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3 - Der Brief

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Der Vormittag verlief schleppend.

Kim blieb weiterhin sehr wortkarg, daran hatten auch die frischen Brötchen nicht viel geändert.

Irgendwann, fast gegen Mittag, fragte sie: »Hast du dir schon einmal überlegt, wo wir ab übernächsten Monat wohnen sollen? Oder hast du vergessen, dass wir hier bald raus sein müssen?«

»Vergessen? Wie kann ich das vergessen! Jean erinnert mich fast täglich daran, dass seine Eltern bald wieder von ihrer Weltreise zurück sind.« Er nagte auf seiner Unterlippe herum.

Jetzt kommt sie mir doch tatsächlich, mit noch so einem unbequemen Thema.

»Ich habe Zeitungsanzeigen über Zeitungsanzeigen durchgeblättert.« Kopfschüttelnd, fuhr er fort: »Nichts Brauchbares für uns dabei. Nicht eine Wohnung, gleich, wo ich auch nachgesehen habe. Die einen sind zu teuer, die anderen zu weit weg. Was also, Kim, soll ich, deiner Meinung nach, tun? Wie wäre es, wenn auch du einmal zur Abwechslung nach einer neuen Bleibe für uns suchen würdest?«

»Als wenn ich das nicht täte! Aber ich kann nicht jeden Tag im Lokal aushelfen und gleichzeitig auf der Suche nach einer Wohnung sein. Du, Quentin, du hast den ganzen Tag Zeit dafür, folglich, tu' auch etwas!« Kim warf ihm einen zornigen Blick zu, ihre Augen funkelten wütend.

Gerade, als Quentin etwas erwidern wollte, klingelte es an der Tür.

»Ging Gong! Was für ein Glück für dich. Wirst mal wieder gerettet«, fauchte sie und zündete sich eine Zigarette an, während Quentin achselzuckend zur Tür lief.

Als wenn er etwas dafür konnte, dass es ausgerechnet gerade jetzt klingelte.

Kim konnte nicht verstehen, was an der Tür gesprochen wurde, so stand sie auf und sah aus dem Fenster. Doch das Erste, was sie sah, war der alte verbeulte Leichenwagen, und damit sank ihre Laune auch sogleich wieder auf den Nullpunkt.

Abrupt drehte sie sich um und spähte zur Küchentür hinaus. Sie sah gerade noch, wie sich ihr Verlobter mit Handschlag von einem Mann verabschiedete.

Ihre Augenbrauen bogen sich nach oben, und sie sah Quentin fragend an.

»Was ist? Ein Brief von Jeans Eltern? Kommen sie früher zurück? Das fehlte noch«, brummte sie.

»Nein, nicht von Jeans Eltern. Ist von einer Großtante von mir, die ich seit einem halben Leben nicht mehr gesehen habe.« Quentin hielt ihr den Brief entgegen.

Kim legte den Kopf schief und las. »Ist deine Tante Anwältin?«

»Großtante, Kim, nicht Tante, Großtante. Nein, das ist ein Schreiben von ihrem Anwalt. Der Mann, der den Brief gebracht hat, er arbeitet für ihn.«

»Was will sie? Hat der Mann das auch gesagt?«

»Kim, was wird jemand schon wollen, wenn Post vom Anwalt kommt? Sie ist gestorben, und ich soll anscheinend ihr Erbe sein. Obwohl ich das gar nicht verstehe. Es ist so lange her, seit ich sie das letzte Mal gesehen habe, dass ich mich gar nicht mehr an sie erinnern kann.«

»Dann öffne doch endlich den Brief, Quentin. Los, lies, was sie von dir will. Gewollt hat«, verbesserte sie sich.

Quentin lief ins großflächige Wohnzimmer und suchte in der untersten Lade des antiken Sekretärs nach einem Brieföffner. Nachdem er ihn gefunden hatte, durchtrennte er mit einem einzigen Schnitt den obersten Kuvertrand.

Langsam zog er die Seiten heraus. Sie dufteten nach Lavendel.

Lavendel! Oh ja, dieser Geruch brachte Erinnerungen mit sich. Aber nicht an Tante Evelyn, sondern an ihr weißes, stets gestärktes Stofftaschentuch, das von Spitzen umsäumt und in Lavendel getränkt gewesen war.

Quentin faltete den Brief auseinander und begann zu lesen, während Kim sich neugierig hinter ihn stellte und ebenfalls mitzulesen versuchte.

Mein lieber Quentin,

es ist lange her, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben.

Auch wenn ich nie verstanden habe, weshalb du nicht mehr gekommen bist, so habe ich es respektiert. Ich weiß, dass du immer sehr viel zu tun, auch immer für die Schule und deine Prüfungen gebüffelt hast, aber dennoch hättest du dich, wenigstens in den Semesterferien, hin und wieder, bei mir sehen lassen können.

Doch dieser Brief soll kein Vorwurf an dich sein, nein, Gott bewahre, und den brauche ich derzeit so dringend, den lieben Gott, meine ich.

Wie du weißt, habe ich dich immer sehr lieb gehabt. Habe mich immer für dich und dein Leben interessiert, auch wenn es deiner Mutter nicht gefallen hat.

Sie und ich, wir hatten einfach eine ganz unterschiedliche Art, zu leben. Und manche von den Dingen, die zu meinem Alltag gehörten, an die ich glaube, waren stellenweise Dinge, die deine Mutter verpönte, und das war wahrscheinlich auch der Grund, weshalb sie nicht wollte, dass du mich weiterhin besuchen kommst.

Gut, leider bist du ihrem Ruf gefolgt.

Schade, denn ich hätte dich so gerne noch einmal gesehen.

Aber Dinge sind, wie sie sind, und man kann die Zeit nicht zurückdrehen, ungenutzte Möglichkeiten nicht neu nutzen, noch bekommt man die Chance, sie nochmals in die Gegenwart zu bringen. Leider.

Doch Schluss mit diesem Blablabla.

Ich habe nur noch wenig Zeit und sollte sie nicht damit vergeuden, indem ich in Vergangenem wandle.

Für mich ist es an der Zeit, mich von der Welt zu verabschieden. Allerdings nicht für immer, wenn alles so kommen wird, wie ich glaube, dass es geschehen kann. Was ich damit sagen will, das wirst du mit Sicherheit bald erfahren.

Da mir niemand, außer dir, einfällt, dem ich mein geliebtes Haus vererben will, möchte ich, dass du mein Erbe, der Erbe meiner weltlichen Güter sein sollst.

Wenn dir dieser Brief überbracht werden wird, habe ich schon das Zeitliche gesegnet.

Hätte ich nochmals die Chance, ich würde zu dir gekommen sein, wenn du schon nicht den Weg zu mir finden konntest.

Doch diese Chance haben wir wohl beide vertan.

So bleibt mir nichts anderes übrig, als dir eine gute, zufriedene und glückliche Zukunft zu wünschen.

Wenn du mein Haus siehst, urteile nicht gleich nach dem ersten Eindruck, denn es ist ein sehr besonderes Haus und hat seinen eigenen Charme. Es ist so besonders, wie ich, sicherlich, auch immer irgendwie, auf die eine oder andere Art, besonders, vielleicht etwas anders, gewesen bin.

Etwas anders als die anderen, eben ich.

Es wird bestimmt nicht lange dauern, bis auch du seinem Charme, dem Charme des Hauses, erliegen und das Besondere, das es umgibt, in ihm wohnt, kennen lernen wirst.

Gleich, auf welche Art du dies Besondere erkennen wirst, Quentin, so sei auch gewiss, dass nicht immer alles ist, wie es zu sein scheint.

Du musst durch Dinge hindurchsehen, musst heraushören lernen, wann die Lüge im Raum steht, oder aber die Wahrheit gesagt wird.

Ich wünsche mir, dass dir dies gelingen wird. Dass du erkennen wirst, wer du bist, und welche Gabe dir in die Wiege gelegt worden ist, auch wenn deine Mom dies immer leugnete und vor der Wahrheit die Augen verschloss.

Viel Glück, Quentin, sehr viel Glück, und Einsicht, auf deinem neuen Lebensweg.

In Liebe

Tante Evelyn

Cemetery Car®

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