Читать книгу Das Gedicht der Toten - Andy Glandt - Страница 17

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Vitt, Insel Rügen

„Ja?“, meldete sich eine krächzende Stimme nach dem dritten Klingeln.

„Guten Tag“, antwortete Kerstin. „Ich würde gern Bernd Retzlaff sprechen.“

„Ha, das würde ich auch gern. Was wollen Sie von ihm? Sind Sie eine von diesen Nutten, für die er sich verantwortlich fühlt?“

Kerstins Herz hörte für einen Sekundenbruchteil auf zu schlagen. Was war das? Sie war irritiert.

Bevor sie antworten konnte, krächzte die Stimme weiter: „Da hab ich wohl ins Schwarze getroffen, hm? Ja, Kindchen, du bist nicht die Einzige, die ihn sucht. Bekommst wohl noch Geld von ihm? Ich geb dir 'nen Rat, vergiss es und halt dich von ihm fern, sonst siehst du irgendwann so aus, dass dich kein Mann mehr anschaut.“

Die Frau machte eine Pause, die Kerstin nutzte. Sie hatte sich wieder gefangen.

„Ich bin eine ehemalige Klassenkameradin und wir organisieren ein Klassentreffen. Darum ruf ich jetzt alle Mitschüler an, um sie einzuladen.“

Diesmal schwieg die Frau am anderen Ende der Leitung einen Augenblick länger, bevor sie antwortete: „Sorry, dass ich Sie verwechselt habe, aber hier rufen normalerweise nur Tussis an, mit denen Bernd geschäftlich zu tun hat. Doch wie gesagt, er ist nicht da. Hab ihn schon seit fast drei Wochen nicht gesehen und es ist mir auch egal. Wahrscheinlich versteckt er sich bei irgendeinem Weibsstück wegen der Anzeige. Die Polizei sucht ihn nämlich auch. Irgend so'n Flittchen bezichtigt ihn der Vergewaltigung und hat ihn angezeigt. Ich lass mich sowieso scheiden. Mir hat er schon genug wehgetan und das nicht nur seelisch. Ich habe keine Angst mehr vor ihm. Ich hoffe, die Bullen finden ihn bald, sonst tut es mir Leid um die Tussi, bei der er sich verkriecht. Vergessen Sie ihn. Feiern Sie die Party ohne ihn. Ist besser für alle.“ Sie machte eine Pause. Gerade als Kerstin sich bedanken wollte, fiel ihr die Frau noch mal ins Wort. „Sagen Sie mal, war er früher schon so? So brutal? Schlägt immer gleich zu, wenn ihm was nicht passt?“

„Ich glaube nicht“, antwortete Kerstin schnell. Darüber wollte sie nun wirklich nicht reden. „Vielen Dank. Ich muss jetzt los. Auf Wiedersehen.“

Sie wartete nicht ab, ob Frau Retzlaff noch etwas erwidern wollte, sondern schaltete das Telefon sofort aus.

Nach Aussagen der Frau musste Bernd heute noch rabiater, noch brutaler sein als damals. Und wie es schien, war er Zuhälter geworden. Ja, das passte zu ihm. Ob er immer noch solche Filme dreht? Zuzutrauen wäre es ihm. Und nun sucht ihn die Polizei. Wenn er Glück hat, findet sie ihn eher, als der Rächer. Oder war es eine Rächerin? Daran glaubte Kerstin eher. Würde ein Mann einem andern Mann einen Penisbruch zufügen, ihn so in Erregung versetzen können, dass sein Penis erigiert? Sicher. Aber einer Frau würde es leichter fallen.

Kerstin saß immer noch vor dem Telefon und überlegte, was nun zu tun sei. Von Marion kannte sie keine Nummer, da sie nicht wusste, wie sie jetzt hieß und Bernd war nicht aufzufinden. Wäre es nicht am sinnvollsten, die Polizei anzurufen? Dann müsste sie natürlich alles gestehen. Aber sie würde am Leben bleiben. Vielleicht waren die Taten auch schon verjährt. Obwohl, Mord verjährt nicht, hatte sie mal gehört. Aber sie hatte ja niemanden umgebracht. Das waren die Männer gewesen. Sie selbst könnte man höchstens wegen Beihilfe und unterlassener Hilfeleistung beschuldigen. Sollte sie Georg davon erzählen? Wie würde er reagieren? Würde er sofort die Polizei benachrichtigen oder würde er versuchen, mit ihr eine Lösung zu finden? Sie wollte noch eine Nacht darüber schlafen und hoffte, diese Zeit blieb ihr.

Das Telefonklingeln schreckte sie aus ihren Gedanken. An der Vorwahl erkannte sie, dass der Anruf aus Stralsund kam. Ihr fiel sofort die Kommissarin ein, die ihr Kollege erwähnte. Sie war auch aus Stralsund. Hatte man inzwischen doch einen Zusammenhang herstellen können?

Zögernd drückte sie die Taste. „Hallo.“ Es war nur ein Hauchen.

„Kerstin?“, fragte eine weibliche Stimme.

„Ja“, erwiderte sie erleichtert. Wer sie mit Vornamen ansprach, konnte nicht von der Polizei sein.

„Hier ist Marion, Marion Kaminski.“

„Marion – Gott sei Dank rufst du an. Ich wollte dich auch anrufen, wusste aber weder wo du wohnst noch wie du jetzt heißt.“

„Ich heiß jetzt Renner und wohne in Stralsund.“

„Du bist also auch verheiratet.“

Marion zögerte einen Augenblick bevor sie antwortete. „Ich lebe gerade in Trennung. Mein Mann fühlt sich bei einer Jüngeren besser aufgehoben.“

„Oh, das tut mir Leid.“

„Ich komm schon drüber weg. Du wirst dir sicher denken können, warum ich anrufe.“

Kerstin nickte, obwohl ihre Gesprächspartnerin das nicht sehen konnte. „Gerald.“

„Ja. Was denkst du, hat es was mit damals zu tun?“

„Das weiß ich nicht, aber auszuschließen ist es nicht.“

„Können wir etwas tun, um das herauszukriegen oder um uns zu schützen, Kerstin?“

„Schützen? Die einzige Möglichkeit sehe ich darin, zur Polizei zu gehen.“

„Ich hab aber keine Lust in den Knast zu wandern.“

„Na, denkst du ich, Marion. Aber immer noch besser, als so zu enden wie Gerald.“

„Was hältst du davon, uns in den nächsten Tagen mal zu treffen, du, Bernd und ich. Ihr könntet zu mir kommen. Ich wohne ja jetzt allein.“ Kerstin hörte die Traurigkeit in ihrer Stimme. „Von dir ist es nicht weit und ich denke, Bernd wird es auch möglich machen von Lübeck zu kommen.“

„Du weißt, dass er in Lübeck wohnt?“

„Ja, stell dir vor, er rief mich vor etwa zwei Jahren mal an. Er wollte etwas über ein Medikament wissen, ein Mittel, das verschreibungspflichtig ist. Irgendwie hatte er herausgefunden, wie ich nun heiße und wo ich wohne. Ich konnte ihm dazu aber nicht mehr sagen, als jede andere Apothekerin auch.“

„Ich hab seine Nummer im Netz herausgefunden“, sagte Kerstin, „und schon mit seiner Frau telefoniert.“ Dann erzählte sie Marion kurz von dem Gespräch.

„Wenn wir ihn nicht erreichen, dann sollten wir beide uns wenigstens treffen oder was denkst du?“

Kerstin schaute auf die Uhr. „Ja, du hast Recht, das sollten wir. Ich muss jetzt Schluss machen. Mein Mann wird mit unserem Sohn gleich nach Haus kommen.“

„Ich habe kommende Woche Spätschicht und fange um dreizehn Uhr an zu arbeiten. Ist es dir irgendwie möglich, an einem Vormittag zu mir zu kommen?“

Kerstin überlegte. „Dienstag wäre die einzige Möglichkeit. Da gebe ich nur zwei Stunden und dafür kann ich Vertretungen finden.“

„Okay. Dann Dienstag um zehn bei mir.“ Sie gab Kerstin ihre Adresse und verabschiedete sich und das keinen Augenblick zu früh. Georgs Auto fuhr die Auffahrt hinauf.

Das Gedicht der Toten

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