Читать книгу Schrei nach Stille - Anne Chaplet - Страница 19

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Die Katze weckte sie. Das Tier stand auf ihrer Brust, hob und senkte die Vorderpfoten in einem gleichmäßigen, auffordernden Rhythmus und schnurrte laut. »M ein armer Schatz!« Sophie strich der Katze über den seidigen Kopf. Ihr Name. Er war zum Greifen nahe. »Hunger?«

Getroffen. Das war ein Wort, auf das sie hörte. Die Weiße sprang mit einem Satz hinunter und galoppierte mit trommelnden Pfoten und hoch aufgerichtetem Schweif voraus in die Küche. Sophie rollte sich vom Sofa, ein bißchen steif und entschieden langsamer.

In der Küche roch es nach angebranntem Gummi. So ekelhaft stank nur verschmurgelter Kaffee. Die Katze saß erwartungsvoll vor ihrem Freßnapf. Leise mit sich schimpfend, holte Sophie eine Dose aus der Speisekammer, zog den Deckel auf und löffelte die Bröckchen in einen sauberen Napf. Während das Tier wie ausgehungert fraß, erneuerte sie das Wasser im Trinknapf. Dann schaltete sie die Kaffeemaschine aus, ließ heißes Wasser in die Glaskanne laufen, in die sich der Kaffee eingebrannt hatte, räumte die Kaffeebecher in die Geschirrspülmaschine und stellte die Zuckerdose zurück ins Regal.

Die Katze war auf den Tisch vorm Fenster gesprungen und versuchte eine Fliege zu fangen, die immer wieder brummend und surrend gegen die Fensterscheibe prallte. Sophie schaute zu und dann hinaus. Da steht jemand am Gartenzaun, dachte sie eine Schrecksekunde lang. Aber das konnte nicht sein. Sie erwartete niemanden.

Der Himmel trübte sich ein, die Bäume wiegten sich träge, ein Buntspecht untersuchte den Stamm der Kiefer, die Fliege blieb kreiselnd auf dem Fensterbrett liegen. Es knackte, als die Weiße sie verschlang.

Die Kirchturmuhr schlug, vier Mal, wobei man den zweiten Schlag nur erahnen konnte. Als ob das Uhrwerk einen Schluckauf hätte. Vier Uhr nachmittags. Wo war die Zeit geblieben?

Als sie die Treppe hochlief, merkte sie, daß sie die Pantoffeln neben dem Sofa stehengelassen hatte. Ihre Füße waren nackt.

Die Tür zum Schlafzimmer stand offen. Drinnen war es so dunkel, daß sie das Licht anmachen mußte. Das Zimmer sah aus, als ob der Sturm hindurchgefegt wäre. Auf dem Holzfußboden eine Pfütze, es hatte offenbar reingeregnet. Die Bettdecke zurückgeschlagen, das Kissen nicht aufgeschüttelt. Der Kerzenleuchter neben der Blumenvase auf der Biedermeierkommode umgekippt. Und auf dem Korbstuhl neben der Kommode ein schmutziges weißes T-Shirt.

Sie ging hinein, stellte den Leuchter wieder auf und strich über das honigfarbene Holz der Kommode. Ihr Blick fiel in den Spiegel. Ein müdes Gesicht. Alte Augen. Ungekämmte Haare. Was war los mit ihr, zum Teufel?

Ihr Blick ging durch das Zimmer, ihr Reich, ihr Refugium, ihr Heiligtum. Sie sollte sich endlich vernünftige Schuhe anziehen, hinunterlaufen, Eimer und Putzlappen holen. Das Bett machen. Sich waschen, schminken, die Haare kämmen. Den Tag beginnen, bevor er vorüber war. Sie bückte sich, streichelte die Katze, die ihr gefolgt war, hielt inne. Das Geräusch. Sie hatte es schon die ganze Zeit gehört, unterschwellig, sie hatte sich keine Gedanken darüber gemacht. Plötzlich war es ganz nah. Eine Motorsäge. Männerstimmen. Rufe.

Sie drehte sich um. Ein Schatten vor dem Fenster. Ein Laut, wie von einer verzogenen Tür, die mit Gewalt geöffnet wurde. Ein langer Klageton von gequältem Holz und Metall. Das Haus vibrierte. Sie tastete hinter sich, nach der Türklinke.

So hatte sie damals in der Tür gestanden, an dem Tag, an dem ihre Welt aus der Umlaufbahn geriet. Der Raum mit den schwarzen Wänden. Das Che-Guevara-Poster. Auf dem Bett die Decke aus Kaninchenfell. Und darauf ...

Die Kerze fiel aus dem Leuchter. Der Spiegel über der Kommode löste sich von der Wand, in Zeitlupe, rutschte hinunter, schlug auf der Kommode auf, fiel vornüber, fegte die Blumenvase von der Platte und den Kerzenleuchter und zerschellte mit dem Versprechen von sieben Jahren Unglück.

Draußen rauschte es, es klang wie ein gewaltiger Wind in den Blättern der Bäume. Holz barst. Vor dem Fenster wurde es hell. Sophie stand wie gelähmt an der Tür und blickte auf die Scherben. Und dann hörte sie den Aufprall. Irgend jemand hatte die beiden Bäume vom Haus gezogen.

Als die Katze mit ihren weißen Pfötchen ein großes glitzerndes Stück Glas über den Boden dribbelte, schreckte sie auf. Sie lief hinunter, holte Kehrblech und Handfeger aus der Küche und fegte die Scherben zusammen. Das Kehrblech nahm sie wieder mit nach unten und kehrte mit Wassereimer und Wischtuch zurück. Die Katze verfolgte jede ihrer Bewegungen, schlug mit der Pfote nach dem Wischlappen, jagte einer Spiegelscherbe hinterher, und sprang schließlich aufs Bett, wo sie sich mit irgendeinem Spielzeug vergnügte. Als Sophie das Wischtuch ausgewrungen hatte und zusammen mit dem Putzeimer wegstellen wollte, sah sie die Blutspuren. Auf dem Boden und auf dem Bett.

Sie packte die Katze, die sich kokett sträubte. Aber das Tier war nicht verletzt, trotz der blutigen Pfotenspuren auf dem weißen Laken. Sie nahm ihm sein Spielzeug fort und setzte es behutsam vor die Tür.

Dann hörte sie das Telefon. Wieder lief sie die Treppe hinunter, wieder mit nackten Füßen, was sie erst merkte, als sie unten angekommen war. Das Telefon war unterdessen verstummt. »Unbekannter Teilnehmer« stand auf dem Display. Regine? Vielleicht. Egal.

Sie griff nach der Zeitschrift, die auf dem Küchenstuhl lag, und ging hinüber ins Kaminzimmer. Zettel lagen auf dem Couchtisch, sie mußte sich um irgend etwas kümmern, es war wohl wichtig. Später.

Als sie sich aufs Sofa sinken ließ, sprang die Katze auf ihren Schoß und schnurrte. Sie hatte das Spielzeug im Maul, das Sophie ihr weggenommen hatte, und ließ es fallen.

»Alisha. Mein Schatz. Ein Geschenk?«

Sophie nahm das Bündelehen auf. Ein roter Lederbeutel an einem langen Riemen, bestickt mit Perlen und Federn, sie kannte ihn, es war ein Medizinbeutel, ein Beutel für Amulette und zauberkräftige Kräuter, angeblich Indianerhandwerk. Das trug man damals, als die Welt voller Blumen, Liebe und Magie war. Ihre Hände strichen über den Beutel, glätteten die Federn, entwirrten die Perlenschnüre. Man konnte ihn um den Hals tragen. Zwischen den Brüsten. Das Leder wurde warm durch den Körperkontakt, weich, anschmiegsam. Und es duftete nach Sandelholz und Myrrhe. Sie ließ die Lederriemen durch die Finger gleiten und vergaß die Zeit. Draußen der Wind in den Bäumen. Drinnen ein Lufthauch, als ob das Haus zu sprechen versuchte.

Irgendwann schreckte sie auf, mit rasendem Puls, da war etwas, das sie nicht vergessen durfte. Sie stand auf, schlüpfte in die Pantoffeln, lief hoch, zog sich im Schlafzimmer aus und ging ins Bad. Erst als sie unter der Dusche stand und ihre Füße brannten, entdeckte sie die tiefen Kratzer in den Fußsohlen.

Nackte Füße. Scherben. Und sie hatte nichts gespürt.

Das Haus zieht sich zusammen. Es wird enger, es rückt immer näher. Es raubt mir die Luft, es läßt mich nicht mehr frei.

Es bewegt sich. Es schaukelt. Es wiegt mich in den Schlaf. In die Bewußtlosigkeit. Ich muß wach bleiben. Ich bin so müde.

Wenn ich nicht aufpasse, wenn ich die Augen schließe, wenn ich mich nicht konzentriere, sehe und rieche und höre ich Dinge, die nicht da sind. Das Bett die rote Decke der Spiegel. Süßer Rauch in der Luft, Patschuli. Und Vanille. Blütenblätter auf dem Boden, Rosenblätter, wie hingetupft, eine samtrote Spur. Ein leiser Klang, ein Feenklang, glockenhell, gläsern, vom Wind bewegt wie die langen weißen durchsichtigen Tücher vor dem Fenster. Musik. Sehnsuchtstöne.

Im Spiegel sehe ich wie durch einen Schleier langes blondes Haar und blaue Augen unter hohen Brauen. Ich trete näher. Sie tritt näher. Ein Hauch geht über das Glas, macht es opak, verschleiert das Bild, hüllt es ein. Bricht es entzwei.

Das Haus hat den Spiegel zerschlagen. Auf dem Boden blutige Fußspuren. Und überall die weiße Katze. Alisha.

Schrei nach Stille

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