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Stralsund

Das heiße Wasser strömte über ihren Körper und ließ den seelischen Schmerz ein wenig verblassen. Es tat gut, einfach nur dazustehen und sich dem prickelnden Nass hinzugeben.

Ihr heutiger Tag als Hauptkommissarin der Mordkommission Stralsund war nicht besonders aufregend gewesen. Eine Anfrage der Kollegen in Frankfurt am Main hatte sie nach Putgarten geführt. Dort war Gerald Arnold, der vor kurzem tot aufgefundene Arzt, aufgewachsen. Sie hatte mit einigen ehemaligen Nachbarn gesprochen, die ihn als unauffälligen Jungen beschrieben. In den Siebzigern war er dann selten zu Haus gewesen, da er in Rostock Medizin studierte. Danach bekam er in Bergen eine Anstellung als Urologe. Er wohnte im Haus seiner Eltern und pflegte seine kranke Mutter. Nach der Wende und dem Tod seiner Mutter ging er erst nach Mainz und dann nach Frankfurt. Niemand konnte sich ein Motiv für die Tat vorstellen.

Als sie beim Rückruf dem Frankfurter Kollegen Bericht erstattete, erfuhr sie von ihm, dass Dr. Arnold, laut seinen Kollegen in der Klinik, ein Einzelgänger war. Nur sehr selten hat er sich an betrieblichen Feiern beteiligt und auch keine außerdienstlichen Beziehungen zu Kollegen gepflegt. Die einzige Abwechslung von seinem Job war das einmal wöchentliche Training in einem Tennisclub.

Einmal soll er einer Kollegin etwas näher gekommen sein. Als er aber erfuhr, dass sie einen achtjährigen Jungen hat, wollte er nichts mehr von ihr wissen. Laut Aussagen der Frau hatte er behauptet, schlechte Erfahrungen mit Kindern gemacht zu haben.

Der Stress, der heute auf Arbeit ausblieb, ereilte Cordula Winter, als sie kurz vor halb acht nach Haus kam. Melissa, ihre neunzehnjährige Tochter, machte sich gerade fertig um ihren Job anzutreten, einen Job, den ihre Mutter ganz und gar nicht befürwortete.

„Na, bietest du deinen Körper wieder feil?“

„Keine Diskussion, Mutter! Ich häng mich nicht in deinen Job rein und du nicht in meinen.“

„Das nennst du Job? Auf dem Tisch zu tanzen, deine Kleider abzuwerfen und dich von geilen Typen betatschen zu lassen? Und ich denke, dabei bleibt es nicht.“

Sie betrachtete Melissa, die ihre Mutter trotzig anschaute. Die Lippen zu rot, die Lidschatten zu schwarz, der Rock zu kurz, das T-Shirt zu knapp und mit den Schuhen stolzierte sie wie ein Storch.

„Kann es sein, dass du neidisch bist?“

„Neidisch, auf so einen Job?“

„Nein, neidisch darauf, dass ich etwas tue, was du schon lange nicht mehr getan hast. Du hattest doch, seitdem Vati ausgezogen ist, oder sollte ich besser sagen, seitdem du ihn rausgeekelt hast, nie wieder etwas mit einem Mann. Oder liege ich da so falsch? Das ist nun fast vier Jahre her.“

„Melissa!“, versuchte Cordula Winter ihre Tochter zu stoppen. „Das geht dich gar nichts an!“

„Doch. Das geht mich etwas an. Du bist unausgeglichen und ich muss es ausbaden. Lass dich mal wieder richtig durchficken.“

„Schluss jetzt! Das geht zu weit. Wir leben hier zusammen in einer Wohnung, die übrigens ich allein bezahle, und da erbitte ich mir etwas Respekt.“

„Weil du dieses Thema gerade ansprichst. Ich verdiene genug und werde mir eine eigene Wohnung suchen.“

„Ach!“ Cordula reagierte gereizt. „Ich nehme an, du brauchst diese Wohnung, um eine Bleibe zu haben, zu der du mit deinen Kerlen gehen kannst, um, wie du es sagst, dich durchficken zu lassen.“

„Ja, natürlich, nur dafür brauche ich sie. Dir würde niemals in den Sinn kommen, dass du es bist, die mich zum Auszug hier zwingt, du, mit deinem ewigen Genöle. Du ekelst mich genauso raus, wie du es mit Vati getan hast.“

„Hey, dein Vater hat mich betrogen.“

„Ja, und das nehme ich ihm nicht einmal übel. Denn seine Frau war mit ihrem Job verheiratet, die abends spät nach Haus kam, früh beizeiten ging und die ihren Mann vernachlässigte, in jeder Hinsicht, nicht nur sexuell.“

„Das stimmt nicht“, versuchte sich Cordula zu verteidigen.

„Nein, natürlich nicht. Red dir ruhig immer alles schön. Nur keine Gewissensbisse.“ Sie nahm ihre Handtasche und verließ ohne ein weiteres Wort die Wohnung.

Als sie nun unter der Dusche stand und diesen Abend noch mal Revue passieren ließ, musste sie zugeben, dass Melissa Recht hatte. Sie und Jürgen hatten kaum noch miteinander gesprochen. Und das lag nicht nur an der Mordserie, die sie damals aufzuklären hatte, es war vor allem das erkaltete Verhältnis zu ihrem Mann. Es war keine Liebe mehr, nicht einmal mehr Zuneigung, die sie für ihn empfand und sie war im Nachhinein richtig erleichtert gewesen, als sie zufällig mitbekam, dass er sich mit einer Anderen traf. Was sie anfangs allerdings am meisten schmerzte, war die Tatsache, dass diese Andere nicht etwa eine Jüngere war. Das hätte sie verstanden. Nein, sie schien sogar älter zu sein und Cordula fand sie auch nicht besonders hübsch. Aber sie wusste ja selbst, dass das Äußere nicht immer zählt.

Sie fragte sich oft, was passiert wäre, wenn sie die beiden nicht zufällig entdeckt hätte. Wäre er von selbst gekommen und hätte es ihr erzählt?

Bei der Befragung eines Barbesitzers, bei dem einer der Ermordeten gearbeitet hatte, sah sie ihn mit dieser anderen Frau an einem der Tische sitzen. Sie hatte einige Minuten dorthin gestarrt, jedenfalls kam es ihr so lange vor. Die beiden schienen sie aber nicht zu bemerken. Erst dachte Cordula, es sei vielleicht eine Kollegin oder eine Kundin, die er als Architekt betreute, doch als er dann ihre Hand nahm und diese zu seinem Mund führte um sie zu küssen, bekam sie weiche Knie. Eine Szene in der Bar wollte sie ihm allerdings nicht machen. Sie war immerhin im Dienst.

Als Cordula Jürgen abends damit konfrontierte, gab er ohne Zögern zu, sich schon ein paar Mal mit dieser Frau getroffen zu haben, aber immer nur in einer Bar oder sie waren spazieren.

„Es geht mir ums Reden, Cordula“, hatte er ihr erklärt. „Ich habe nicht mit ihr geschlafen.“

„Aber das wird ja nicht mehr lange dauern“, hatte sie gekontert. „Den Anfang dazu habe ich heute gesehen oder ist es normal, einer Frau die Hand zu küssen, mit der du nur reden willst?“

Darauf war ihm keine Antwort eingefallen, was sie als Zustimmung ihrer Äußerung deutete.

Sie wusste heute nicht mehr, wie lange sie schweigend so dastanden, aber irgendwann brach sie die Stille: „Ich möchte, dass du gehst.“ Dann war sie aus der Wohnung geflüchtet, war weinend durch die Straßen gelaufen und als sie nach wer weiß wie vielen Stunden wieder nach Haus kam, war Jürgen fort. Seit zweieinhalb Jahren sind sie nun geschieden.

Für Melissa war es ein Schock gewesen, da sie sehr an ihrem Vater hing und Cordula denkt nun, dass sie ihre Mutter dafür bestrafen will, ihren Vater rausgeekelt zu haben, indem sie sich als Tabledancer verdingt und ihr Geld mit Männern im Bett verdient.

Sie wollte nicht weiter darüber nachdenken, stellte das Wasser ab und stieg aus der Dusche. Beim Abtrocknen betrachtete sie sich im mannshohen Spiegel an der Badinnentür und fand ihre Figur für 43 noch recht passabel. Okay, sie war leicht untersetzt und zu klein um als Model durchzugehen, aber sonst… Brauchte sie wirklich mal wieder einen Mann? Melissa hatte Recht, sie hatte seit Jürgen nie wieder mit einem Mann geschlafen und davor war ja auch mit ihm so gut wie nichts mehr passiert. Ihr fehlte aber auch das Verlangen danach. In der ganzen Zeit hatte sie sich höchstens fünf oder sechsmal selbst befriedigt, aber dabei nie einen Gedanken an einen Mann verschwendet. Ihr fiel auch kein Mann ein, mit dem sie sich Sex vorstellen könnte. War sie prüde geworden?

Sie trocknete sich ab, zog sich ihr Nachthemd und den Morgenmantel über und ging in die Küche, um sich etwas zu essen zu machen.

Das Gedicht der Toten

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