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Tock.

Sie fuhr hoch. Es war dunkel im Zimmer, nur auf der gegen-überliegenden Seite des Raums sah man das hellere Rechteck des Fensters durch die Gardinen schimmern.

Tock.

Sie schloß die Augen und versuchte das Geräusch zu orten.

Tock.

Für eine Schrecksekunde bildete sie sich ein, es entstehe in ihrem Kopf, dehne sich aus, dränge heraus, sprenge ihren Schädel.

Tocktock.

Schneller jetzt. Gefolgt von einer Art feuchtem Schmatzen.

Sophie Winter ließ sich ins Kissen zurücksinken. Wassertropfen, über ihr. Über ihrem Kopf, über der hellgrau gestrichenen Holzdecke, auf dem Dachboden. Darüber das Dach. Und darüber ein atlantisches Tief.

Der Sturm, der still gelauert zu haben schien, jagte mit einem tiefen Orgelton eine Bö vorbei, rüttelte am Fenster, fegte durch ächzende Baumkronen im Garten.

Die Bäume, dachte sie. Sie werden aufs Dach stürzen. Die Dachziegel hinwegfegen. Ein Loch reißen in meine Höhle und die Elemente hineinlassen. Balken und Ziegel und Mörtel und Steine und Wasser.

Über ihr trommelten die Tropfen auf die Holzdecke.

Sophie versuchte sich dahin zu träumen, wo Stille war: Pferdeställe, Bibliotheken, Gartenhütten, der Pazifische Ozean, Heuschober. Doch heute gelang ihr das Abtauchen in das schützende innere Reich nicht, die Geräusche des Sturms übertönten alles. Nur nicht die Laute, die das Haus machte, bei jedem Windstoß.

Du hättest nicht kommen dürfen, flüsterte es.

Inzwischen tropfte es nicht nur über ihr, sondern auch neben ihr. Das Wasser war durch die Schlafzimmerdecke gedrungen, immer schneller klatschten die Tropfen auf den Holzfußboden neben ihrem Bett. Wenn du nichts unter das Leck stellst, stehst du morgen im Nassen, dachte sie und ging in Gedanken die Treppe hinunter, um einen Putzeimer zu holen.

Sie hörte die Tropfen auf den Boden klopfen, schneller, immer schneller. Sie hörte ihren Atem, seltsam gepreßt. Sie hörte den Pulsschlag in ihrem Ohr. Sie hörte es wispern.

Einen Eimer. Sofort.

Einen Eimer gegen die Sintflut? Sie zog sich die Bettdecke hoch bis über die Ohren und drehte sich auf die Seite.

Die Katze sprang aufs Bett und kuschelte sich schnurrend an sie. Der Sturm verebbte. Die Tropfen wurden weniger. Endlich schlief sie ein.

Sie wachte erst auf, als es schon hell war. Einen Moment lang wußte sie nicht, wo sie war und woher das Geräusch kam, das sie aufgeweckt hatte. Schließlich setzte sie sich auf, schwang die Beine aus dem Bett und schrie leise auf, als sie in kalte Nässe trat. Eine Pfütze. Warum war es naß in ihrem Schlafzimmer? Ein Schatten sprang vom Bett und bewegte sich zur Tür. Was war das?

Sophie schüttelte benommen den Kopf. Vor der Schlafzimmertür wartete die Katze und lief leise maunzend voraus, die Treppe hinunter. Sie folgte dem Tier.

Und dann hörte sie es wieder, das Geräusch. Ein energisches Klopfen, als ob jemand hereinwollte. Aber der Laut kam nicht von unten, von der Haustür. Er kam von oben. Vom Speicher.

Nein: vom Dach. Sophie lief auf bloßen Füßen wieder hoch, fand Jeans und T-Shirt auf einem Stuhl im Schlafzimmer, zog sich an und lief wieder hinunter.

Die Haustür war zu, verschlossen. Und der Schlüssel? Sie blickte sich suchend um. Der Schlüssel. Wo war der verdammte Schlüssel? Die Katze gab einen fragenden Laut von sich, sie stand mit erhobenem Schwanz im Flur, vor einer geschlossenen Tür, und sah Sophie auffordernd an. Sophie machte lockende Laute, während sie hinüberging und die Tür zur Küche öffnete. Die Katze. So weiß wie Schnee.

Mit einem Satz landete das Tier auf dem Küchentisch und hockte sich vor ein Schüsselehen mit Trockenfutter. Sophie horchte auf das leise Krachen, mit dem es die dunklen Brocken zerbiß. Plötzlich spürte sie ihren eigenen Hunger. Und Durst. Durst nach Kaffee.

Sie füllte Wasser in die Maschine und häufte ein paar Löffel Kaffeemehl in den Filter. Dann drehte sie sich um und öffnete den Brotkasten. Krümel. Eine leere Papiertüte. Das war alles. Und im Kühlschrank? Auf dem Weg dahin blieb sie stehen. Sie hatte gestern Brot gekauft. Ganz sicher. Vollkornbrot mit Dinkel, ein halbes Stück. »Wie immer?« hatte Nicole in Jürgen’s Lädchen gefragt, das Brot schon in der Hand, und es, ohne auf ihr Nicken zu warten, in die Tüte gesteckt.

Wenn kein Brot da ist, dann hast du auch keins eingekauft, schalt sie sich und schrieb »Brot!!« auf einen der Zettel auf dem Küchentisch, auf dem bereits »Frischhaltefolie!!!« stand.

Draußen erhob sich der Wind und orgelte durch die Bäume. Da war es wieder, das Geräusch – kein Klopfen mehr, eher ein dumpfes Hämmern und Schaben. Bei jedem Schlag schien das Haus zu zittern, als ob es sich fürchtete.

Nein, dachte Sophie. Als ob es sie hereinlassen will, die Naturgewalten. Als ob es nachgibt.

Sie eilte aus der Küche in den Flur. Der Haustürschlüssel lag da, wo er immer lag, seit fast einem Jahr, seit sie hier wohnte, in einer Schale auf der Anrichte. Wo sollte er auch sonst sein? Sie schloß auf, öffnete die Tür und trat nach draußen. Die Tannen im Vorgarten schwankten und stöhnten, wenn eine Bö sie packte.

»Wollen Sie nicht wenigstens ein paar der Bäume fällen lassen? Es ist so düster bei Ihnen«, hatte die Nachbarin im Sommer gesagt, kurze Zeit nachdem Sophie eingezogen war. Sie hatte nur den Kopf geschüttelt. Was hätte sie auch sagen sollen? Die Bäume sind tabu?

Die Kletterrose neben dem Haus hatte sich vom Spalier gelöst, ihre langen Triebe fuhren wie Peitschen durch die Luft, einer streifte ihr Haar und hätte sich fast darin festgekrallt. Sophie trat einen Schritt zurück und blinzelte hoch zu den blauen Flecken zwischen den schwankenden Wipfeln, über die weiße Schäfchenwolken jagten. Hier vorne sah alles aus wie immer, nur ein paar kahle Äste lagen auf dem Boden. Und der Lorbeerbusch in dem großen Topf mit den Löwenköpfen, der neben dem Gartentor stand, war umgefallen. Macht nichts, dachte sie. Ist ja nur Plastik.

Noch vor ein paar Jahren hätte sie einen auf Terrakotta getrimmten Kunststofftopf für einen unverzeihlichen Stilbruch gehalten. Aber damals hatte sie auch noch ein stabiles Kreuz. Sie ließ den Topf liegen, er würde ja doch wieder umfallen, wenn der Wind nicht nachließ. Dann ging sie nach hinten, in den Garten hinter dem Haus.

Eine Bö erfaßte sie, als sie um die Ecke bog. Im gleichen Moment bohrte sich etwas Spitzes in ihren Fuß, mit einem bissigen, bösen Schmerz. Sie sah an sich herab. Ihre Füße waren nackt. Sie hatte keine Schuhe angezogen.

Es ist nichts, flüsterte die Stimme in ihr. Du konzentrierst dich nicht, denkst immer an mindestens drei Sachen zugleich. Bist eben nicht mehr die Jüngste.

Sie balancierte auf einem Bein, während sie den Glassplitter aus ihrem Fußballen zog. Und dann hob sie den Blick.

Zwei Tannen mit geborstenen Stämmen waren auf den rückwärtigen Zaun gefallen, wahrscheinlich versperrten sie den Gemeindeweg. Sie mußte jemanden anrufen – aber wen? Die freiwillige Feuerwehr? Den Ortsvorsteher?

Sophie strich sich das feuchte Haar aus der Stirn. Sie hatte heute noch nicht in den Spiegel gesehen, die Haare waren nicht gekämmt und die Zähne ungeputzt. Hoffentlich sah sie niemand so. Und dann wanderte ihr Blick von den umgestürzten Tannen aufwärts, zur Rückseite des Hauses. Die Birke. Auch die war mal ein kleines Bäumchen gewesen. Aber mittlerweile reichte sie dem Haus bis zur Dachtraufe. Und jetzt hatte sie sich über das Haus geneigt, drückte auf das Dach, rieb sich an der Dachrinne.

»Wir fällen auch Bäume«, hatte der Mann gesagt, bei dem sie das Holz für den Winter bestellt hatte, der alte Otto, der ein paar Straßen weiter wohnte und ihr die sauber geschnittenen Buchenscheite mit dem Bulldog anlieferte. Er hätte sie ihr auch gestapelt, wenn sie ihn gelassen hätte. »Ist doch keine Arbeit für eine junge Frau!« Altherrencharme. Aber er hatte einen wunden Punkt getroffen. Manchmal fehlte ihr – ein Mann.

Einer wie Conrad, der das Holz hackte für den Kamin. Mit dem man Wein trinken und sich lieben konnte. Manchmal wußte sie nicht mehr genau, warum sie sich eigentlich getrennt hatten. Es war gut gewesen mit ihm, die paar Jahre. Sie sah sein Profil vor sich, die schmale, etwas windschiefe Nase, im Dämmer des Schneideraums, in dem sie tage- und nächtelang nebeneinandergesessen hatten. Es war immer ein magischer Moment gewesen, wenn das Filmmaterial zum ersten Mal angelegt wurde, Spule um Spule. Sie hatten daraus ein Ritual gemacht, einen guten Wein geöffnet, auf sich und das Werk angestoßen, während die ersten Bilder über den Bildschirm liefen, und Conrad hatte sich ein Zigarillo angesteckt.

Vorbei. Und besser so. Kein Mann, auch er nicht, hätte jemals hier einziehen dürfen. Nicht in dieses Haus. Außerdem konnte man einen guten Wein auch allein trinken.

Sophie schüttelte benommen den Kopf. Träum nicht. Vor allem nicht von der Vergangenheit.

Wieder bewegte sich die Birke unter einem Windstoß. Sie trat ein paar Schritte näher. Nicht die Birke war umgeknickt, sondern eine der Tannen, die gegen die Birke gekippt war. Daraufhin hatte sich der Baum geneigt, wie ein Teller hatte sich das flache Wurzelwerk aus der Erde gehoben, während die Krone über dem Dach lag. Wieder hörte sie es schaben und klopfen. Und wie in Trance ging sie hinüber, faßte an den Baumstamm, wollte ihn bewegen. Ein lächerlicher Versuch. Hilflos ließ sie die Arme sinken.

Der Wind schien die Luft anzuhalten. Sie hörte ein Pfeifen, das sich langsam steigerte. Und dann wurde der Ton tiefer. Sie lauschte dem Klang hinterher, er berührte etwas in ihr, sie spürte Weite und Einsamkeit. Der Ton kam näher. Die Luft vibrierte. Endlich begriff sie. Lauf, dachte sie noch. Aber schon war die Windbö bei ihr und preßte sie gegen den Birkenstamm. Sie versuchte Luft zu holen und sich dem gewaltigen Druck entgegenzustemmen. Ihr T-Shirt blähte sich knatternd auf. Über ihr ächzten Äste, splitterten Zweige. In diesem Moment bewegte sich der Birkenstamm. Die Tanne folgte. Sie hörte es krachen und bersten. Sophie fiel. Und dann senkte sich eine Wolke aus nassen Tannenzweigen über sie und hüllte sie ein.

Als sie zu sich kam und die Augen aufriß, sah sie nichts. Aber es roch nach Harz und feuchter Erde. Sie schmeckte Blut und tastete mit der Zunge nach ihrer Unterlippe, die sich taub anfühlte und anzuschwellen begann. Über ihr rauschte und wisperte es, etwas näherte sich, ein Tier? Sie versuchte zu rufen, versuchte sich zu bewegen, die Beine, die Arme, den Kopf. Der Baum hatte sie unter sich begraben. Sie würde erfrieren.

Etwas flüsterte. Etwas wollte zu ihr. Drang durch die Zweige. Nicht, dachte sie noch. Dann dämmerte sie weg.

So weiß wie Schnee, so rot wie Blut. Was für ein schöner Vogel. Unter dem Machandelbaum.

Schrei nach Stille

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