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1 Der Zusammenprall dreier Kulturen am Rande der atlantischen Welt

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Die Kolonialgeschichte gehört zweifellos zu den Epochen, deren wertende Darstellung von Historikern und Publizisten am gründlichsten überprüft und – begleitet von heftigen Debatten – am stärksten revidiert worden ist. Anfangs wurde sie fast ausschließlich aus europäischer Perspektive und mehr oder weniger in der Form eines Heldenepos erzählt, das die Entdeckung und Erschließung eines „jungfräulichen“ Kontinents durch tapfere Seefahrer und Siedler verherrlicht. Die Kritik an diesem „Eurozentrismus“ hat eine Verlagerung des Interesses und der Sympathien hin zu den Leidtragenden des epochalen Geschehens bewirkt, den indianischen Ureinwohnern und den versklavten African Americans, die bis in die 1980er Jahre meist nur am Rande der historischen Betrachtung auftauchten. Es bleibt zwar unbestritten, dass sich die „weiße“ Kultur durchsetzte, aber man fragt heute doch viel bohrender als früher nach den Schattenseiten und Kosten dieses Erfolges, und man versucht zugleich, auch die langfristigen Wirkungen zu ergründen, die der Zusammenprall und die Interaktion von indianischer, europäischer und afrikanischer Kultur in Nordamerika zeitigten.

Am härtesten traf es die Ureinwohner, die den aus Europa und AfrikaAfrika eingeschleppten Krankheitserregern hilflos ausgeliefert waren und deren Ethnien oft schon nach den ersten Kontakten durch Seuchen dezimiert und später durch Kriege, Vertreibungen, Hungersnöte und Alkoholismus immer mehr geschwächt und nicht selten ganz vernichtet wurden. Die Beziehungen zu den vordringenden Siedlern waren uneinheitlich und wechselhaft: Sie reichten von friedlichem Handel und temporären Bündnissen gegen gemeinsame Feinde bis zu gegenseitigen Terror- und Ausrottungskampagnen, die von den Weißen häufig grausamer, vor allem aber „effizienter“ durchgeführt wurden. An der englischenGroßbritannien Siedlungsgrenze (FrontierFrontier), wo der „Landhunger“ am größten war, hatten gelegentliche Missionierungs- und Zivilisierungsversuche noch weniger Erfolg als im französischenFrankreichKolonien oder spanischenSpanien Einflussbereich. Hier nahm während der Kolonialzeit ein Teil der demographischen Katastrophe ihren Lauf, zu der sich die „Entdeckung“ Amerikas für die Ureinwohner des Kontinents entwickelte. Die BevölkerungszahlenBevölkerungsentwicklung können nur geschätzt werden, aber sie sind in den letzten dreißig Jahren von der Forschung deutlich nach oben revidiert worden. 1965 ging man noch davon aus, dass zur Zeit des KolumbusKolumbus, Christoph auf dem Gebiet der heutigen USA und KanadasKanada zwischen 900.000 und 1,5 Millionen Ureinwohner lebten. Inzwischen variieren die Schätzungen zwischen 5 und 12,5 Millionen, wobei die Mehrheit der Wissenschaftler 6 bis 7 Millionen als realistisch betrachtet. Ähnlich verhält es sich mit Untersuchungen zur indianischen Gesamtbevölkerung Nord- und Südamerikas um 1490, die neuerdings auf 45 bis 60 Millionen beziffert wird. Als die englische Kolonisation im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts begann, waren die großen Indianerreiche Südamerikas bereits zerstört und die Bewohner der KaribikinselnKaribik weitgehend ausgerottet. Die indianischen Kulturen im MississippiMississippi (Fluss)-Tal hatten ihren Höhepunkt offenbar schon um 1350 überschritten, aber der rapide demographische Niedergang setzte auch hier erst mit der europäischen Kolonisierung ein. Als „Faustregel“ gilt, dass sich die Zahl der Native AmericansNative AmericansKolonialzeit innerhalb von hundert Jahren nach dem ersten Kontakt mit Europäern um etwa 90 Prozent verringerte. Lebten beispielsweise um 1570, zur Zeit der frühesten englischenGroßbritannien Siedlungsversuche an der Festlandsküste, östlich des MississippiMississippi (Fluss) 3 Millionen IndianerIndianer, so waren es 1670 gerade noch 300.000. Im südlichen NeuenglandNeuengland (s.a. Nordosten, Regionen) schrumpfte die Zahl der Ureinwohner im selben Zeitraum von ca. 120.000 auf 12.000. Hier trafen die PuritanerPuritaner auf eine indianische BevölkerungBevölkerungsentwicklung, die durch von Entdeckungsreisenden und Abenteurern eingeschleppte Krankheitserreger so sehr geschwächt war, dass sie kaum noch Widerstand leisten konnte. Als sich der Stamm der PequotsPequots im ConnecticutConnecticut-Tal 1637 dennoch gegen die weiße Landnahme zur Wehr setzte, töteten puritanische Milizen und verbündete IndianerNative AmericansKolonialzeit etwa 500 Männer, Frauen und Kinder und verkauften viele Überlebende als Sklaven auf die KaribikinselnKaribik. Dieses brutale Vorgehen wurde mit dem Hinweis auf die „Sündhaftigkeit“ der „Wilden“ und einem aus der Bibel abgeleiteten Anspruch auf „ungenutztes“ Land gerechtfertigt. Die Geistlichen deuteten die militärischen Erfolge ebenso wie das Massensterben der IndianerNative AmericansKolonialzeit an Pocken oder anderen Epidemien als Fingerzeig Gottes, dass die Wildnis für das „auserwählte Volk“ der Puritaner vorbestimmt sei.


Abb. 1: Das Dorf Pomeiock, ca. 1590

Ähnliche Folgen zeitigte das Zusammentreffen von Europäern und Native AmericansNative AmericansKolonialzeit in der südlicher gelegenen ChesapeakeChesapeake-Region, obwohl es den Siedlern der VirginiaVirginia Company ohne die anfängliche Unterstützung durch den Häuptling PowhatanPowhatan und dessen Tochter PocahontasPocahontas kaum gelungen wäre, dauerhaft Fuß zu fassen. Ein indianischer Aufstand im Jahr 1622 diente dazu, die systematische Bekämpfung und Dezimierung der einheimischen Stämme zu rechtfertigen. Das Bild des „edlen Wilden“, das in Europa von den Befürwortern der Kolonisierung propagiert wurde und das viele Engländer mit nach Amerika brachten, schlug innerhalb weniger Jahre in ein aggressives Feindbild um. Dabei schrieben die Siedler den IndianernNative AmericansKolonialzeit häufig negative Eigenschaften wie Grausamkeit, Heimtücke und Habgier zu, die sie selbst in ihrem Verhalten gegen die Ureinwohner an den Tag legten. Die Zerstörung der indianischen Stammeskulturen konnte nicht ohne negative moralische Rückwirkungen auf die kolonialen Gemeinschaften selbst bleiben, die doch in vieler Hinsicht – etwa durch die Übernahme der NutzpflanzenLandwirtschaftKolonialzeit u. Revolutionsepoche Mais und Tabak – von den Native Americans profitiert hatten.


Karte 1: Die Indianerkulturen Nordamerikas

Als mindestens ebenso schwere und anhaltende, bis in die Gegenwart fortdauernde Belastung sollte sich die Versklavung von AfrikanernAfroamerikanerAfrika erweisen, die auf dem nordamerikanischen Kontinent in nennenswertem Ausmaß erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts begann. Die Schwarzen, die ab 1619 nach VirginiaVirginia gebracht wurden, waren rechtlich zunächst nicht wesentlich schlechter gestellt als die weißen Knechte (indentured servantsindentured servants), die über eine bestimmte Zahl von Jahren die Kosten ihrer Schiffspassage abdienen mussten. Einige AfrikanerAfroamerikanerAfrika erlangten sogar, zumeist wohl als Belohnung für ihren Übertritt zum Christentum, die völlige Freiheit. Sexuelle Kontakte von Schwarzen und Weißen und sogar Mischehen waren keine Seltenheit, obwohl für solches Verhalten Kirchenstrafen und (im Fall der AfrikanerAfroamerikaner) Peitschenhiebe drohten. Seit den 1660er Jahren wurde der Status der Schwarzen jedoch durch Gerichtsurteile und auf gesetzlichem Wege immer mehr verschlechtert, bis sich zu Beginn des 18. Jahrhunderts das Konzept der chattel slavery fest etablierte, das die AfrikanerAfroamerikanerKolonialzeitAfrika zu „beweglichem Besitz“ (personal property) und zur Ware degradierte. Hierbei handelte es sich um die einzige gravierende Abweichung vom englischenGroßbritannien common lawCommon Law, denn die Institution der chattel slavery existierte nicht im Mutterland, sondern wurde von den KaribikinselnKaribik übernommen.

Die schrittweise Einführung der SklavereiSklaverei (s.a. Afroamerikaner) auf dem nordamerikanischen Festland muss im größeren Zusammenhang eines Systems der Zwangsarbeit gesehen werden, mit dem die europäischen Mächte (SpanienSpanien, PortugalPortugal, NiederlandeNiederlande, Frankreich, EnglandGroßbritannienSklavenhandel) seit dem 16. Jahrhundert die gesamte „Neue Welt“ überzogen. Von der Mitte des 17. Jahrhunderts an setzten sich die EngländerGroßbritannienKolonialreich immer erfolgreicher gegen ihre Konkurrenten durch und legten mit dem Kolonial- und Sklavenhandel den Grundstein für den wirtschaftlichen Aufschwung GroßbritanniensGroßbritannienKolonialreich. Im Vergleich zu den Zuckerinseln in der KaribikKaribik wie etwa BarbadosBarbados und JamaicaJamaica, auf denen eine regelrechte „Vernichtung durch Arbeit“ praktiziert wurde, mutet das Schicksal der SklavenAfroamerikanerKolonialzeit in den Festlandskolonien noch einigermaßen erträglich an. Während die hohe Todesrate auf den Inseln nur durch ständige Neuzufuhr aus AfrikaAfrika ausgeglichen werden konnte, nahm die Sklavenbevölkerung in der ChesapeakeChesapeake-Region ab 1720 auf natürliche Weise zu. Weiter südlich, in den malariaverseuchten Reisanbaugebieten South CarolinasSouth Carolina, herrschten härtere Bedingungen, und die Lebenserwartung war entsprechend geringer. Dabei wäre den Weißen die Kultivierung von Reis (und später auch Indigo) ohne die Erfahrung und die Hilfe der AfrikanerAfroamerikanerKolonialzeit gar nicht gelungen. South CarolinaSouth Carolina entsprach auch insofern am ehesten den Zuckerkolonien, als hier schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts die Zahl der Sklaven diejenige der weißen Pflanzer und Farmer überstieg. Immer mehr Plantagenbesitzer zogen sich nach Art der spanischenSpanien und englischenGroßbritannien absentee landowners in Städte wie CharlestonCharleston, South Carolina und SavannahSavannah, Georgia zurück und überließen die unmittelbare Kontrolle ihren Verwaltern und Sklavenaufsehern.

Obgleich Nordamerika nur etwa 5 Prozent der fast 11 Millionen in die westliche Hemisphäre verschleppten AfrikanerAfroamerikanerBevölkerungsentwicklungAfroamerikanerKolonialzeit aufnahm, handelte es sich doch um weit mehr als nur ein Rinnsal im großen EinwandererstromEinwanderungKolonialzeit. Bis zum UnabhängigkeitskriegUnabhängigkeitskrieg gelangten ca. 300.000 Sklaven als unfreiwillige Immigranten auf das nordamerikanische Festland, gegenüber ca. 500.000 Europäern, die als freie Einwanderer, indentured servantsindentured servants oder Sträflinge (convicts) kamen. Um 1770 lebten (bei einer Gesamteinwohnerzahl von 3 Millionen) etwa 500.000 SklavenBevölkerungsentwicklung in den dreizehn Kolonien, die sich zu den Vereinigten Staaten von Amerika zusammenschlossen. Sie machten ein gutes Drittel der Bevölkerung der südlichen Kolonien aus, deren WirtschaftssystemWirtschaft zu dieser Zeit bereits ganz auf der Ausbeutung von Sklavenarbeit beruhte.

Die ökonomischen Vorteile, die dieses extreme Herr-Knecht-Verhältnis den Weißen einbrachte, mussten mit moralischen und psychologischen Schäden erkauft werden. Niemand erkannte besser als Thomas JeffersonJefferson, Thomas, selbst ein Sklavenhalter, wie tief sich dieses Übel bereits in das Bewusstsein der Menschen eingefressen hatte: In seinen Notes on the State of VirginiaNotes on the State of Virginia (1786) beklagte er 1786, die SklavereiSklaverei (s.a. Afroamerikaner) gebe weißen Herren und schwarzen Knechten täglichen Anschauungsunterricht „in den ungezügeltsten Leidenschaften, im schlimmsten Despotismus auf der einen und in herabwürdigender Unterwerfung auf der anderen Seite“. Andererseits konnte sich der liberale Aufklärer JeffersonJefferson, Thomas aber ebenso wenig wie die meisten seiner weißen Landsleute vom Vorurteil einer „natürlichen Minderwertigkeit“ der schwarzen Rasse befreien. Die Sklavengesetze (slave codes) der Kolonien sahen bereits für geringe Übertretungen grausame Strafen vor, um Fluchtversuche zu unterbinden und individuellen oder kollektiven Widerstand im Keim zu ersticken. Im Unterschied zu den amerikanischen Ureinwohnern war die schwarze Bevölkerung nicht in ihrer physischen Existenz bedroht, sondern „nur“ zu extremer Anpassung gezwungen. In den nördlichen Kolonien, wo – mit Ausnahme von New YorkNew York – die Zahl der Schwarzen relativ gering blieb, vollzog sich diese erzwungene Abkehr von den afrikanischenAfrika Wurzeln schneller als in den Gebieten südlich von PennsylvaniaPennsylvania. Dort entwickelten sich im Laufe des 18. Jahrhunderts eigenständige Kommunikationsformen und Lebensweisen sowie Ansätze einer afroamerikanischenAfroamerikanerKultur Kultur. In South CarolinaSouth Carolina und GeorgiaGeorgia schufen Schwarze aus verschiedenen Teilen AfrikasAfrika die Sklavensprache GullahAfroamerikanerKulturGullah, und auf den Reispflanzungen konnten sich die in großen Gruppen zusammenlebenden Sklaven eine gewisse Autonomie bewahren. Dagegen verschmolzen in VirginiaVirginia, MarylandMaryland und DelawareDelaware, wo Weiße und Schwarze auf Tabakplantagen oder Familienfarmen in engen Kontakt kamen, europäische und afrikanischeAfrika Bräuche, Techniken und Denk- und Verhaltensweisen am ehesten zu neuen Lebensformen. Trotz der gesetzlichen Verbote fand auch – meist als Folge sexueller Ausbeutung von Sklavinnen durch ihre weißen Herren – eine Rassenvermischung statt. Von einer gegenseitigen kulturellen Bereicherung konnte im Zeichen der SklavereiSklaverei (s.a. Afroamerikaner) aber kaum die Rede sein. Der großen Mehrzahl der weißen Siedler war der Preis für das Überleben und die Entwicklung der Kolonien – die Verdrängung der Ureinwohner und die Unterdrückung der AfrikanerAfroamerikanerKolonialzeitAfrika – nicht zu hoch. Die positiven Möglichkeiten, die das Zusammentreffen dreier Kulturen in sich barg, blieben damit weitgehend ungenutzt.

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