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April 2009 - Deutschland

15.4.2009

Liebe Mutti,

endlich ist es soweit und ich kann den ersten Teil des dir gegebenen Versprechens einlösen. Ich habe sie alle gefunden und werde mich nach und nach um sie kümmern. Den Anfang mach ich mit Arnold. Er wohnt in Frankfurt am Main und ist Arzt, ein Urologe. Das Haus, in dem er wohnt, steht in einer der besseren Stadtteile der Mainmetropole. Heute bin ich noch einmal durch seine Straße gegangen. Es war ein warmer, sonniger Nachmittag. In den Vorgärten blühten Schneeglöckchen und Krokusse und sogar einige Osterglocken begannen schon zu sprießen.

Seit einigen Wochen beobachte ich ihn. Er wohnt Parterre links und an seiner Wohnungstür hängt ein Schild mit der Aufschrift: Jeder ist willkommen. Das werde ich bald ausprobieren. Ich habe herausgefunden, dass er Anfang Mai in den Urlaub fährt. Es war nicht allzu schwer an seine Post zu kommen. Die Leute sind so sorglos und ließen mich einfach in den Hausflur, wenn ich vor der Tür stand und sie gerade herauskamen. Oder ich betätigte eine der anderen sieben Klingeln und behauptete, etwas in die Briefkästen stecken zu wollen. Diese hängen im Hausflur zwischen der Haustür und seiner Wohnung. Die meisten sind nicht abgeschlossen, auch seiner nicht. Dort scheint jeder jedem zu trauen.

Anscheinend macht er oft Überstunden, denn er kommt immer erst spät nach Haus. Das kam mir zugute. Sobald die Post da war – sie kam immer zwischen zehn und elf – versuchte ich, in das Haus zu gelangen. Wenn er Briefe bekam, nahm ich sie an mich, ging in die kleine Wohnung, die ich mir in der Nähe gemietet habe und öffnete sie unter Wasserdampf. Nach dem Lesen verschloss ich sie wieder und brachte sie zurück.

Was man da so alles über einen Menschen erfährt. Stell dir vor, im letzten Monat verdiente er 7.847 Euro. Bestimmt auf Grund der vielen Überstunden. Wird ihm bloß nicht mehr viel nützen.

Jedenfalls erfuhr ich, dass er ab dem 4. Mai eine Frankreichrundreise plant. Nicht mit dem Auto, sondern mit dem Zug. Zwei Zugtickets bekam er bereits. Ich weiß nicht, ob noch weitere folgen werden oder ob er nur den Anfang bis nach Lyon gebucht hat und danach entscheidet, wie es weitergeht. Ich werde ihm die Entscheidung abnehmen, denn ich weiß, wie es für ihn weitergeht. So wie es aussieht, fährt er allein. Eine Freundin hat er nicht. Die hätte ihn sicher mal besucht und wäre mir aufgefallen. Er scheint überhaupt keinen Besuch zu bekommen. Jedenfalls habe ich nie einen gesehen.

Wenn mein Plan gelingt, wird er zu dieser Reise nicht mehr kommen. Und mein Plan wird gelingen. Das verspreche ich dir. Einen Tag vor seiner Abreise werde ich ihn besuchen und dann wird sich herausstellen, ob das Schild an seiner Wohnungstür ernst gemeint ist.

Du hörst wieder von mir.

Deine B.

Das Gedicht der Toten

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