Читать книгу Schrei nach Stille - Anne Chaplet - Страница 12

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»Bringst du mir ein Autogramm mit?«

Nein, Caro. Und nun iß bitte dein Knäcke.

»Wie süß! Ein Autogramm!«

Flo! Hör auf, deine Schwester zu quälen.

»Vielleicht auch noch von der Lohberg, der alten Schachtel?«

Ist schon über 30, also kurz vor der Rente. Oh, Jugend ist grausam.

»Du bist gemein.«

Na ja – nicht, wenn Jugend Caro heißt und erst dreizehn ist.

»Und Papa sagt ...«

Papa sagt gar nichts. Der hält sich raus. Vergiß das Pausenobst nicht, Flo.

»Aber ich möchte gern mit.«

Nein, Caro, kommt nicht in die Tüte. Und jetzt beeil dich.

»Kinder haben da nichts zu suchen. Papa hat doch gesagt ...«

Daß eine Fernsehproduktion harte Arbeit ist und daß man sich als fachlicher Berater von der Polizei am Filmset möglichst unsichtbar macht. Ab in die Schule.

»Ich bin kein Kind! Kann ich nicht wenigstens nach der Schule ...?«

Ich sagte doch: Nein.

»Hast du dich wegen Hannah Lohberg so feingemacht?«

Fein? Ich? Jetzt werd mal nicht frech, Flo. Und nun ab mit euch, Kinderchen.

Kuß rechts, Kuß links, Tschüs, Papa. Tschüs, ihr Süßen. Du hast das Obst vergessen, Flo. Und ich denk noch mal über das Autogramm nach, Caro.

Ein Luftzug. Der Duft nach Pfusichshampoo.

Kriminalhauptkommissar Giorgio DeLange sah den beiden hinterher und wartete auf das vertraute und beängstigende Geräusch, mit dem die Wohnungstür zuknallte. Dann räumte er den Frühstückstisch ab, verstaute das Geschirr in der Spülmaschine und die Milch im Kühlschrank und schaltete das Radio ein.

»... zwölf Jahre alt. Der Junge hat blonde Haare, blaue Augen, ist schlank und circa ein Meter fünfundsechzig groß, trägt blaue Jeans und eine rote Windjacke ...«

Sachdienliche Hinweise. An die örtliche Polizeidienststelle. DeLange atmete tief ein und wieder aus. Immer wenn es solche Nachrichten gab, wurde er unruhig. Da war ein Zwölfjähriger verschwunden, irgendwo im Hessischen. Sein Verstand sagte ihm, daß der Knabe wahrscheinlich die Schule geschwänzt hatte und sich nun aus Angst vor Strafe nicht blicken ließ. Aber es half nichts. Immer wenn er so etwas hörte, machte er sich Sorgen.

Um Caro und Flo. Um wen sonst.

Beruhige dich, Alter. Der Bengel ist zwölf. Flo und Caro sind vernünftige Mädchen und schon fast erwachsen. Es wird ihnen nichts passieren. Sie werden ihre Partys feiern und die falschen Freunde kennenlernen und viel zu früh irgendeinen Langweiler mit nach Hause bringen, den sie heiraten wollen. Also reg dich ab, DeLange. Alles im grünen Bereich.

Er richtete sich auf, wischte noch einmal mit dem Küchenpapier über die Arbeitsplatte und ging ins Bad. Diesmal sah er sich ins Gesicht beim Rasieren, was er normalerweise vermied, weil es kein schöner Anblick war. Dabei war an jeder scharfen Linie in seinem Gesicht hart gearbeitet worden. Dank an Feli. Dank an den Mann mit dem Messer. Und danke an Flo, fünfzehn, und Caro, dreizehn. Mein Stolz, mein Elend. Beide schön wie die Verheißung. Und jung und unschuldig und unverletzt, und das hoffentlich noch lange.

Er massierte sich einen Klecks Post Shave Healer in die Haut, nutzlose Kosmetik, hatte er mal gedacht, aber seine Haut vertrat eine andere Meinung. Dann bürstete er sich das Haar, das er länger trug als früher, was sogar den Kollegen aufgefallen war, die ihn seither mit launigen Kommentaren begrüßten. »Und? Wie ist sie?« Alle glaubten, er hätte endlich wieder eine Neue. Oder was mit Hannah Lohberg angefangen. Wurde langsam Zeit nach der Trennung von Feli, meinten sie. Aber da war nichts. Und da würde auch nichts sein, solange Flo und Caro bei ihm wohnten.

Ihretwegen nahm er heute das Auto. »Es ist kein Wasser mehr da!« Flo, gestern abend, vorwurfsvoll. »Und denk an die Bionade, Papa!« Caro. Also irgendwo Wasserkisten einladen und bei dem Bioladen auf der Eckenheimer vorbeifahren, damit die beiden Damen ihr Kultgetränk kriegten. Die Generation Bionade. Toll. Er war die Generation Tri Top gewesen. »18 Gläser aus einer einzigen Flasche.« Bevorzugt Kirsch. Und Milch gab es in Schwabbeltüten, die man in einen Extraständer stellen mußte. Platzsparende Verpackung. War damals das Ding.

An allem mußten sie sparen zu Hause. Schon deshalb war er mit fünfzehn Jahren weg. Zur Polizei. Besser, als gleich im Knast zu landen.

DeLange schloß die Haustür hinter sich ab und lief zum Auto auf der anderen Straßenseite. Beim Anfahren hörte er noch die Nachrichten, bevor er die neue CD in den Player schob. Verdi, La forza del destino. Keine Meldung über den verschwundenen Jungen. Er war also weder tot noch lebendig gefunden worden. Das eine war keine schlechte und das andere keine gute Botschaft.

Me pellegrina ed orfana. Er zoomte die Lautstärke auf volle Dröhnung. »Mich, die Heimatlose, Verwaiste, treibt ein unerbittliches Schicksal ...« Er konnte sich noch immer nicht zwischen Renata Tebaldi und Maria Callas entscheiden, aber im Moment tendierte er zur Tebaldi. Sie hatte die wärmere Stimme.

»... fort vom Haus meiner Kindheit und fremden Gestaden zu.« Auf die Autobahn nach Frankfurt, immer schön gemächlich auf der rechten Spur, der Tebaldi lauschen und zusehen, wie der Wind ein paar verhuschte Wolken über den Himmel hetzte. Er kannte jede Ecke der Stadt, das Holzhausenviertel und die Nebenstraßen am Bahnhof, das Messegelände und den Hauptbahnhof, die finsteren Seiten Bockenheims und die Hinterhausidyllen Bornheims. Aber er spürte noch immer die alte Erregung, wenn sie ins Blickfeld kam, die Skyline. Die fernen Türme.

»Heimatgefühle? Du?«

Ja, Feli. Was dagegen, Feli?

»Ach, ich verlasse dich unter Tränen, meine geliebte Heimat ...« DeLange wechselte auf die mittlere Spur und überholte den roten Mazda, der vor ihm herzuckelte, noch langsamer als er selbst. Frau am Steuer? Nein. Ein Außerirdischer. Ein bleicher Mann mit hoher Stirn und einer riesigen Sonnenbrille mit blitzenden Gläsern. Alles Aliens. Mutanten. Er dachte das immer häufiger in letzter Zeit.

Abfahrt Eckenheim. Schon vorbei mit der freien Fahrt. Baustelle. Stop and go, wie immer um diese Tageszeit. Gasgeben. Bremsen. Sich zusammenreißen und weder hupen noch schreien, noch Handbewegungen machen, die jemand richtig deuten könnte. Vorbild sein. Ruhe bewahren. Haltung zeigen. Auch bei blond, Sonnenbrille, dämlich, direkt neben ihm, Mercedes mit Bad Homburger Kennzeichen, warum ist die denn jetzt schon unterwegs, die Geschäfte in der City machen doch erst um zehn Uhr auf. Vielleicht weiß sie das nicht? Das Huhn ahnt ja noch nicht mal, wozu ein Blinker da ist und warum man in den Rückspiegel gucken sollte, auch wenn man sich nicht gerade die Lippen nachzieht.

»Fahr doch nicht so aggressiv.« Feli, früher. Neben ihm, wie sie mit dem Fuß durchs Bodenblech will. »Brems doch!« Caro, auf dem Rücksitz. »Es sind doch nicht alle deine Feinde!« Flo.

Woher weißt du das, Flo? Wachs du mal auf als viertes Kind von viel zu vielen, in den 60er Jahren in Rüsselsheim. Laß du dich mal als Itaker beschimpfen und nach der Schule verprügeln, da lernst du die angesagte Sprache schneller als du »Ciao« rufen kannst. Und bist ein paar Jahre später Klassenbester in Deutsch. »Nehmt euch ein Beispiel an unserem Jo.« Und kriegst wieder Keile. Da will man doch nicht Deutschlehrer werden, oder? Da wird man was Grausames. Zahnarzt. Oder staatlich lizenzierter Gewalttäter.

Er parkte seinen Ford hinter dem Polizeipräsidium neben dem Peugeot von Frank, der noch immer die Babyschühchen seines Sohnes am Rückspiegel hängen hatte, obwohl der Junge längst studierte. Eine Kollegin, Oberkommissarin, ihr Name war ihm entfallen, auch wo sie eingesetzt war, grüßte und lächelte ihm auffällig aufmunternd zu. Wegen seines guten Charakters, des neuen Blazers oder der interessanten Narben? Er hätte fast vergessen zurückzulächeln.

Er mußte wieder lächeln lernen. Entspannter sein. Weniger zornig. Nimm’s doch mal locker, Alter. Feli ist nicht die einzige Frau auf der Welt. Und manche standen auf Typen wie ihn.

»Soll ich vielleicht den ganzen Tag zu Hause hocken und mir die Fußnägel lackieren?« Nein, Feli. Aber mußten es Ölbilder sein? Hätten Aquarelle nicht genügt? Und warum waren die Dinger so groß? Und mußte man damit ein ganzes Reihenhaus zustellen, deins und meins und das deiner Töchter? Für Apfelkuchenbacken wäre Platz gewesen.

»Ach! Und warum hast du nicht gleich deine Mutter geheiratet?«

Hast ja recht, Feli.

DeLange verzog das Gesicht zu einem schiefen Grinsen, während er durch den Innenhof ging. Kriminaloberkommissar Dirks, wie üblich im Schimanski-Look in Jeans und Lederjacke, grinste zurück. Sorry, Kollege, aber du warst nicht gemeint. In den Aufzug. Zwei Jungs von den Spezialeinheiten in Montur. Konnten vor Testosteron kaum ruhig stehen. Der Lichthof. Sein Flur. Abteilung Presse und Öffentlichkeit im Polizeipräsidium Frankfurt. Ausweis vor den Türöffner halten. Durchatmen.

Klara stand vor ihrem Zimmer, weißen Kaffeebecher in der Hand, braun geteert. Auch so eine Sitte. Niemand in der Abteilung wusch seinen Becher ab, das sollte wohl dafür sorgen, daß sich kein anderer daran vergriff.

»Jo! Wie stilvoll!« Sie musterte ihn von Kopf bis Fuß.

Seit er keine Uniform mehr tragen mußte, gab er sich Mühe mit der Kleidung. Die Kolleginnen schätzen das.

»Elegant wie immer!« Sie war verdächtig gut gelaunt. »Alles im grünen Bereich?«

DeLange schenkte ihr ein mattes Lächeln. Alles auf der sicheren Seite. Alles paletti. Alles tranquillo. Alles wie immer. Und verschwand in seinem Büro. Klara sah aus, als ob sie gute Nachrichten hätte. Er wünschte viel Glück. Wenn Klara Merz, Sachgebietsleiterin Allgemeine Öffentlichkeitsarbeit k Polizeipräsidium Frankfurt am Main, die Karriereleiter hochfiel, hatte er Aussicht auf ihre Stelle. Und das bedeutete Besoldungsgruppe A 12 statt A 11. Stand einem alleinerziehenden Vater doch zu, oder?

Ein Tag Abwesenheit, und schon mit E-Mails zugeschissen. Er scannte die wichtigsten im Schnelldurchlauf. Das meiste erledigte sich durch Nichtbefassen. Klick und weg. Anfrage einer Journalistin, ob Polizeihunde Dienstgrade hätten. Aber sicher doch. Später beantworten. Mit einem guten Witz. Zwei Filmproduktionen wg. Komparsen. Gleich erledigen. Beide wollten SEK-Leute, na klar, ist ja die einzige Polizei, die sie noch kennen. Jungs in Sturmhauben, schlank, schwarz und stark. Einsatzfahrzeuge brauchten sie auch. Welche? Unklar. Ob die wissen, was das kostet? Omega Film. Nie gehört.

Die Redakteurin eines bunten Blattes fragte nach der Ehescheidungshäufigkeit bei »Polizistinnen«. Warum sagte sie nicht gleich Bulletten? Und ob die Gefahren des Polizistenalltags dabei eine Rolle spielten. Die Gefahren eher weniger, dachte DeLange. Höchstens der Alltag. Und die Konkurrenz durch die Diensthunde.

Sein Mobiltelefon. Der Weckruf. Er mußte los. Der Regisseur von Summer of Love bestand auf einem offiziellen Berater der Polizei am Set. Warum auch nicht. Der Film spielte in den 60ern, wie der Titel schon sagte. Er hatte sich extra Mühe mit der Recherche gegeben und die Komparsen geschult, es mußte alles stimmen: die Fahrzeuge, die Uniformen, das Auftreten.

Es war ja niemand von ihnen damals dabeigewesen.

Das Drehbuch schien brauchbar zu sein, wenn er nach den Szenen ging, die ihn und seine Leute betrafen. Da wußte jemand Bescheid, sogar über Dinge, die er erst hatte recherchieren müssen. Zum Beispiel, was Frankfurter Polizisten damals bei Einsätzen auf dem Kopf trugen. Da kannte sich jemand aus, als ob er dabeigewesen wäre. Damals.

Die Belohnung für all die Mühe: Sie war wirklich sehr nett. Hannah Lohberg. Arbeit konnte so schön sein.

Schrei nach Stille

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