Читать книгу Schrei nach Stille - Anne Chaplet - Страница 20
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ОглавлениеAls Bremer die Einkäufe ausgepackt, geputzt, gesaugt, die Bettwäsche gewechselt und den Katzen Putenhäppchen serviert hatte, war der Tag fast vorbei, und ihn überfiel die tiefe Trauer eines enttäuschten Liebhabers. Klein-Roda war ihm wie das Paradies vorgekommen, als er endlich zurück war von der langen Reise mit Anne. Nichts gegen Dubai, aber die Suite im Emirates Palace war viel zu groß und ungemütlich gewesen, die sechs Flachbildfernseher ließen sich nicht ausschalten, und die goldenen Wasserhähne hatte man spätestens beim Zähneputzen in der Hand. Außerdem hielten die da unten nichts von Weißwein.
Als er nach neun Stunden Flug und drei Stunden Autofahrt in Klein-Roda angekommen war, hatte er Herzklopfen gehabt. Ob sie ihn wieder aufnahmen, die Katzen, sein Dorf? Das Haus hatte eher abweisend gerochen, nach feuchten Wänden und halbkompostierten Mäuseleichen. Auf dem Küchentisch ein Stapel Post, die Marianne alle paar Tage aus seinem Briefkasten gefischt hatte, darunter jede Menge verregneter Werbeprospekte und kostenloser Zeitungen, die schüchterne Mädchen und gehbehinderte Rentner in seinen Briefkasten stopften, obwohl dort seit Jahr und Tag ein »Nein, danke!«-Aufkleber pappte. Draußen verrottete das Laub auf den Wegen zwischen den Beeten, in denen die ersten Krokusse den letzten Schneeglöckchen begegneten. Das Haus sah schäbig aus, wie immer im Frühjahr, bevor der Wein ausgetrieben hatte und den grauen Putz gnädig verhüllte.
Aber schon am nächsten Tag war alles wieder gut. Die Katzen zierten sich nicht lange, sobald er Futter und Schmeicheleien aufbot, und nach und nach kamen auch die Nachbarn vorbei und taten, als ob sie Bremer vermißt hätten.
»Wird Zeit«, hatte Erwin gemurmelt, der kaum noch hustete, seit er das Rauchen aufgegeben hatte. Fast fehlte einem was.
»Na, endlich gehen hier abends wieder die Lichter an.« Gottfried brachte einen Zehnerkarton mit frischen Eiern mit. »Macht keinen Spaß, auf ein düsteres Loch zu gucken.« Gottfried und Marie wohnten am Friedhofsweg mit direktem Blick auf Bremers Hütte, weshalb ihnen nichts entging: ob er Besuch kriegte, den Gartenzaun strich, die leeren Weinflaschen zum Container brachte oder Postpakete bekam.
»Hast du schon gehört?« Marianne. Sogar der aktuelle Klatsch über die Ereignisse in Klein-Roda und um Klein-Roda herum hatte ihm all die Monate über gefehlt. Und als auch noch Wilhelm anrief, um ihm aufzutragen, mal nach den Gullys auf der Hauptstraße zu schauen – »die haben Sturm und Regen angesagt, und wenn der ganze Dreck nicht ordentlich in den Kanal geht ...« –, als er der rauhen Altmännerstimme des Ortsvorstehers lauschte, packte ihn eine derart elementare Rührung, daß er fast ein paar Tränchen verdrückt hätte. Die Diagnose war eindeutig, und sie schreckte und freute ihn zugleich: Er hatte Heimatgefühle. Er hatte Klein-Roda vermißt. Er hatte tatsächlich in der schönen großen weiten Welt Sehnsucht gehabt nach einem kleinen stinkenden Dorf in einem abgelegenen Landstrich Deutschlands.
»Du verbauerst.« Eine stehende Redewendung von Karen Stark, dem Superweib aus der fiebernden Metropole am Main. »Komm wieder in die Stadt, damit du mal was anderes riechst als Gülle und Schweinestall. Lüfte dich aus.«
Es war ein alter Streit zwischen ihnen. Er hätte sich eine Wohnung in der Stadt leisten können. Ein Aktienpaket, das 2001 den Gang aller anderen Aktien gegangen war, nämlich nach unten, tief in den Keller, weshalb es sich damals noch nicht einmal gelohnt hatte, es zu verkaufen, hatte seitdem in seinem Schneewittchensarg gelegen und geschlummert, von aller Welt, vor allem von ihm, vergessen. Heute war es eine runde, pralle Schönheit, und zusammen mit dem Erbe seines Vaters bildete es ein Vermögen, von dem er sich zwar keine Suite im Emirates Palace in Abu Dhabi leisten konnte, aber mit Leichtigkeit ein geräumiges Loft in Frankfurt, vielleicht sogar in einem der neuen Apartmentblocks direkt am Main, mit Bootssteg. Die Rückkehr in die Stadt lag im Trend, niemand träumte mehr von der Idylle im Grünen, noch nicht einmal Eltern mit Kleinkindern. Aber irgend jemand mußte sich dem Trend ja widersetzen. Er liebte die etwas größere Gartenhütte, die er sein Haus auf dem Lande nannte. Paul Bremer, Beruf: Anachronist.
Und was erwartete ihn schon in Frankfurt? Eine gute Freundin, die nie Zeit hatte. Sie hätte längst mal zurückrufen können. Ebenso wie Gregor Kosinski aus dem Nachbardorf, der völlig ausgebucht tat, seit er aus dem Polizeidienst ausgeschieden war.
Klein-Roda war sein Paradies. Seine Spielzeugeisenbahnlandschaft, in der er die Weichen stellte. Sein Auenland. Sein ungetrübtes Glück. In diesem Paradies hatten verschwundene kleine Jungen nichts zu suchen. Und auch keine Frauen mit Rehaugen, die zerbrechlich aussahen und in Wirklichkeit eiserne Schmetterlinge waren, auch wenn sie zurückgezogen lebten und sich noch nicht einmal die Nachbarin um sie kümmerte.
Das Buch? Er hätte sich nach dem Titel erkundigen sollen. Interessant, daß sie schrieb. War das vielleicht der Grund, warum Ulla Abel nicht nach ihr gesehen hatte? Weil man Schriftsteller für exzentrisch hielt, nicht von dieser Welt, zu intellektuell, unnahbar? Unwahrscheinlich. In Klein-Roda wußte man, was Städter und Intellektuelle vom Dorfleben hielten – und man wußte auch, daß man es besser wußte.
Er war an eines der Bücherregale im Kaminzimmer gegangen, während der Notarzt Sophie Winter untersuchte. Ihre Bücher wiesen keine systematische Ordnung auf, allerdings gab es zwei Regalbretter mit Fachliteratur. Über das Drehbuchschreiben, über Kameraarbeit, über Fernsehdokumentationen. Also hatte sie etwas mit Film und Fernsehen zu tun gehabt.
Beim Kaffeekochen in der Küche hatte er sich gefragt, wie es sich wohl lebte, so allein in einem so großen alten Kasten. Die Küche wirkte aufgeräumt, aber nicht gerade gemütlich, schon ihrer Größe wegen. Der Kühlschrank brummte, ein älteres Modell, bestimmt ein Stromfresser. In der Obstschale auf der Anrichte lagen eine Gewichtsmanschette, wie Jogger sie benutzten, um auch die Arme beim Laufen zu trainieren, ein Füllfederhalter und eine aufgerissene Tüte Fishermen’s Friend. Im Regal neben der Spüle und dem Wasserkocher standen Marmeladengläser, eine Blumenvase, eine Buchstütze, eine Tüte Haferflocken, ein Glas Marmite und eine Packung Fencheltee. Unter dem Fenster zwei Stühle an einem Tisch, der groß genug war für ein spartanisches Frühstück zu zweit. Aber wahrscheinlich saß sie jeden Morgen alleine hier.
Und dann hatte er den Küchenschrank geöffnet, auf der Suche nach Kaffeebechern. Erst hatte er nicht begriffen, was er da sah: Zwischen den Tassen, Bechern und Schüsseln lagen Knochen. Weiße Knochen, sorgfältig arrangiert, ihrer Größe nach von Hasen oder Katzen. Ein Rattenschädel war auch dabei. Und der Unterkiefer eines größeren Tiers, könnte der eines Schafs gewesen sein. Oder eher eines Lamms. Es hatte ihn seltsam berührt. Warum sammelte sie Knochen? Aus Sentimentalität? Als Talismane? Oder als Rohstoff für schamanische Riten und Zaubertränke?
Eine Hexe. Das würde passen. Und es würde erklären, warum sie dir so gut gefällt, dachte Bremer und verzog den Mund zu einem spöttischen Lächeln.
Seine Laune hatte sich wie durch ein Wunder gehoben. Er lief kurz entschlossen nach oben und zog sich um, holte das Fahrrad aus dem Schuppen, schob es auf die Straße, schwang sich in den Sattel, trat kräftig an und fuhr der Abendsonne entgegen. Er mußte wieder Form kriegen, weniger essen, mehr radfahren. Fünf Kilo weniger bis Pfingsten! Der Mensch braucht Ziele.
Bis zum Ortsausgang begleitete ihn der Duft aus Willis Schweinestall. Erst am Rande des Wäldchens begann die Luft nach feuchter Erde zu riechen. Und auf der Straße nach Groß-Roda war das Gefühl wieder da: der Traum vom Fliegen. Oben ein einsamer Milan, unten ein einsamer Mann, beides seltsame Vögel, beide frei. Bremer senkte den Kopf mit dem kurzen weißen Haar und duckte sich mit einem Juchzer in die Kurve.
Kurz vor dem Ort waren Karlheinz und Ingo von der Gemeinde mit dem Zerkleinern einer Scheinakazie beschäftigt, die zerborsten am Straßenrand lag. Bremer bremste.
»Wieder im Land?« Karlheinz hielt ihm die Pranke hin und drückte seine Hand, bis es weh tat.
»Hab ich euch etwa gefehlt?«
»Wie die Hühnergrippe.« Ingo grinste.
Bremer lächelte noch immer, als er nach der Abkürzung über den Feldweg wieder zu Hause einlief. Die Sonne war untergegangen, und ein Wolkenband am Horizont hatte ihren rosigen Widerschein geschluckt.
Keine Nachricht von Anne. Keine von Karen.
Vermisse dich
Er schickte die SMS an beide.