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Februar 2006 - Vitt, Insel Rügen

Mehrere Schaulustige standen vor der kleinen achteckigen Kapelle, ein beliebter Besuchermagnet für Touristen aus aller Welt. Doch am Vormittag dieses ungemütlichen Februartages war sie nicht für die Öffentlichkeit zugänglich.

Die Tür öffnete sich und die Trauernden setzten sich in Bewegung, allen voran der Pfarrer, der aus Altenkirchen angereist war. Ihm folgten die engsten Familienangehörigen, denen sich etwa 30 Dorfbewohner anschlossen. Alle waren dick eingemummelt. Schmutzig-weiße Schneereste, die den Boden wie gemalte Tupfer bedeckten, zeugten vom zu Ende gehenden Winter. Dunkle Wolken zogen vom Meer herauf. Ein düsterer Tag für ein düsteres Ereignis.

Keiner konnte den plötzlichen Tod dieser Frau verstehen, einer Frau, der das Schicksal hart mitspielte, die sich aber wieder aufrappelte, damals nach dem Unglück. Sie schwor dem Alkohol ab und schaffte es, ohne Mann ihre Kinder zu erziehen. Aus allen ist etwas geworden, aus allen, außer …

Und nun? Akuter Herzinfarkt. Mit 58. Kam schreiend aus der Haustür gerannt und brach zusammen. Obwohl die Nachbarin gleich den Rettungswagen rief, hatte sie es nicht geschafft. In der Klinik war sie verstorben.

Einige Meter entfernt parkte am Straßenrand ein gelber Polo. Er schien niemandem aufzufallen. Trotz Wolken verhangenen Himmels trug die Frau hinter dem Lenkrad eine dunkle Sonnenbrille. Sie sollte selbst Teil des Trauerzuges sein. Jeden kannte sie, aber sie hätte niemandem in die Augen schauen und schon gar nicht ihr Beileid bekunden können. Sie allein war verantwortlich für diese Szene, obwohl sie das nicht beabsichtigt hatte. Ihr wäre niemals in den Sinn gekommen, ihr Päckchen könnte so schreckliche Folgen auslösen. Sie wollte doch nur Gerechtigkeit.

Sie sah die vier Kinder der Verstorbenen, die mit gesenktem Kopf, teilweise weinend, dem Pfarrer folgten. Ralf, der Hamburger Rechtsanwalt, Sylvia, die Modedesignerin, die in den Niederlanden lebt, Sabine, die Unternehmensberaterin aus Stralsund und Torsten, der Tierarzt aus Brandenburg. Wer hätte damals gedacht, dass alle vier einmal studieren würden. Sylvia und Ralf waren der Mutter sogar zeitweilig weggenommen und in ein Heim gegeben worden. Und wäre die Sache damals nicht passiert, hätte sich das Leben der Familie sicher in den gewohnten Bahnen fortgesetzt. Was wäre dann aus den Kindern geworden? Doch der Vorfall hatte der Frau einen Schock versetzt. Plötzlich war sie wie ausgewechselt, so, als ob sie aus einem langen Traum erwacht war.

Der Trauerzug lief den Weg zum Dorf hinunter. Bevor er sich auflöste, spendeten die Trauernden den Angehörigen tröstende Worte, von denen jeder wusste, sie würden den Schmerz der Familie nicht lindern.

Der Schmerz über den Verlust dieser Frau würde auch nach Jahren nicht versiegen, denn noch kannte niemand den wahren Grund.

Das Gedicht der Toten

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