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Als Sophie Winter die Augen öffnete, sah sie einen Mann vor dem Couchtisch knien, einen Mann in Parka und verknitterten Jeans, der eine Art Formular vor sich liegen hatte, in das er etwas eintrug. Er war nicht mehr ganz jung, trug die Haare schulterlang und war erstaunlich dünn. Sophie tastete neben sich. Sie lag auf dem Sofa in ihrem Haus, unten, im Kaminzimmer.

»Siehe da! Die Erde hat sie wieder! Sie öffnet die Augen!« Woher wußte er das? Der Mann hatte nicht aufgesehen. Aber jetzt drehte er sich um und hielt ihr die Hand hin.

»Simon Kahlebach«, sagte er. »Außer ein paar Kratzern, einer Platzwunde an der Stirn und einer dicken Lippe sind Sie wie neu. Aber Sie sollten zu Ihrem Hausarzt gehen.«

»Wer sind Sie?« Sie hörte sich flüstern. Und was war passiert?

»Der Notarzt, Frau Winter.«

Der Notarzt. Wieso der Notarzt. Und warum lag sie hier. Und warum war ihr so kalt. Und ...

Und dann kam ein weiterer Mann ins Zimmer, ein Tablett in den Händen. Es roch nach Kaffee. Sie setzte sich vorsichtig auf.

»Milch und zwei Zucker, bitte«, sagte der Notarzt, dessen Namen sie gleich wieder vergessen hatte. »Für Frau Winter ohne Milch, dafür mit drei Löffeln Zucker. Wir müssen den Kreislauf wieder in Schwung bringen.«

Zucker? Im Kaffee? Sophie verfolgte die Bewegungen des Mannes mit dem Tablett mit wachsender Unruhe. Aber der Kaffee war heiß. Das tat gut. Sie legte die Hände um den Becher. Erwärmte.

»Wenn Herr Bremer Sie nicht gefunden hätte ...« Der Arzt wiegte den Kopf.

Herr Bremer. Gefunden. Wo?

»Die Tanne ist glücklicherweise nicht auf Sie gefallen, der Baum hat Sie lediglich mitgerissen, das war Glück im Unglück«, sagte der Mann, dieser Bremer, der Name sagte ihr nichts. Er hatte das Tablett auf den Couchtisch gestellt und stand mit verschränkten Armen neben dem Sessel, dem mit dem Kelimkissen, auf dem sich die Katze räkelte.

»Haben Sie eine Ahnung, wie lange Sie da draußen gelegen haben?«

Die Tanne. Sie hatte den Geruch in der Nase, den Geruch von feuchten Tannenzweigen. Sie spürte die kleinen weichen Nadeln auf ihrer Haut. Es war dunkel gewesen. Und kalt. Und da war noch etwas gewesen. Ein Tier? Sie hatte die Zweige knacken und irgend etwas atmen gehört. »Ich – weiß es nicht.«

Der Mann sah sie aufmerksam an. Er sah gut aus. Klein. Drahtig. Wach. Er war zu jung für seine weißen Haare.

»Ich hätte wahrscheinlich nicht nach Ihnen gesucht, wenn die Scheibe des Fensters neben der Haustür nicht zerbrochen wäre.« Eine angenehme Stimme. Sophie lauschte ihr hinterher. Die Stimme zögerte. »Wahrscheinlich ein Sturmschaden. Merkwürdig ist nur ... die Glassplitter liegen außen, nicht innen.«

Das Haus. Es wehrt sich. Es schlägt um sich. Es platzt vor Wut. Sie nahm einen Schluck Kaffee und hätte ihn fast wieder ausgespuckt. Das Zeug war viel zu süß.

»Sie hatten nichts an den Füßen. Und dann allein da hinausgehen – bei diesem Wetter ...« Er schüttelte den Kopf.

Sophie wunderte sich. Man sorgte sich um sie. Es war ein ungewohntes Gefühl. Es gefiel ihr.

»Ihre Krankenkasse, Frau Winter?« Der Arzt war noch immer mit seiner Schreibarbeit beschäftigt.

Sophie starrte in den Becher mit der schwarzen Flüssigkeit. Die Krankenkasse. Natürlich. So ein Arzt muß seine Leistungen ja abrechnen.

Der Mann am Couchtisch blickte auf die Uhr, notierte wieder etwas und sah endlich hoch. »Gesetzlich oder privat?«

»Ja«, antwortete sie.

Der Arzt guckte zu dem Weißhaarigen hinüber, sie merkte, wie die beiden Blicke tauschten, besorgte Blicke, als ob sie ihrem Zustand nicht ganz trauten. »Ja«, sagte sie noch einmal, fester jetzt.

Der Arzt legte den Kugelschreiber auf das Formular und griff nach ihrem Handgelenk. »Stabiler Puls«, sagte er. »Aber vielleicht sollten Sie doch ins Krankenhaus gehen. Zur Beobachtung. Ich kann eine Gehirnerschütterung nicht ausschließen.«

Sophie versuchte den Kopf zu schütteln.

»Frau Winter?« Er schob seinen Kopf an sie heran, um ihr in die Augen zu sehen.

Sie bewegte die Lippen.

»Wer ist Ihr Hausarzt?«

Kennen Sie den Witz? hätte sie fast gefragt. Großes Konzert. Stardirigent. Berühmter Pianist. Und in die Stille nach dem ersten Satz ruft einer: »I st ein Arzt da?« Alle drehen sich nach ihm um. »Hier!« ruft ein anderer und steht auf. »Ahh, Herr Kollege«, sagt daraufhin der erste. »Ist Mozart nicht einfach göttlich?« Sie unterdrückte ein Kichern.

»Ihr Frauenarzt?«

»Ich habe keinen. Ich bin gesund.« Ich bin gesund, dachte sie. Es ist nichts. Ich will, daß sie gehen.

»Na ja.« Der Arzt lächelte, ein wenig ungläubig.

»Geben Sie ihr Zeit.« Der andere, der Weißhaarige. »Der Schock.«

Der Arzt schüttelte den Kopf. »Und Ihr Geburtsdatum?«

Sie schwieg. Sie schloß die Augen. Es ist Februar. Es ist ihr Geburtstag. Sie freut sich seit Wochen darauf. Sie bekommt, was sie sich ersehnt. Einen Freund, der nur ihr gehören wird. Ganz allein ihr. Einen kleinen schwarzen Hund mit schwarzer Schnauze und dunklen Augen.

Und dann ... ist es endlich soweit. Und dann – ist es vorbei.

»Nicht weinen, Liebling.« Mutter. »Nun sei doch vernünftig.« Vater. Im Körbchen unter dem Tisch mit den anderen Geschenken liegt er. Ein Plüschhund. Und die Farbe stimmt auch nicht.

»Ihr Sternzeichen? Frau Winter? Hallo?«

Aber noch schlimmer als die enttäuschten Wünsche sind ihre Erfüllung. Was, wenn es nichts mehr zu wünschen gibt?

»Zwillinge? Schütze? Skorpion?«

»Schmetterling«, flüsterte sie endlich. Vielleicht gingen sie jetzt?

Der Weißhaarige räusperte sich. Es klang, als ob er lieber gelacht hätte. »Ich kümmere mich darum, Herr Kahlebach. Ich lasse Ihnen die nötigen Informationen zukommen.«

Sophie öffnete die Augen, gerade so weit, daß sie den Gesichtsausdruck des Arztes lesen konnte. Aber der kramte in seinem Koffer und reichte dem anderen Mann eine Karte.

»Achten Sie darauf, daß sie genug trinkt«, sagte er. »Ich muß weg. Ein alter Herr, Lungenkrebs, Endstadium. Der wartet auf sein Morphium.«

Sister Morphine, dachte Sophie und horchte einem unbestimmten Gefühl und den Schritten der beiden Männer hinter-her. Die Katze sprang aufs Sofa und schmiegte sich schnurrend an ihre Hand.

»Wie heißt du?« fragte Sophie. Und dann: »Was weißt du?«

Der Mann namens Bremer kam zurück und bestand darauf, ihr Wasser zu bringen und das Sofakissen aufzuschütteln. Dabei fand er es. Er hielt das Heft hoch, bevor sie danach greifen konnte. Ein dickes schwarzes Notizbuch mit einem weichen Umschlag, der nach Moleskin aussehen sollte. Der Tintenschreiber steckte in einer Schlaufe an der Seite.

»Das hat sich in der Ritze zwischen den Polstern versteckt. Haben Sie es schon vermißt?«

Das Tagebuch. Sie hatte es seit der vergangenen Woche gesucht. Seit der letzten Eintragung. Sie nahm es in die Hand. Was man nicht versteht, muß man aufschreiben. Und plötzlich hatte sie wieder das böse Kreischen im Ohr, mit dem die Tanne sich über sie senkte. Als ob der Baum es auf sie abgesehen hatte. Sie ließ sich in die Sofakissen zurücksinken und schloß die Augen. Endlich hörte sie die Haustür ins Schloß fallen.

Schrei nach Stille

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