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März 2009 - England

Die Klinge des zweischneidigen Messers blinkte im Schein der Neonröhren. Sie näherte sich bedrohlich den vor Entsetzen starren Augen, Augen eines kleinen Mädchens. Eine hämisch grinsende Fratze begleitete diese Bewegung. Der Arm, in dessen Hand sich die Klinge befand, erhob sich langsam, ja zögernd, so als wolle er die Zeit auskosten, die letzten Sekunden dieses für ihn bedeutungslosen Individuums, um dann mit rasender Aggressivität vorzuschnellen und sich in den kleinen Körper zu bohren.

„Neeeeeeiiiiiiiiin!“

Mit einem Mark erschütternden Schrei fuhr Lisa hoch und saß aufrecht in ihrem Bett. Sie hielt die Hände vors Gesicht. Ihre Haare waren klitschnass, das T-Shirt klebte an ihrem Oberkörper und betonte ihre weibliche Figur.

Normalerweise würde Marc, der durch den Schrei ebenfalls munter wurde, dieser Anblick erregen. Stattdessen schaute er sie bekümmert an. Sie hatte wieder geträumt.

Lisas Hände zitterten. Wie zwei nie versiegende Wasserfälle rannen Tränen über ihre Wangen. Sie griff nach dem Taschentuch hinter ihrem Kopfkissen und schnäuzte sich.

In letzter Zeit häuften sich die Alpträume wieder. Sie sah Dinge, die sie nie real gesehen hat, von denen sie nicht wusste, wie sie sich zugetragen haben, aber die Schreie, die sie damals hörte, damals vor mehr als 25 Jahren, ließen ihre Träume so real erscheinen, als ob sie selbst dabei, selbst eines der Opfer gewesen war.

Sie schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht mehr. Ich werde wahnsinnig, wenn diese Alpträume nicht bald aufhören.“ Sie wusste, warum sie diese Alpträume bekam. Hätte sie damals nicht geschwiegen, würden die Opfer vielleicht heute noch leben und die Täter säßen hinter Schloss und Riegel. Aber damals, mit sieben, konnte sie damit nicht umgehen.

Nun waren die Träume wieder da, nach so vielen Jahren, in denen sie sie erfolgreich verdrängen konnte. Warum? „Sie werden wieder aufhören, ganz bestimmt“, redete sie sich ein.

„Lisa, könntest du bitte Englisch reden?“ Marc legte seinen Arm um sie und zog sie an sich heran. „Du weißt, meine Deutschkenntnisse sind recht mager.“

Lisa lehnte ihren Kopf an Marcs Schulter. Das tat gut. Es beruhigte sie. Zwölf Jahre waren sie nun verheiratet. Es gab keine Geheimnisse zwischen ihnen, keine, außer diesem einen. Damit wollte sie Marc nicht verängstigen, was sicher falsch war. Aber sie konnte sich ihm nicht anvertrauen, sie konnte sich niemandem anvertrauen.

Seit fast 26 Jahren lebt sie in England. Ihre Mutter war 1983 mit ihr aus der DDR nach London gezogen. Sie hatte in dem kleinen Urlaubsort auf der Insel Rügen, in dem sie wohnten, Gregor, einen englischen Touristen kennen gelernt und sich in ihn verliebt. Sie stellte einen Ausreiseantrag für sich und Lisa und durch Gregors Beziehungen – er arbeitete in einer Regierungsbehörde in London – wurden die beiden schneller als üblich freigekauft. Wie genau das damals ablief, wusste Lisa nicht. Es hatte sie auch nicht sonderlich interessiert.

Einwände ihres Vaters gab es nicht. Er hatte sich schon früh aus dem Staub gemacht. Da war sie gerade zwei Jahre alt geworden. Sie konnte sich kaum an ihn erinnern.

Lisa war es recht gewesen, aus dem kleinen Dorf zu verschwinden. Sie hatte gehofft, durch den räumlichen Abstand die Schreie vergessen zu können, diese kindlichen Schreie, die sie immer wieder in ihren Alpträumen plagten. Nach etwa zwei Jahren war es ihr nach und nach gelungen, alles zu verdrängen. Nur in letzter Zeit häuften sich die Alpträume wieder. Sie wusste nicht warum. Mit einem Mal waren sie wieder da.

Marc, den sie in Dorset auf der Party eines gemeinsamen Freundes kennen lernte, bekam davon zum Glück nur selten etwas mit. Er war Stewart auf einem Kreuzfahrtschiff und oft tage-, manchmal sogar wochenlang unterwegs. Vor drei Tagen erst war er von einer Reise zurückgekehrt und ihm blieben noch zehn Tage bis zur nächsten Fahrt.

Lisa war sich im Klaren, dass sie etwas unternehmen musste, etwas, das ihr Innerstes beruhigte, etwas, das die Alpträume ein und für alle Mal verschwinden ließ. Wenn Marc wieder auf See war, würde sie im Internet recherchieren. Sie musste herausfinden, ob es diese Scheusale noch gab. Trieben sie weiterhin ihr grässliches Unwesen? Sie musste sie finden. Was sie dann machen wollte, wusste sie nicht. Das würde sie dann entscheiden.

Sie schaute in Marcs besorgtes Gesicht. „Ist schon gut.“ Sanft streichelte sie seine Wange und gab ihm einen Kuss. „Es wird sich wieder legen.“

„Warum erzählst du mir nicht von deinen Träumen.“ Er wusste, es hatte keinen Zweck, sie darum zu bitten, aber er versuchte es trotzdem immer wieder. „Oder wenn du mir dein Herz nicht ausschütten kannst, dann geh bitte zu einem Psychologen. Dort bekommst du professionelle Hilfe.“

Sie schaute nachdenklich auf die kleinen roten Segelschiffchen, mit denen Bettbezug und Kopfkissen bedruckt waren. Ein Spleen von Marc. Er träumte davon, selbst mal ein Segelboot zu besitzen. Aber erst, wenn er in Rente ging und Zeit für so ein Hobby hatte.

Sie wandte ihren Kopf und schaute ihn erneut an. „Lass uns nicht mehr davon reden, okay? Du bist nicht allzu lange zu Haus und die Zeit sollten wir besser nutzen, als uns über ein paar dämliche Alpträume den Kopf zu zerbrechen. Denkst du nicht auch?“ Ihr Lächeln war einfach bezaubernd. Wer hätte ihr etwas abschlagen können? Außerdem hatte sie ihren Kopf bereits unter seine Bettdecke gesteckt und wenn sie das tat, hörte bei Marc das Denken auf.

Das Gedicht der Toten

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