Читать книгу Schrei nach Stille - Anne Chaplet - Страница 17

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Es war schon längst Mittag, und sie hatte Hunger. Sophie stand in der Küche und starrte auf die Zettel, die auf dem Küchentisch lagen. »Brot!!« stand auf dem einen, »Frischhaltefolie!!!« auf dem anderen. Und auf den dritten hatte sie »Alles« geschrieben, zweimal unterstrichen und mit einem extradicken Ausrufezeichen versehen. Im Kühlschrank war buchstäblich nichts und in der Speisekammer nichts, worauf sie Appetit hatte. Dabei glaubte sie sich an eine Dose Baked Beans und ein Glas Frankfurter Würstchen zu erinnern, aber im Regal standen lediglich eine Konservendose mit geschälten Tomaten, ein Gläschen mit eingelegtem Knoblauch, ein Glas Sauerkirschen und eins mit sauren Gurken.

Zettel helfen der Erinnerung nur dann auf die Sprünge, wenn man nicht vergißt, sie zu lesen, dachte sie. Sie hatte schon gestern einkaufen wollen. Und jetzt war Jürgen’s Lädchen zu, wie immer über Mittag, und sie fühlte sich nicht stark genug, um mit dem Auto in den nächstgrößeren Ort zu fahren. Außerdem mochte sie den großen kalten Supermarkt dort nicht.

Sie blieb stehen, mitten in der Küche, und versuchte es leicht-zunehmen. Sich leichtzunehmen. Sie war entsetzlich schusselig geworden. Das Alter? Oder der Baum, der ihr nach dem Leben getrachtet hatte? Ein Schlag auf den Kopf konnte vielerlei auslösen, also auch partielle Amnesie. Teilzeitirresein, dachte sie. Oder ging das tiefer?

Die Kaffeemaschine war noch an. Sie erinnerte sich nicht, sie eingeschaltet zu haben. Sie sollte sie ausschalten. Und ihr Leben organisieren.

Und dann lauschte sie auf das Knacken der Dielen und das Flüstern des Lufthauchs, der sie zu begleiten schien, wo immer sie sich aufhielt – oben im Schlafzimmer, unten im Kaminzimmer. In der Küche. Im Bad. Es war das Haus, das sie einschnürte, wußte sie mit plötzlicher Klarheit. Das Haus, das sie abschnürte von allem Alltäglichen und in ein anderes Kontinuum versetzte. In eine Zeitschleife, in der andere Gesetze herrschen, in der Gegenstände leben und Menschen versteinern.

Draußen rauschte es in den Tannen. Sonnenlicht flackerte durchs Küchenfenster und erlosch wieder. Eine Tür fiel ins Schloß.

Sophie schrak auf und wußte für eine Sekunde nicht, wo sie war. In der Küche, wo sonst. Und wenn sie das alles nüchtern analysierte ... Du fürchtest dich, dachte sie. Und zugleich genießt du die Angst vor etwas Unbekanntem. Dabei ist es dir vertraut wie die Narbe an deiner linken Hand. Sie öffnete das Gurkenglas, steckte sich eine Gurke in den Mund und kaute lustlos. Daß das Telefon läutete, nahm sie erst wahr, als das Klingeln erstarb. Der Anrufer hatte wohl die Geduld verloren. Aber was hatte die Außenwelt hier auch zu suchen? Hier, bei ihr. In einem Haus, das der Schönheit und der Liebe gehört hatte. Einst.

Sophie starrte dem Deckel des Gurkenglases hinterher, der ihr aus der Hand gerutscht und auf den Boden gefallen war. Sie hatte schon vor so langer Zeit vergessen, was Liebe war. Aber sie erinnerte sich immer besser daran.

Die Hochzeit mit Hanswolf, dessen Nachname an ihr kleben-geblieben war, hatte mit Liebe jedenfalls nichts zu tun gehabt. Sie war sehenden Auges in eine Falle gelaufen. Und warum?

Weil ich eine anständige Frau werden wollte, dachte sie. Nach all den wilden Jahren und dem Dope und dem Koks und dem Alkohol. Weil ich ankommen wollte. Weil ich ein Reihenhaus mit Gärtchen und einen Mann mit regelmäßigem Einkommen plötzlich gar nicht mehr so spießig fand. Weil ich an ein Kind dachte. Oder an zwei. Wie alle Frauen, die ihren 40. Geburtstag nahen sehen.

Weil ich ein normales Leben führen wollte.

Daß es ein Fehler war, ihn zu heiraten, hatte sie geahnt. Aber Marlene hatte es gesehen. Ihre Fotos waren der letzte Beweis.

Marlene plante einen Bildband zum Thema »Ehen heute«, und da sie eine bekannte Fotografin und Hanswolf eitel war, hatte er zugestimmt, als sie darum bat, die Hochzeitfotografieren zu dürfen. Sophie war nicht wohl gewesen bei dieser Entscheidung. Auf Marlenes Fotos gaben die Menschen preis, was sie womöglich selbst nur ahnten über sich. Nicht weil Marlene sie entlarven wollte. »Sondern weil sie ins Herz der Dinge sieht, schon gut, und diesen esoterischen Quatsch erzählst ausgerechnet du.« Hanswolf. Aber er hatte es später sorgfältig vermieden, auch nur ein Wort zu Marlene und ihren Fotos zu sagen. Schon gar nicht hatte er sich bei ihr bedankt.

Doch selbst Sophie hatten die Fotos zuerst sprachlos gemacht. Man sah eine viel zu elegant angezogene Braut neben einem Mann in ungebügeltem Hemd ohne Schlips unter einem schlabbrigen Sakko. Wenigstens war er rasiert. Man sah zwei ältere Damen, die beiden verwitweten Mütter, deren Gesichtsausdruck zwischen Irritation und Mißbilligung schwankte. Man sah einen steifen Standesbeamten und eine verlegen kichernde Braut. Man sah zwei Menschen, die nicht wußten, was sie taten, als sie ihre Unterschrift unter das Schriftstück setzten, das den großen Schritt »Vom Ich zum gemeinsamen Wir« besiegeln sollte.

Sophie fühlte, wie ihr die Hitze ins Gesicht stieg. Warum hatte sie ihrem Gefühl nicht getraut, das ihr sagte: Ihr paßt nicht zusammen. Ihr liebt euch nicht. Ihr handelt aus Einsamkeit und Verzweiflung, nicht aus freier Entscheidung?

Nichts stimmte. Auch nicht das Luxusrestaurant, in dem sie die Eheschließung feiern wollten. Das Da Bruno galt als Edelschuppen, Tip von einem kulinarisch bewanderten Freund des Bräutigams. Es hätte ihnen zu denken geben müssen, daß das Klasserestaurant in einer der finstersten Straßen des Bahnhofsviertels lag. Jedenfalls fanden sie sich plötzlich vor einer bescheidenen kleinen Pizzeria wieder. Hanswolf hatte blind den Tisch reserviert – er hatte nicht gewußt, daß der Edelitaliener gleichen Namens im Westend lag.

Marlene packte dankenswerterweise die Kamera weg, die Mütter hatten den Anstand, nichts zu fragen und nichts zu sagen, und auch Sophie hatte sich klaglos an den Tisch im Hinterzimmer gesetzt, den die italienische Mamma mit ein paar Fliederstengeln dekoriert hatte. Wahrscheinlich würden sie und der Koch sich ihr Leben lang fragen, wie die verrückten Deutschen auf die Idee gekommen waren, ausgerechnet bei ihnen ein Hochzeitsmenü verspeisen zu wollen. Aber das Pizzabrot war gut, die Stimmung irgendwann auch, und als Hanswolf sich mit dem Ketchup aus einer Plastikflasche bekleckerte, der zu den Spaghetti gereicht wurde, hatte sie Tränen gelacht, was gar nicht gut angekommen war bei ihm. Dabei war es die reine Solidarität gewesen.

Aber so war er eben.

Und das alles, ALLES sah man auf Marlenes Bildern. Es war furchterregend. Und dennoch hatte sie geglaubt, durchhalten zu müssen, geglaubt, daß allwöchentliche Kräche und dauerhaft schlechte Laune dazugehörten zu so einer Ehe. Die Scheidung hatte er eingereicht. Weil sie nicht schwanger wurde.

Plötzlich spürte sie ihre Füße. Die Sohlen brannten, und die Kälte kroch durch die dünnen Pantoffeln. Nein, das war keine Liebe gewesen, ebensowenig wichtig wie all die anderen vorher oder nachher. Der einzige, der zählte, war Conrad. Doch im Grunde hatte es immer nur eine Liebe gegeben, immer nur die eine, der sie nahe sein wollte und der sie endlich nahegekommen war.

Das Buch hatte ihr viel Geld eingebracht. Mehr, als nötig war, um das Haus zu kaufen. Um endlich da zu sein.

Sophie ging hinüber ins Kaminzimmer, gefolgt von der weißen Katze, die neben sie sprang, als sie sich aufs Sofa legte. So weiß wie Schnee, so rot wie Blut. Die Katze wußte, wovon die Rede war. Sie hatte alles gesehen.

Das Tier stupste mit dem Kopf nach ihrer Hand, bis sie es streichelte. Das sanfte Schnurren lullte sie ein. Irgendwann wurde ihre Hand müde. Irgendwann dämmerte sie weg und träumte von Schönheit und Liebe und vom Tanzen. In-A-Gadda-Da-Vida. Sophie war tief abgetaucht, als das Telefon sie aus dem Schlaf holte.

»Was machst du? Wieso gehst du nicht ans Telefon?«

Aber ich bin doch dran, Regine. Sophie seufzte.

»Du denkst an die Lesung? Und wann fährst du nach Frankfurt zum Filmset? Du weißt, daß du verabredet bist? Mit dem Journalisten? Nikolaus Maurer?«

So viele Fragezeichen. Natürlich, Regine.

Regines Stimme wurde weicher. »Schreibst du auch fleißig?«

»Klar«, sagte Sophie sanftmütig. Nur Tagebuch. Aber das ging Regine nichts an. Das einzige Buch, das sie hatte schreiben wollen, war schon geschrieben. Es gab nichts mehr zu sagen.

»Mir gefällt das nicht, daß du dich so zurückziehst.«

Mir schon.

»Bist du noch dran?«

»Ja, Regine.« Nein, Regine.

»Ich bin ja nur deine Lektorin und will dir nicht in dein Leben reinreden, a her ...«

Sophie schaltete ab. Sie kannte das schon. Regine fand, sie gehöre in die Stadt und nicht aufs Land, auch noch in so ein gottverlassenes Dorf – »meine Güte, Sophie, das ist nicht gesund da draußen, die sind doch alle ein bißchen beschränkt, das müßtest du doch am besten wissen!« Regine empfahl ihr, sich einen richtig netten Mann zu suchen. Regine glaubte, Sophie müsse mehr aus ihrem Erfolg machen. Regine zeigte sich überzeugt, daß es für eine Frau in Sophies Alter unabdingbar war, soziale Kontakte zu pflegen – »und wenn es nur der Besuch irgendeiner Vernissage ist, hörst du, Liebes?«

Sophie hielt den Telefonhörer am ausgestreckten Arm ins Zimmer hinein und sah zu, wie die Katze die weißen Öhrchen spitzte und dann wegdrehte. Regines Stimme war nichts für sensible Wesen.

Regine verstand zwar etwas von ihrem Job, aber sie wußte nichts von Liebe und Schönheit. Und von dem Haus und seinem Zauber, den Sophie plötzlich wieder als unendlich gütig empfand. Vielleicht lag das daran, daß sich die Sonne draußen einen Weg durch Wolken und Zweige gebahnt hatte und den Fleck erhellte, auf dem die Gartenbank stand.

»Und ich wünschte, du würdest dir endlich einen Computer zulegen.«

Ja. Nein. Ich will nicht, dachte Sophie.

»Aber solange du keine E-Mails empfangen kannst, mußt du eben mitschreiben. Bist du bereit?«

Sophie nahm einen Zettel vom Tisch und schrieb sich die Termine auf, eine Lesung in einer Buchhandlung in Bad Soden, eine zweite Veranstaltung in einer »Kulturscheune« irgendwo in der Pfalz. Und legte ihn wieder neben die vielen anderen. »Krankenkasse« stand auf dem einen, »Bremer« auf einem anderen, und sie hatte in beiden Fällen keine Ahnung mehr, woran die Stichworte sie erinnern sollten.

Wird schon nicht wichtig gewesen sein.

Schrei nach Stille

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