Читать книгу Charlys Sommer - Anett Theisen - Страница 32

Objekt der Begierde – Rosenstolz

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Charly stand im Hotelzimmer und erwog die Risiken, zweihundert Meter ohne Helm bis zum Parkplatz zu fahren versus extra wegen des Helmes noch einmal ins Zimmer zurückkehren zu müssen. Sie entschied sich für die erste Variante und war danach gerade auf dem Weg zur Peter-und-Paul-Kirche, als sie hinter sich das charakteristische Röhren eines Porsche vernahm. PS-vernarrt, wie sie war, drehte sie sich um und erkannte Fahrzeug und Fahrer sofort. Er bog gerade auf den Hotelparkplatz ein.

„Was macht der hier?“ Erschrocken über ihren lauten Ausruf schlug sie die Hand vor den Mund. Ihr Herzschlag beschleunigte sich und sie sah sich um. Niemand war in der Nähe. Kurz darauf kam der Mann auf sie zu.

‚Ruhig bleiben, er kennt mich nicht. Für ihn bin ich irgendeine junge Frau. Also bleibe ich stehen und schau, was er macht.’ Sie wandte sich eilig zum Gemäuer des Nikolaiturmes um und tat, als studiere sie die daran befindliche Infotafel. Er grüßte, sie grüßte beiläufig zurück. Dann folgte sie ihm mit dem Blick und einem kleinen, aufgeregten Triumphgefühl im Magen. ‚Er hat gegrüßt!’

Als ihr die Peter-und-Paul-Kirche ins Auge fiel, beeilte sie sich, ihm zu folgen. Er bog zum Hotel ab, sie überholte ihn und schlüpfte durchs Kirchenportal. Gerade noch rechtzeitig zum Beginn des Orgelkonzertes.

Als sie anschließend die Kirche verließ und die Neißebrücke ansteuerte, bemerkte sie, dass er ebenfalls aus der Kirche trat und ihr langsam in einigem Abstand folgte. Unauffällig sah sie zurück. ‚Macht er das absichtlich?’

‚Charly, er ist Architekt’, sagte sie sich, die Hand auf dem Geländer und den Blick auf das beruhigend gleichmäßig fließende Wasser gerichtet. ‚Er schaut sich vermutlich die Stadt an.’ Sie grübelte noch einige Minuten, dann nahm sie sich zusammen. ‚Ich vergesse jetzt, dass es Männer gibt, und genieße es, endlich wieder hier zu sein.’

Tief atmete sie ein. Auf dem Berg thronte die Kirche und sie spürte das vertraute Glücksgefühl. ‚Wieder hier’, dachte sie mit tiefer Dankbarkeit. Sie hielt sich nicht mehr lange auf der Brücke auf, sondern kehrte auf die deutsche Seite zurück. Ursprünglich war ihr Plan gewesen, über die Ochsenbastei zurückzugehen, aber sie hatte Hunger, also kürzte sie ab und steuerte den Untermarkt an. Wenigstens zum Flüsterbogen wollte sie.

***

„Ich fühle mich verfolgt!“

„Von wem?“ Instinktiv trat Gereon schützend vor die junge Frau und spähte ins Halbdunkel des Torbogens, aus dem sie herausgetreten war.

„Von Ihnen!“ Die Hände in die Seiten gestützt und den Kopf forschend schräg gelegt, sah sie ihn an. Etwas schwang in ihrer Stimme mit.

‚Distanz?’

‚Herausforderung?’

‚Oder … Flirt?’

„Oh …“, ertappt fuhr er sich durch die Haare und fügte ein verspätetes „Das tut mir leid“ an.

Sie musterte ihn scharf von oben bis unten, lächelte dann und antwortete leichthin: „Ok.“

Fasziniert beobachtete er, wie sich ihre Lippen um das kleine Wörtchen kräuselten.

***

Charly amüsierte sich. Er war ihr durch die halbe Altstadt gefolgt und konnte jetzt den Blick nicht von ihr wenden. Sie wollte ihn nicht auslachen und ihn auch nicht verletzen, doch die Situation war zu schön, um sie nicht zu genießen. ‚Er sieht aber auch gut aus.’

Die bisherigen kurzen Begegnungen hatten nicht zuviel versprochen. Durchtrainiert, mit schmalen Hüften und breiten Schultern, trotzdem kein Muskelprotz, sondern eher schlank. Die Ärmel des T-Shirts umspannten den Bizeps und unter dem Shirt konnte sie das Sixpack erahnen. Und er war deutlich größer als sie. ‚Genau, wie ich es mag.’

Sie wies auf den Torbogen. „Wissen Sie, was das ist?“

***

Gereon lächelte. ‚Wer, wenn nicht ich?’, dachte er und antwortete: „Ein Flüsterbogen. Die Biegung überträgt die Schallwellen so, dass Sie Worte, die an einem Ende geflüstert werden, am anderen Ende deutlich verstehen.“

Sie lachte. „So steht es im Reiseführer. Aber nachprüfen konnte ich es noch nie.“

Endlich hatten seine Synapsen wieder Kontakt gefunden und arbeiteten präzise. ‚Aha, nicht von hier, aber schon mehrmals hier gewesen – und offenbar immer allein’, speicherten seine grauen Zellen in Windeseile ab. „Möchten Sie es ausprobieren?“

Ihre Augen funkelten kurz auf. “Gerne!“ Sie kletterte auf den Prellstein und lauschte erwartungsvoll.

Schmunzelnd stieg Gereon seinerseits auf den anderen. „Sie haben wunderschöne Augen.“ Er lauschte dem Schweigen am anderen Ende, dann klang ein leises „Danke“ zurück.

***

Befangen sprang Charly vom Prellstein herunter. Es war nicht das erste Mal, dass sie vor dem Flüsterbogen stand und es bedauerte, dass eine zweite Person für den Flüstertest fehlte. Sie hatte eine Belanglosigkeit erwartet, kein Kompliment.

Ihr Magen enthob sie der Gedanken über den weiteren Verlauf, indem er laut und vernehmlich knurrte.

„Hunger?“, drang seine Stimme an ihr Ohr und sie sah zu ihm auf. Seine Augen waren grün, ihr Ausdruck unergründlich.

„Ja“, antwortete sie. „Ich gehe zurück zum Hotel. Vielen Dank für … das Experiment.“ Sie nickte in Richtung Flüsterbogen.

„Gerne.“

***

‚Verdammt, ich bin zu früh, zu direkt gewesen. Das Kompliment hat sie irritiert. Kein Mädel, das sich von schönen Worten blenden und um den Finger wickeln lässt’, schalt er sich innerlich. „Wo ist Ihr Hotel?“, fragte er schnell, ehe sie sich abwenden konnte.

Ihr Blick, eben nur irritiert und nachdenklich, wurde schlagartig misstrauisch.

„Nicht, dass Sie sich wieder von mir verfolgt fühlen“, erlaubte er sich einen leichten, flirtigen Tonfall. Erleichtert sah er, wie sie sich entspannte und lächelte. Irgendwie sogar schelmisch.

„Neben der Kirche, ein paar Schritte die Straße rauf.“ Sie wies in die entsprechende Richtung.

„Da übernachte ich auch.“ Er konnte es kaum glauben. ‚Sie wohnt im selben Hotel?’

***

Charly musste sich zusammenreißen, um nicht zu lachen; das übermütige Grinsen konnte sie sich allerdings nicht verkneifen. Womit sie ihn noch mehr verwirrte. „Dann begleiten Sie mich doch. So bin ich vor jeglicher Verfolgung sicher.“

‚Und ich weiß, dass er Interesse an mir hat’, frohlockte sie.

Schweigend gingen sie nebeneinander den schmalen Gehsteig entlang. Verstohlen warf sie ihm ab und zu einen Blick zu. ‚Eigentlich wollte ich noch irgendwo essen. Ob ich ihn fragen soll?’

Da waren sie auch schon am Hotel angekommen, er hielt ihr die Tür auf und ließ sie eintreten. Sie fischte ihren Zimmerschlüssel aus der Jeans und ging zur Treppe.

***

Auf der zweiten Stufe drehte sie sich um.

„Darf ich Sie zum Essen einladen?“, setzte Gereon alles auf eine Karte und wies zum hoteleigenen Restaurant.

„Das wollte ich Sie auch gerade fragen“, antwortete sie trocken.

Er lachte. „Dann sind wir uns ja einig.“

Sie lächelte. „Ich ziehe mich nur eben um. Bin in zehn Minuten wieder hier.“

„Viertelstunde!“, rief er ihr nach und schritt seinerseits durch den Gewölbegang, um die hintere Treppe zu seinem Zimmer zu nehmen. Berlin war erfolgreich gewesen, die Fahrt entspannt und jetzt hatte ihm der Zufall sogar noch eine Verabredung beschert. ‚Nun gut, ich habe nachgeholfen.’

Trotzdem. Der Abend ließ sich gut an.

***

Knapp fünfzehn Minuten später stand er wieder am Fuß der Treppe, geduscht und das T-Shirt gegen ein Hemd getauscht. Er lauschte nach oben, alles still. ‚Dann schaue ich derweil auf die Speisekarte.’

Das Klappern von Absätzen auf den obersten Treppenstufen schreckte ihn aus seinem Lesestoff, der ihm den Mund wässrig gemacht hatte. Er blickte hoch und fühlte seine Kinnlade nach unten klappen. Mit etwas Mühe machte er den Mund zu und starrte wie hypnotisiert auf das Wesen, das, eine Hand leicht auf dem Geländer liegend, die Treppe herabstieg. In Jeans, Turnschuhen und der locker sitzenden Hemdbluse war sie attraktiv, jetzt … ‚Eine Göttin!’

Rote High Heels – ‚das sind mindestens zehn Zentimeter’ – dazu ein schulterfreies Sommerkleid, der obere Teil weiß, ab der Taille einzelne Blüten, der Rock eine prächtige bunte Sommerwiese. ‚Züchtig bis zu den Knien.’ Eine schöne Oberweite, die Taille so schmal, dass er meinte, sie mit beiden Händen umfassen zu können. ‚Ich werde es früher oder später ausprobieren’, versprach er sich selbst. ‚Lieber früher denn später. Tolle Beine’, schloss er seine Inventur ab. In seinem Kopf überschlugen sich Bilder, die nichts an Eindeutigkeit vermissen ließen. ‚Langsam’, ermahnte er sich.

Auf der untersten Stufe blieb sie stehen, fast Aug in Auge mit ihm. Er musste sogar etwas zu ihr aufsehen. ‚Komplett ungewohnt.’

„Wow!“, war das Einzige, was ihm einfiel, und er versuchte auch gar nicht, die Atemlosigkeit aus seiner Stimme herauszuhalten. „Sehr …“

Er hatte ‚sexy‘ sagen wollen, als ihm einfiel, dass sie sich kaum kannten, sich siezten und er noch nicht einmal ihren Namen wusste.

***

“Sexy?“, vervollständigte Charly nach einer kleinen Pause seinen angefangenen Satz.

Er hatte nicht gewagt, es auszusprechen, aber sie konnte es nicht lassen. Mochte er denken, dass sie leicht zu haben war. Sie würde ihm das Gegenteil beweisen.

Er schluckte. Nickte.

„Schön, dass es Ihnen gefällt. Ich habe nicht oft Gelegenheit, es auszuführen.“

Er hielt ihr die Tür zum Restaurant auf.

Sie wählte einen ruhigen Ecktisch und glitt auf die Bank.

Er nahm ihr gegenüber Platz.

Die Bedienung brachte ihnen die Karten und fragte auch gleich, wie die Rechnung ausgestellt werden solle. Ihre Antworten fielen gleichzeitig – und konträr.

„Ich weiß die Geste zu schätzen und freue mich über Ihre Gesellschaft,“, erklärte sie charmant lächelnd an ihn gewandt, „aber mein Essen bezahle ich selbst. - Getrennt“, bekräftigte sie bestimmt in Richtung der Bedienung und vertiefte sich in ihre Speisekarte.

***

Er musterte sie über den Rand der seinigen hinweg und wusste nicht, ob er sich ärgern oder amüsieren sollte. Er mochte selbstbewusste und unabhängige Frauen, die ihm auf Augenhöhe begegneten, aber er verwöhnte gern, und ein etwas altmodisches Rollenverständnis konnte er nicht leugnen. ‚Dazu gehört, dass ich im Restaurant die Rechnung übernehme.’

Da klappte sie die Karte zu, nahezu gleichzeitig stand die Bedienung neben ihm und sie sah ihn fragend an. Er nickte.

„Den kleinen Salat und ein Wasser, bitte.“

‚Typisch’, seufzte er innerlich. Er spürte seine Begeisterung in sich zusammensacken wie einen undichten Luftballon.

Sie sprach bereits weiter. „… Angus Rib Eye Steak, englisch …“

‚Ich habe mich verhört! Rib Eye? Englisch?’

Sie war noch nicht fertig. „… und die Crème brûlée. Bitte.“

‚Was?’ Er staunte sie an.

Sie klappte die Karte zu, nahm die Weinkarte und bestellte ein Glas des gleichen Rotweins, den er im Visier hatte.

„Gern. – Für Sie?“, fragte ihn die Bedienung.

***

„Was führt Sie nach Görlitz?“, fragte er, als seine Bestellung aufgegeben war. Dreist hatte er den Wein auf eine Flasche aufgerundet, die seiner Rechnung zuzufügen sei. Was sie kommentarlos akzeptierte. ‚Interessant.’

„Das Notwendige mit dem Angenehmen verbinden“, antwortete sie kryptisch, legte abwägend den Kopf schräg und fragte ihrerseits: „Kennen Sie ‚Mein Haus, mein Auto, meine Yacht’?“

„Wenn Sie auf die Fernsehwerbung anspielen, ja, auch wenn ich nicht weiß, wofür.“ ‚Worauf will sie hinaus?’, fragte er sich.

„Das weiß ich auch nicht mehr“, gab sie zu. „Es ist ein Spiel, das wir in unserer Clique spielen, wenn wir neue Leute kennenlernen. Ist lustiger, als sich auszufragen.“

„Sie gehen also davon aus, dass ich Sie ausfragen werde?“

„Sie haben schon angefangen!“, lachte sie ihn an.

‚Ertappt. Schon wieder’, dachte er unbehaglich. „Wenn es ein Spiel ist, gibt es Spielregeln?“, konzentrierte er sich auf sie.

Es gab nur zwei Bedingungen. Die Antwort musste der Wahrheit entsprechen. Ansonsten konnte sie als Foto, Schlagwort oder allgemeinverständliche Geste, hier hatte er sie noch intensiver beobachtet als sowieso schon, erfolgen. Das Thema wurde wechselseitig vorgegeben, aber es mussten beide ein Statement abgeben.

„Dann fangen Sie an“, forderte er sie auf.

„Mein Haus“, antwortete sie prompt.

Das Bild, das sie ihm auf ihrem Smartphone entgegenhielt, ließ keine Aussage über ihren Herkunftsort zu.

‚Ländlich, aber nichts, das ich regionaltypisch zuordnen kann. Marke, Modell und Zustand des Telefons sind da schon aufschlussreicher. Aktuell, gepflegt und – teuer.’

Sie betrachtete das Foto seines Hauses aufmerksam und stellte einige Fragen.

Dann war es an ihm. Er wählte statt des naheliegenden Autos Motorrad. Zum einen wollte er mit dem Porsche nicht mehr angeben als nötig, zum anderen interessierte ihn ihre Reaktion aufs Motorradfahren. Sein Foto zeigte hauptsächlich den Hinterreifen, nach einem Wochenende auf dem Nürburgring.

Ein unergründliches Lächeln umspielte ihre Mundwinkel und kräuselte ihre Lippen. „Sieht so aus, als sei ein neuer Reifen fällig.“

„Schon drauf“, antwortete er, lehnte sich zurück und versuchte, ihre Antwort einzuschätzen. ‚Sie kennt sich offenbar aus, gut genug jedenfalls, um einen abgefahrenen Reifen zu erkennen.’

Sie deutete ein Daumen hoch an und schien unschlüssig zu sein. „Wo war das?“, fragte sie.

‚Täuscht mein Eindruck, oder will sie von sich ablenken, Zeit gewinnen?’, überlegte er.

Sie nickte leicht abwesend zu seiner Antwort.

‚Als ob sie damit gerechnet hätte. Nun gut, so viele Rennstrecken gibt es in Deutschland nicht.’

Ihre Finger tippten auf dem Touchscreen. Dann sah sie ihm in die Augen und reichte ihm das Telefon. Das Bild zeigte eine kleine Enduro im Gelände, starrend vor Dreck, der Helm auf dem rechten Spiegel, der linke hing in unnatürlichem Winkel herunter, sie stand auf den Fußrasten und grinste breit in die Kamera. Da sie genauso dreckig war wie das Motorrad, musste sie es selber gefahren haben.

„Sieht so aus, als habe es Spaß gemacht.“

„Hat es“, gab sie knapp zurück. „Jedenfalls bis etwa zwei Sekunden nach dem Foto“, ergänzte sie mit einem eigenartigen Zug um die Mundwinkel. Halb lächelnd, halb ärgerlich.

„Wieso?“, erlaubte er sich ein halbes Schmunzeln.

„Dann bin ich mit dem Ding umgekippt.“ Widerwillig lächelte auch sie.

„Ich hätte Sie gern aufgehoben.“ Er sah ihr in die Augen, bis sie den Blick senkte. ‚Errötet sie? Es ist im gedämpften Licht nicht auszumachen.’

„Zweifellos“, antwortete sie mit einem frechen Zug um die Mundwinkel.

‚Wie schafft sie es, so cool zu bleiben?’, bewunderte er sie. „Fahren Sie öfter?“

„Wenn es sich anbietet“, wich sie aus.

‚Das Motorradfahren scheint ein heikles Thema zu sein.’ Er beschloss, es vorerst nicht weiter zu verfolgen.

„Mein Pferd“, fügte sie an und hielt ihm ein neues Bild hin. Es war ein winziges Pony, das frech unter einem Wust Schopfhaare in die Kamera blickte. Unwillkürlich musste er lachen. „Der Hund meines Kumpels ist größer.“

„Keine Kunst. Freddy hat grade mal zweiundsiebzig Zentimeter Stockmaß.“

„Was machen Sie mit ihm? Mit ins Bett nehmen?“ Er hob anzüglich grinsend eine Augenbraue.

„Der Job ist vergeben.“ Sie lächelte unschuldig zurück.

‚Wie soll ich das verstehen? Vor allem, drauf antworten?’, überlegte er.

Sie ließ ihn nicht aus den Augen, offenbar gespannt auf seine Reaktion.

„Oh, und an wen, sofern ich fragen darf?“

„Sie dürfen.“ Sie lachte jetzt richtig. Nahm ihm das Handy ab und hielt es ihm gleich darauf mit einem neuen Foto entgegen. Eine schwarze Katze mit riesigen grünen Augen. Er hob seinen Blick zu den ihren. ‚Blau.’

Sie hatte sich vorgebeugt, jetzt lehnte sie sich zurück und ihre Augen wurden im schummerigen Licht wieder dunkler und unbestimmbarer.

„Meine Wärmflasche. Amadeus“, erklärte sie. „Sie sind dran.“

„Ich fürchte, ich muss passen. Ich habe weder Pferd noch Katze. Auch keine Wärmflasche.“ Er ließ seine Stimme ein paar Töne tiefer wandern. „Auch sonst niemanden zum Wärmen.“

Die Härchen auf ihren Armen hoben sich, beobachtete er mit Genugtuung. Aber sie hatte sich gut im Griff; ihre Antwort war leicht, unbeschwert, wenn auch flirtig. „Was nicht ist, kann noch werden.“

‚Oha, ist das ein Angebot?’ Die Ankunft der Bedienung enthob ihn einer sofortigen Reaktion. Die Atempause war bitter nötig. Das Mädel verwirrte ihn schneller, als er es je von einer Frau für möglich gehalten hätte.

***

Die Vorspeise wurde serviert. Charly atmete langsam aus.

‚Ruhig!’, ermahnte sie sich. ‚Übertreibe es nicht.’ Sie konzentrierte sich auf ihr Essen, warf ihm nur gelegentlich einen verstohlenen Blick zu. Ihre Gedanken rasten.

‚Was ist ein unverfängliches Thema? Bei diesem Tempo werde ich morgen allen guten Vorsätzen zum Trotz im falschen Zimmer aufwachen.’

‚Ich habe einen leichten Vorteil’, überlegte sie. ‚Immerhin weiß ich, wer er ist. Er dagegen bringt mich sehr wahrscheinlich nicht mit der Motorradfahrerin von der Ampel vor einigen Wochen in Verbindung. Auf meine Kollegen ist Verlass; die haben nichts verraten, obwohl er sich zum Richtfest nach meinem Bus erkundigt hat, wie Sepp berichtete. Ob er den Bogen dahin schlägt, wenn ich meinen Beruf offenbare?’

„Womit verdienen Sie Ihre Brötchen?“, fragte sie unvermittelt.

***

Er konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. ‚Sie will beeindrucken. Und nicht viel preisgeben. Was mich betrifft, so hat sie diese Ziele bisher übertroffen. Ihre Antworten haben mehr Rätsel aufgeworfen, als sie gelöst haben. Ihre letzte Frage allerdings verrät mir mehr, als ihr vermutlich lieb ist. Sie ist also doch nicht so cool, wie sie vorgibt.’ Er schob ihr sein Handy hin. „Mein Schreibtisch.“

Sie studierte das Bild auf dem Display und ließ sich Zeit. „Ist das ein Modell der Dresdner Frauenkirche?“

Erstaunt betrachtete er sie. Das Modell war auf dem Bild nur sehr verschwommen im Hintergrund zu sehen, noch dazu war es angeschnitten und es zeigte nur etwa ein Drittel davon. Ihr erwartungsvoller Blick erinnerte ihn, dass er noch nicht geantwortet hatte und er nickte.

„Dann tippe ich auf Architekt.“ Sie sah ihn fragend an.

„Stimmt“, fing er sich rechtzeitig. „Und Sie?“

Das Bild, das sie ihm reichte, ließ nicht viel Aussage zu. Ein atemberaubender Blick über eine waldreiche, trotzdem abwechslungsreiche Hügellandschaft, die ihm vage bekannt vorkam. „Offensichtlich kein Bürojob.“

„Blättern Sie eines weiter. Das ist zwar älter und woanders, aber aussagekräftiger.“ Ihre Stimme klang amüsiert.

Es war ein beeindruckendes Foto. Ein dramatischer Wolkenhimmel, darunter hohe, schneebedeckte Berge, davor ein See. Ganz im Vordergrund war ein kleiner Teil eines Dachfirstes im Rohbau zu sehen – und sie in Zimmermannskluft, die darauf stand und sich zum Fotografen umwandte.

„Wie hoch war das?“ Er merkte selbst, dass er sich aggressiv anhörte.

„Zehn, zwölf Meter. Noch nichts, wo ich Herzklopfen bekomme.“ Ihre Antwort war spielerisch leicht, enthielt aber einen warnenden Funken.

‚Reiß dich zusammen!’ Er schluckte den Kommentar, der ihm auf der Zunge lag, hinunter und wechselte abrupt das Thema. „Womit verbringen Sie Ihre Freizeit?“ Er konnte nicht verhindern, dass auch aus dieser Frage eine gewisse Schärfe klang.

„Es wird Ihnen nicht gefallen“, verhieß sie ihm.

Er sah auf das Foto und spürte sein Herz stolpern. Es war ein Fallbild beim Klettern. ‚Vorstieg. Pendelsturz.’ Er lehnte sich tief durchatmend zurück. „Sie haben recht. Es gefällt mir nicht. Aber da sind Sie wenigstens gesichert. – Im Übrigen ein Hobby, das wir teilen.“

Sein Foto ließ keine Fragen zu seinem muskulösen Oberkörper offen. Sie betrachtete es unter gesenkten Lidern.

‚Schau mich an, Kleine. Ich will wissen, wie dir gefällt, was du siehst!’ Leider tat sie ihm diesen Gefallen nicht.

„Sächsische Schweiz?“, fragte sie.

„Fränkische“, korrigierte er.

Während des Hauptganges blieben sie zunächst beim Bergthema und schweiften später zu verschiedenen Ausflugs- und Urlaubszielen Deutschlands und deren Besonderheiten ab.

***

„Sie sind viel unterwegs“, stellte er zusammenfassend fest.

„An den Wochenenden. Unter der Woche, eher lazybones“, antwortete sie.

„Wie darf ich mir das vorstellen?“ Diesmal verhinderte er nicht, dass seine Stimme einen verführerischen Singsang annahm.

„Hmm“, wurde auch ihre Stimme dunkler. „Decke, Buch, Wein, Kater, Feuer. – Und Schokolade“, fügte sie hinzu. „Und selbst?“

Er imitierte ein gelangweiltes Lümmeln und Zappen im Sekundentakt.

Sie lachten gemeinsam.

***

Sie genoss ihr Dessert sichtlich.

Er genoss es, ihr dabei zuzusehen.

„Waren Sie schon im Jugendstil-Kaufhaus?“, fragte sie plötzlich.

Überrascht schüttelte er den Kopf.

„Möchten Sie rein?“

„Würde ich gerne“, zuckte er die Schultern. „Geht aber nicht.“

„Was haben Sie morgen vor?“, fragte sie unbeirrt weiter.

„Nichts Konkretes.“ – ‚Worauf will sie hinaus?’, wunderte er sich.

„Vielleicht kann ich was arrangieren. Etwa am frühen Nachmittag.“ Sie pausierte kurz und ihre stahlblauen Augen fixierten ihn über ihren Löffel hinweg. „Sofern Sie eine Handynummer für mich haben.“

‚Und ich grübele die ganze Zeit, wie ich an ihre Nummer komme, ohne plump zu fragen. Raffiniert, das Mädel.’ Er reichte ihr seine Visitenkarte. „Ich freue mich darauf.“

***

Die Tür des Hotels stand offen und sie trat aufatmend in den milden Frühsommerabend hinaus.

„Ich mache noch einen Spaziergang zur Kirche.“

„Darin?“ Zweifelnd nickte er in Richtung ihrer High Heels und zog die Augenbrauen hoch.

„Natürlich.“ Anmutig schritt sie über die großen Pflastersteine aufs Kirchenportal zu.

‚Atemberaubend. Ihre Silhouette: perfekt.’ Seine Gedanken begannen sich damit zu beschäftigen, was sie wohl darunter tragen mochte.

Ohne viel zu sprechen, umrundeten sie die Kirche halb. Eine Mauer begrenzte den Kirchhof zum Fluss hin. An deren Innenseite verlief eine Erhöhung. Sie stieg die Stufen hinauf, legte eine Hand auf die Mauerkrone, blickte auf den Fluss hinunter und folgte weiter dem Verlauf der Mauer.

„Ich liebe den Ausblick von hier oben“, hörte er sie sagen.

Er brummte etwas Unverständliches. Er war viel zu sehr mit ihrem Anblick und dem, was seine Phantasie daraus machte, beschäftigt. ‚Entweder trägt sie etwas drunter, das weder einschneidet noch aufträgt, oder …’

Jetzt blieb sie stehen und lehnte sich über die Mauer. Zentimeter für Zentimeter glitt der Saum ihres Rockes höher, wenn auch nur bis auf halbe Höhe der Oberschenkel.

‚Macht sie das absichtlich?’ Er sah sich um. Sie waren allein. ‚Wie sie sich wohl anfühlen mag, bewegungsunfähig zwischen Mauer und mir …’ Er würgte den Gedankengang ab.

Sie trat auf die Stufen zu und er hob die Hand, um ihr Unterstützung anzubieten. Entschied sich anders, umfasste ihre Taille und hob sie kurzerhand von dem Podest herunter. Sie fiepste kurz, ein erschrockener, atemloser Ton, und er ließ sie sofort, nachdem er sie vorsichtig auf die Füße gestellt hatte, los. Sie deutete einen Knicks an und wandte sich zurück zum Hotel.

***

„Ich begleite Sie zu Ihrem Zimmer“, erklärte Gereon entschieden, als sie das Hotel betraten. „Ich möchte sichergehen, dass Sie unbeschadet da ankommen.“ Unmissverständlich besitzergreifend legte sich seine Hand auf ihre Taille und sein herausfordernder Blick streifte zwei nicht mehr ganz junge Herren, die sie seinem Empfinden nach kalkulierend betrachteten, während sie die Bar ansteuerten.

Sie war seinem Blick gefolgt und akzeptierte sein Ansinnen ohne Widerspruch, wenn auch mit irritiertem Schnauben.

***

Charly drehte den Schlüssel im Schloss und öffnete die Tür. Im Grunde war es egal, was sie tat. Sie würde es bereuen, so oder so. „Danke für den interessanten Abend.“ Sie sah zu ihm auf.

***

Seine Hände senkten sich auf ihre Hüften, seine Lippen auf die ihren. Er küsste sie leidenschaftlich, seine rechte Hand wanderte über ihren Rücken in ihren Nacken, er presste sie fest an sich. Halbherzig abwehrend lagen ihre Hände auf seiner Brust, aber sie verharrte in seiner Umarmung.

Er drängte sie in Richtung ihres Zimmers, schob die Tür weiter auf. Sie suchte Halt am Türrahmen. Plötzlich verstärkte sich der Druck ihrer Hände auf seiner Brust deutlich, sie schob ihn von sich, war mit einem atemlosen „Gute Nacht!“ durch den Türspalt geschlüpft und hatte ihm die Tür vor der Nase zugeschlagen, ehe er sie daran hindern konnte.

Verdattert stand er noch einen langen Moment dort, dann schritt er weit ausgreifend zu seinem Zimmer, ließ die Tür unsanft hinter sich ins Schloss fallen und riss sich die Kleidung vom Körper. Sekunden später stand er unter der Dusche und lehnte kurz darauf zitternd die Stirn gegen die Fliesen. Atmete tief und stellte die Temperatur auf eiskalt.

Charlys Sommer

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