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Sonntag, 24. Mai 2009 - Weymouth, England

Lisa schaute sich auf dem Laptopmonitor die vier Fotos an, Bernd Retzlaff, Marion Kaminski, Kerstin Strübe und Gerald Arnold. Die beiden Frauen hatte sie auf Facebook entdeckt und das Foto von Bernd auf einer Partnervermittlungsseite. Um sein Bild sehen zu können, war Lisa dort sogar Mitglied geworden. Und von Gerald gab es zurzeit ja genügend Fotos im Netz. Vier Fotos – vier Scheusale.

Ihre Gedanken schweiften in die Vergangenheit, zurück ins Jahr 1983. Sie war sieben Jahre alt und kapierte damals nicht, was geschah. Sie lag auf einer Matratze im Obergeschoss dieses Hauses, dieser Bauruine, die nie fertig gestellt wurde. Aber es war der ideale Platz zum Spielen. Zwei-dreimal pro Woche traf sie sich dort mit Gesine, ihrer Freundin. Sie tauschten Heimlichkeiten aus oder träumten einfach vor sich hin. Dazu hatten sie auch die alte Matratze dort hinauf geschafft, die sie auf einer Müllhalde entdeckten. Dort fanden sie auch die Leiter, die sie erst auf die Idee brachte, dieses Haus als ihren geheimen Treffpunkt zu nutzen. Obwohl ein paar Sprossen fehlten, reichte sie aus, um in den oberen Stock zu gelangen.

An diesem Tag erschien Gesine nicht. Dafür sah sie zwei Frauen, die auf das Haus zukamen. Sie erkannte sie sofort. Dort kannte jeder jeden. Lisa dachte zuerst, es wären die Eigentümer und sie wollten am Haus weiterbauen. Sie hörte, wie sie klopften und eine Tür sich knarrend öffnete. Die einzige Tür, die es in dem unfertigen Haus gab, war unten und führte wahrscheinlich in einen Keller. Dann hörte sie eine ganze Weile nichts. Gerade als sie sich entschloss, ihren Platz zu verlassen um zu Gesine nach Haus zu gehen, fingen die Schreie an. Erst klangen sie wie ein Winseln, dann wurden sie immer lauter. Lisa konnte nicht erkennen, wer dort schrie und wie viele es waren, aber sie meinte mehrere Stimmen zu unterscheiden. Als die Schreie immer lauter wurden, hielt sie sich die Ohren zu. Was passierte da unten? Sie konnte es sich nicht erklären. Wer schrie dort? Sie fürchtete sich. Was würde geschehen, wenn man sie hier oben entdeckte? Sie musste so schnell wie möglich weg von hier.

Abrupt hörten die Schreie auf. Einen Augenblick lang war alles still, aber dann drangen aufgebrachte Stimmen zu ihr herauf. Sie stritten. Eine Frau kreischte. Ein Mann brüllte. Dann schrien mehrere Personen durcheinander und plötzlich war alles wieder ganz still. Erst da bemerkte Lisa, wie sie am ganzen Körper zitterte. Sie hatte Angst sich zu bewegen. Sie wollte nicht entdeckt werden.

Sie hörte das Knarren der Tür. Obwohl sie von unten aus nicht gesehen werden konnte, kauerte sie sich in die hinterste Ecke und hoffte, dass niemand die Leiter entdeckte und hier oben nachschaute. Aber dafür hatten sie zum Glück keine Augen. Lisa hörte sich entfernende Schritte. Vorsichtig hob sie den Kopf und sah nach draußen. Ja, sie gingen, aber diesmal waren es nicht nur die beiden Frauen. Zwei Männer begleiteten sie, Männer, die sie ebenfalls kannte. Die mussten schon da gewesen sein, bevor sie selbst hier ankam. Erst viel später, als sie anfing zu ahnen, was da unten vorgefallen sein könnte, quälte sie der Gedanke, was passiert wäre, hätte man sie gefunden. Sie wollte es sich nicht vorstellen.

Sie wartete noch einige Zeit, überlegte, ob noch mehr Leute im Keller sein könnten, aber sie glaubte gehört zu haben, wie die Tür abgeschlossen wurde. Erst als sie sich sicher wähnte, niemand könne sie sehen, kletterte sie hinunter und schlich davon.

Sie wusste nicht mehr, wie sie nach Haus gekommen war, nur, dass sie sich in ihr Zimmer verkroch, immer noch zitternd. Sie legte sich ins Bett und sprach mit niemandem, weder mit ihrer Mutter, noch mit der Ärztin, die diese hatte kommen lassen. Diese diagnostizierte aufkommendes Fieber und befreite Lisa ein paar Tage von der Schule.

Sie hörte immer wieder die Schreie und das Verstecken unter ihrer Bettdecke half auch nicht dagegen. Was hatten die Erwachsenen da unten getan, Erwachsene, die sie kannte? Sollte sie mit jemandem darüber sprechen? An wen konnte sie sich wenden? An ihre Mutter? Dann müsste sie auch beichten, in der Ruine gewesen zu sein. Aber ihr war das Spielen dort verboten worden.

Und was wäre, wenn da gar nichts passiert ist? Vielleicht steht da unten ein Fernseher und die Vier schauten sich hin und wieder einen im Sozialismus verbotenen Film an. Davon hatte sie gehört. Und daran wollte sie glauben. Aber der Glaube daran währte nur einen Tag und dann ging die Suche los.

Lisa schaute immer noch auf die Fotos. Vier Scheusale. Eines davon war tot.

Das Gedicht der Toten

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