Читать книгу Schrei nach Stille - Anne Chaplet - Страница 11
4
ОглавлениеPaul Bremer stand vor seinem Haus und blinzelte in die Morgensonne. Der Tag nach dem Sturm begrüßte ihn mit einem leergeräumten Himmel und einer Horde aufgekratzter Meisen im sauber gekämmten Apfelbaum. Der Wind, der die verblühenden Schneeglöckchen striegelte, war noch kühl, aber es roch schon nach aufbrechender Erde und strotzenden Knospen. Nemax und Birdie strichen mit vibrierenden Schwänzen um seine Beine, sie schienen sich nicht sicher zu sein, ob dies ein Tag auf dem Sofa oder der Heizung werden würde oder ob man einen Ausflug in die Flußaue wagen konnte, in der Hoffnung auf frühlingsbesoffene Mäuse.
Aus dem Fenster im Nachbarhaus hingen Bettvorleger und Plumeaus zum Lüften. Gottfrieds Hähne verkündeten mit einer Inbrunst den Tagesanbruch, als ob sie ihn gerade erst erfunden hätten, und aus dem Stall auf der anderen Straßenseite drangen markerschütternde Schreie. Arme Schweine, Kohldampf schiebend. Oder, wie Bremer manchmal fürchtete, muskelbepackte Eber voller Freiheitsdurst und Rachsucht. Der schwarze Kater von nebenan trabte vorbei und maunzte klagend. Nemax zu Bremers Füßen gab ein tiefes Grollen von sich und machte einen Buckel.
Vom Friedhofsweg her hörte man das Nörgeln einer Kreissäge. Um diese Jahreszeit zerkleinerte immer jemand Holz. Ein paar Wochen später schon erweiterte sich das Programm: Dann würden auf jedem Grasfleckchen die Rasenmäher quengeln. Und im Sommer, beim Einsatz des schweren Erntegeräts, spielte alles zusammen in der großen Sinfonie des Landlebens.
Bremer reckte sich den kräftiger werdenden Sonnenstrahlen entgegen. Klein-Roda war laut, Klein-Roda stank, Klein-Roda war von mittelmäßigem Klima, Klein-Roda hatte nichts Exotisches und bot auch sonst keine Überraschungen. Aber er war froh, wieder hierzusein. Verdammt froh.
Karen Stark zum Trotz. Seine beste, seine älteste Freundin – »solange ich nicht deine dickste sein muß« –, ach was, seine einzige Freundin wollte ihn seit Jahren nach Frankfurt locken. »Du brauchst Menschen, Abwechslung, Anregung.« Aber er wollte nicht. Zumal Karen immer dann, wenn man sie brauchte, Liebeskummer hatte oder auf Dienstreise war.
Ein neues Geräusch mischte sich unter die vertrauten Laute. Es gehörte nicht dazu – besser gesagt: noch nicht. Es kam von der denkmalwürdigen Fernsehantenne auf dem Haus von Gottfried und Marie. Er blinzelte hinüber. Dort oben saß ein kleiner schwarzer Kerl und schnalzte und schmalzte vor sich hin, klang mal wie ein Paar Gummisohlen auf glattem Parkett, mal wie ein zufriedenes Weidepferd. Das war keine Amsel, die waren keine Seltenheit. Es war ein Star. Der erste Star.
Bremer ließ sich auf die Gartenbank neben der Haustür sinken, obwohl sie moosig schimmerte, legte den Kopf in den Nacken und schloß die Augen. Der Frühling war nirgendwo auf der Welt so wie hier. Er schlich sich heran, fast verlegen, trat von einem Fuß auf den anderen, als ob er nicht aufdringlich sein wollte, ließ sich unendlich viel Zeit, überraschte mit zartem Flaum und jungfräulichen Farben und Düften, preschte vor, zuckte zurück und spielte das Spiel von Verlockung und Zurückweisung, bis sich der aufdringliche Sommer mit seinen fetten Farben durchgesetzt hatte.
Kein Vergleich mit dem gleichförmig freundlichen Wetter anderswo. Langweilwetter für Rentner und Kleinkinder. Er hingegen war gestern wie elektrisiert gewesen, als sich der Sturm ankündigte. Alles in ihm hatte nach Luft und Raum geschrien, die Lunge, die Haut, das Zwerchfell, die Augen. Er war so unruhig gewesen wie die Katzen, hatte aufgeräumt, staubgesaugt, feucht gewischt, ja sogar die Fenster geputzt, weil er nicht stillsitzen konnte. Die Fenster hätte er sich sparen können. Der Sturm hatte den Regen über die Straße gepeitscht, hatte ihn Erde und Stallmist vom Asphalt lecken lassen, dann die braune Suppe wieder hochgewirbelt und gegen die Fenster geklatscht. Streifenfrei.
Ich trinke auf dich
Hier ist erst morgens
War ein heißer Tag
Hier ist erst Frühling
Vermisse dich
I.d.a.
»Und? Alles in Ordnung?«
Bremer sah von seinem Mobiltelefon auf. Marianne stand nebenan im Fenster und räumte die Bettvorleger weg.
»Alles bestens.«
»Hast du Sehnsucht?« Marianne sah hinunter auf seine Hände, die das kleine Gerät umklammerten.
Er hob die Schultern. Ja und nein. Anne war in Los Angeles, und er war hier. Das sagte alles.
»Und? Den Sturm gut überlebt?«
»Keine besonderen Vorkommnisse.« Dreckige Fenster waren nicht der Rede wert, das waren sie bei ihm meistens. »Und wie steht’s bei euch?«
»Zwei Weidezäune, der alte Kirschbaum und ein paar Dachziegel.« Marianne legte die Arme auf den Fenstersims, das tat sie immer, wenn ihr nach einem Plausch war, und das Sturmtief Kyra und die Folgen waren Stoff genug. »Zwei Tote in Bayern, haben sie eben in den Nachrichten gesagt. Beim Spazierengehen vom Baum erschlagen.« Sie fuhr sich durch die blonden Locken und machte ein Gesicht, als ob sie »Geschieht ihnen recht, den Bayern« sagen wollte. Wer ging schon bei Sturm spazieren?
Paul grinste hoch zu ihr. Wenn er ihr erzählte, daß er gestern nacht aufgestanden war, weil er sich seit Stunden schlaflos im Bett wälzte, daß er sich angezogen hatte und hinausgelaufen war in den Sturm, würde sie auch ihn für verrückt erklären. Er war den Friedhofsweg hochgegangen, es hatte ihm bei jeder Windbö den Atem verschlagen, er hatte auf das Orgeln des Windes in den Stromleitungen gehorcht, auf das Ächzen der Weide am Friedhofsrand, auf das Rauschen des Sturms in den Pappeln am Bach. Noch nicht einmal Nemax war ihm gefolgt, der es normalerweise liebte, abends noch einen Rundgang zu machen. Die Vielstimmigkeit des Sturms hatte Bremer euphorisch singen und rufen lassen. Verrückt. Würde Marianne sagen.
»Luca ist verschwunden«, sagte sie beiläufig und tätschelte ein geblümtes Kopfkissen.
Luca. Das Sorgenkind von Klein-Roda. Und das sagte sie erst jetzt. »Seit wann? Mitten im Sturm?«
»Wird schon nichts passiert sein.« Marianne schüttelte das Kopfkissen aus und legte es beiseite. »Der hat sich irgendwo verkrochen. Unkraut vergeht nicht.«
»Du hast vielleicht Nerven!«
»Wer einmal lügt ...« Sie wiegte den Kopf.
Dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht. Bremer kannte diesen und ähnliche Sprüche, nicht nur von Marianne. Sie hielt, wie die meisten im Dorf, Lucas Mutter für eine Fehlbesetzung und Luca selbst ... Na ja. Der Knabe war nicht das erste Mal verschwunden.
»Seit wann ist er weg?«
»Seit Donnerstag.« Marianne nahm die hellblaue Bettdecke vom Fenstersims. »Nicole hat drei Tage gewartet, bevor sie die Polizei angerufen hat.«
Drei Tage Warten. Wie hält man das aus? Andererseits – Bremer erinnerte sich noch gut an das erste Mal, als das ganze Dorf auf der Suche nach Luca war und man schon das Schlimmste befürchtete. Der zwölfjährige Knabe war schön wie aus dem Bilderbuch, mit blondem Prinz-Eisenherz-Haarschnitt und großen blauen Augen – der Phantasie waren keine Grenzen gesetzt, was so einem Kind geschehen konnte. Aber spätestens seit dem dritten Alarm waren alle abgestumpft, auch die Polizei. Man hatte sich daran gewöhnt, daß er verschwand und wieder auftauchte, meistens schon einen Tag später. Aber drei, nein: vier Tage?
»So lange war er noch nie weg.« Selbst Marianne schien beunruhigt zu sein. Und das wollte etwas heißen.
Luca war ein seltsamer Junge. Die Eltern hatten sich schon vor Jahren getrennt, die Mutter lebte seit einiger Zeit mit einem Freund, die Klatschbasen berichteten von lautem Streit, aber Genaues wußte man nicht. Der Junge selbst sagte nichts, er hatte bloß den unstillbaren Drang zu verschwinden.
Einmal kreuzte er bei Bremer auf, setzte sich auf die Garten-bank und sah ihm beim Rosenschneiden zu. Erst nach zwei Stunden sagte er etwas. Er wollte wissen, wie man die Farbe der »Rose de Resht« nennt, einer stark duftenden Damaszenerrose mit dicht gefüllten Blütenrosetten.
Purpur.
Vor dem weißblauen Himmel über ihm zogen zwei Krähen ihre Runden und krahten. Bremer sah Lucas Gesicht vor sich, ernst und ein bißchen verträumt. Vielleicht hätte er sich mehr um den Jungen kümmern sollen?
»Dein Telefon«, sagte Marianne.
Endlich hörte Bremer es auch.
Der alte Wilhelm war dran, wie üblich heiser und kurzatmig. Er war noch immer Ortsvorsteher, auch wenn er jedes Jahr ein bißchen steifer und ein bißchen müder wurde, aber es fand sich niemand, der ihn hätte ersetzen können.
»Paul, kannst du schnell rüber in die Siedlung fahren? Ulla hat angerufen. Bei ihrer Nachbarin stimmt was nicht. Die Frau wohnt allein, du weißt schon, es ist das Haus im Auenweg mit den vielen Bäumen im Garten.«
»Hat Ulla mal nachgesehen?« Gute Nachbarn taten das.
»Nein.« Wilhelm klang verlegen. »Alte Geschichten. Ich erzähl’s dir, wenn du zurück bist.«
»Ich fahr gleich los«, sagte Bremer. Er war Wilhelms Hilfs-sheriff, seit jenem Sommer vor einigen Jahren, als Wilhelm ins Krankenhaus mußte und ausgerechnet ihn, den zugewanderten Städter, um seine Vertretung gebeten hatte. Seitdem gehörte er dazu. Na ja: fast. Auch in Klein-Roda galt der Spruch: Wir haben nichts gegen Fremde, aber sie sollten schon von hier sein.
»Und – Paul? Halt bitte auch sonst die Augen auf. Luca ist wieder verschwunden.«
»Schon seit vier Tagen, hat Marianne gesagt.«
»Viel zu lange. Das macht mir Sorgen.«
Mir auch, dachte Bremer, lief nach oben und zog die Fahrradhose an, dazu ein warmes Hemd und eine winddichte Jacke, lief wieder hinunter und holte das Rad aus dem Schuppen. Alles, was Kinder betraf, weckte Urinstinkte, und Bremer, der es noch nicht einmal zum Onkel gebracht hatte, reagierte wie alle anderen auch. Man hatte hier in der Vergangenheit seine Erfahrungen gemacht mit verschwundenen Kindern. Der kleine Martin war tot gewesen, als ein Suchtrupp ihn entdeckte. Wenigstens Tamara lebte noch, als man sie fand. Das alles grub sich ein ins Gedächtnis und tat immer wieder aufs neue weh.
Gute Nacht
Ich schlafe schon
Luca ist weg
Nicht schon wieder
Ich mach mir Sorgen
Unkraut vergeht nicht