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4. Mai 2009 – Vitt, Insel Rügen

„Bleib noch etwas liegen. Fünf Minuten hast du doch noch.“ Frank hielt Kerstin fest in seinem rechten Arm. Seine linke Hand streichelte sachte über ihre Wange, den Hals hinunter, bis sie auf ihrer Brust zum Ruhen kam. Sie schloss die Augen und genoss die letzten Augenblicke, bevor sie ihn verlassen musste. Er konnte liegen bleiben, doch auf sie warteten 18 Kinder der ersten und zweiten Klasse.

Wie fast immer war Kerstin auch an diesem Montag kurz nach sechs zu ihm gekommen. Ihr Mann, der bei der Bahn arbeitete, fuhr jeden Montag gegen 5:45 Uhr von zu Hause los. Er brachte Ralf, ihren am Down Syndrom erkrankten Sohn, in das Heim nach Bergen, in dem er die Woche über wohnte und arbeitete, und fuhr dann zur Arbeit.

Kerstin war Unterstufenlehrerin in der kleinen Dorfschule, und das nun schon seit fast 30 Jahren. Der Unterricht fing erst um acht an und so nutzte sie die Zeit, ihren Geliebten zu besuchen, für den es zwar noch etwas früh war, der aber eine verkürzte Nacht pro Woche in Kauf nahm, da es sonst kaum Möglichkeiten gab, sich zu treffen. Nur in den Ferien hatten sie schon hin und wieder einen Tagesausflug unternommen.

„Ich wundere mich immer wieder, dass du dich noch mit mir abgibst, nun, nachdem du den Lyrikpreis gewonnen hast.“ Sie legte ihm ihren rechten Zeigefinger auf den Mund. „Sag nichts. Ich weiß, ich bin nicht die Einzige in deinem Harem“, sie grinste, „aber viele Männer gibt es hier nicht und schon gar nicht so attraktive wie dich. Doch genau das wundert mich. Du kannst doch fast jede kriegen, was macht eine 53-jährige für dich so interessant? Ich könnte fast deine Mutter sein.“

„Wie lange geht das jetzt mit uns schon?“ Frank strich ihr eine Strähne aus der Stirn.

„Sechs Jahre? Oder sind es schon sieben?“

„Fast genau sieben. Es fing an, kurz nachdem ich wieder hierher zog, kurz nachdem ich diese Villa“, er machte Anführungsstriche in der Luft, „von meiner Großmutter geerbt hatte. Zur Miete hätte ich mir damals nicht mal so eine Bude wie diese hier leisten können. Im April 2002 bin ich hier eingezogen und am 19. Mai war der Pfingsttanz. Dein Mann war auf Nachtschicht und dein Sohn mit dem Heim auf einem Ausflug. Du warst die erste Frau, die dieses Domizil betrat. Ich konnte damals nicht glauben, dass du schon 46 warst und nun“, er schaute ihr tief in die Augen und gab ihr einen sanften Kuss auf die Lippen, „nun glaube ich nicht, dass du schon 53 bist. Du bist für mich immer noch so anziehend, wie am ersten Tag, trotz der 17 Jahre Unterschied. Und was die andern betrifft, die sind nur ein billiger Ersatz, das weißt du.“ Er küsste sie auf die Wange.“ Wenn du so könntest, wie du wolltest, würden wir jetzt zusammenleben...“

Sie lachte. „Nun fang ja nicht an zu spinnen. Du? Mit mir zusammenleben?“

„Warum nicht? Ich hab ja nicht gesagt, dass ich dich gleich heiraten würde, aber wir müssten uns nicht mehr heimlich treffen.“ Er wartete, ob sie etwas erwidern wollte. Ihre Augen waren geschlossen. Sicher dachte sie darüber nach, wie es wäre, mit ihm zusammenzuleben.

„Und“, fuhr er fort, „ich würde die andern Schnecken links liegen lassen. Keine hat deine Klasse. Aber du kannst nur montags und das auch nicht immer. Ich bin ein Mann in den besten Jahren und da ist mir einmal pro Woche oder nur alle 14 Tage nicht genug. Und übrigens“, er machte eine Pause, um die Bedeutung der folgenden Worte hervorzuheben, „du hast mir sehr geholfen. Du hast mich finanziell unterstützt. Sonst hätte ich mir einen Job suchen müssen und das Schreiben wäre Nebensache geblieben oder ich hätte es ganz aufgegeben. Das vergesse ich dir nie.“

„Du hättest hier keinen Job bekommen“, warf Kerstin ein. Sie öffnete ihre Augen und schaute ihn an. „Du hättest woanders hingehen müssen und das wollte ich nicht. Und außerdem gefallen mir deine Gedichte. Das Schreiben hat sich ja nun auch gelohnt. Du hast endlich den Preis bekommen. Im vierten Anlauf.“

Frank zuckte mit den Schultern. „Ich hoffe nur, er lässt sich auch in bare Münze umwandeln. Ich habe zwar jetzt einen Vertrag mit einem Verlag, der einen Lyrikband von mir veröffentlichen will, aber reich werde ich dadurch sicher nicht.“

Kerstin wand sich geschmeidig aus seinen Armen und setzte sich langsam auf. „Lass es auf dich zukommen. Wenn du erst mal den Fuß in der Tür hast, wer weiß, was sich da noch ergibt.“ Sie stand auf und ging ins Bad.

Er liebte sie. Sie machte ihm immer wieder Mut. Ohne sie hätte er schon längst aufgegeben. Eine Zeitlang mit ihr zusammenzuleben wäre bestimmt reizvoll. Sie könnten sich lieben, wann immer sie wollten, ohne Rücksicht auf jemanden nehmen zu müssen. Aber es war auch gut, dass sie verheiratet war, obwohl er ihr das nie sagen würde. Er wollte die gelegentlichen Liaisons mit jüngeren Frauen nicht missen.

Kerstin erschien wieder aus dem Bad und er sah ihr beim Anziehen zu. Wie machte sie das nur? 53 und so eine tadellose Figur. Das lag sicher nicht nur am Jogging und dem Fitnesstraining, sondern auch an den Genen.

„Ach übrigens“, fiel es ihm ein, „das wollte ich dir neulich schon erzählen, vor anderthalb Wochen habe ich eine Frau im Dorf gesehen, eine Fremde, die mir aber doch irgendwie bekannt vorkam. Sie lächelte mich sogar an. Ist dir jemand aufgefallen?“

Kerstin drehte sich zu ihm um. „Nein. Wie sah sie denn aus?“

„Etwa so groß wie du, würde ich sagen, blond mit roten Strähnen. War schick gekleidet mit brauner Lederjacke und kurzem schwarzen Lederrock.“

„Sicher eine Urlauberin.“ Sie schmunzelte. „Vielleicht auch eine Anwärterin für deinen Harem.“

Frank sprang aus dem Bett, nackt wie er war, zog sie zu sich und gab ihr spielerisch ein paar Klapse auf den Hintern. Dann küsste er sie. „Ich lass dich gleich nicht gehen.“

Sie sah an ihm herunter, sah seine wieder entfachte Erregung. „Dann sollte ich mich schnell auf den Weg machen. Bleibt es morgen dabei?“

Frank schaute sie fragend an.

„Sag bloß, du hast es vergessen?“

Es dauerte eine Weile, bevor er begriff. „Aber natürlich bleibt es dabei. Ich muss mir doch heute schon meinen Fanclub für morgen aufbauen.“ Er lächelte. Kerstin hatte ihn gebeten, im Deutschunterricht eines seiner Gedichte vorzutragen und es mit den Kindern zu analysieren.

„Welches Gedicht bevorzugst du?“

„Die Entscheidung überlass ich dir. Sind ja deine Fans“, fügte sie verschmitzt lächelnd hinzu. „Irgendein Gedicht, das sieben- und achtjährige Kinder anspricht.“

„Na, ich geh nachher mal alles durch.“ Er gab ihr einen letzten Kuss. „Es war wieder schön mit dir.“

„Ebenfalls.“ Bevor sie die Tür schloss, winkte sie ihm noch einmal zu.

Das Gedicht der Toten

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