstellerisches Potential erkannte oder ob sie die Sprüche als Erinnerung für später aufbewahrte.

Als er dann schreiben konnte, notierte er seine Reime, kleinen Gedichte und hin und wieder auch eine kurze Geschichte selbst. Schreiben machte ihm Spaß. Er konnte sich noch an den Tag erinnern, als ihm dieses Gedicht einfiel. Er war wütend auf seine Großmutter gewesen. Sie hatte ihm Stubenarrest verordnet, weil er mehrere Male nicht pünktlich nach Haus gekommen war.

Er stand auf und ging zum Schrank, in dem er all seine Entwürfe aufbewahrte, jedenfalls alle die, die vor dem Computerzeitalter entstanden sind. Niemals schmiss er etwas weg, auch wenn er es noch so schlecht fand. Er könnte es ja irgendwann mal verbessern.

Nun wollte er Gewissheit haben.

Er holte einen Riesenstapel loser Blätter hervor und legte ihn verkehrt herum auf den Tisch. So konnte er von unten mit der Suche beginnen. Ein Blatt nach dem andern schaute er sich an. Bei manchen blieb er eine Weile hängen, bei einigen schmunzelte er über den Quatsch, den er damals verfasst hatte und an andere konnte er sich gar nicht mehr erinnern.

Und dann lag es vor ihm. ‚Das Meer und der Mensch’. Ja, so hatte er es damals genannt. Er ging zum Computer und verglich die erste Strophe mit den Zeilen, die in der Wohnung des Toten gefunden wurden. Alles stimmte. Kein einziges Wort war verändert worden. Wie kam diese Strophe in die Wohnung eines toten Arztes in Frankfurt? Das Gedicht wurde nie veröffentlicht. Er war sich nicht einmal sicher, ob er es damals irgendjemandem gezeigt hatte. Höchstens Silke, dem Schwarm seiner Kindheit. Nein, wohl eher nicht. Er hätte bestimmt Angst gehabt, sich vor ihr zu blamieren.

Ratlos schaute er auf den Monitor. Was sollte er tun? Sollte er sich melden? Dann würde man ihn verdächtigen. Er hatte das Gedicht geschrieben und es war nie in der Öffentlichkeit vorgestellt worden. Eigentlich konnte keiner außer ihm das Gedicht kennen. Und doch war es so. Das Gedicht musste natürlich gar nichts mit dem Mord zu tun haben. Aber wie gelangte eine Strophe davon in die Wohnung eines Frankfurter Arztes?

Er entschied sich, erst einmal nichts zu unternehmen und etwas mehr über den Toten in Erfahrung zu bringen.

Das Gedicht der Toten

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